Metamorphosen. Ovid
Sobald er dies alles in dem wieder klar gewordenen Wasser erblickt hatte, ertrug er es nicht länger. Wie gelbes Wachs an einem schwachen Feuer und wie der morgendliche Rauhreif an der warmen Sonne schmilzt, so schwindet er dahin, von Liebe ausgezehrt, [490] und langsam nagt an ihm ein verborgenes Feuer. Schon hat er nicht mehr die Farbe, die aus Weiß und Rot gemischt ist, keinen Schwung, keine Kraft, nichts mehr von dem, was eben noch das Auge erfreute; auch der Leib besteht nicht mehr, den Echo einst geliebt hatte. Echo wurde bei diesem Anblick von Schmerz ergriffen, obwohl sie ihm grollte [495] und nichts vergessen hatte. Sooft der bejammernswerte Knabe »Wehe!« rief, wiederholte sie mit nachhallender Stimme: »Wehe!« Hatte er sich mit den Händen an Schultern und Arme geschlagen, ließ Echo das Klatschen widerhallen. Während er ins vertraute Wasser blickte, waren seine letzten Worte: [500] »Ach, vergeblich geliebter Knabe!« Ebenso viele Worte hallten vom Walde wider. Und auf sein »Lebe wohl!« gab Echo ein »Lebe wohl!« zurück. Er bettete sein müdes Haupt aufs grüne Gras. Und der Tod schloß die Augen, welche die Schönheit ihres Eigentümers bewunderten. Auch nachdem er in die Unterwelt aufgenommen war, [505] betrachtete er sich im Wasser der Styx. Es klagten um ihn seine Schwestern, die Naiaden, schnitten sich Haarlocken ab und weihten sie ihrem Bruder; es klagten auch die Dryaden. In die Totenklage stimmt Echo ein. Schon bereiteten sie den Scheiterhaufen vor, Fackeln, um sie zu schwingen, und die Totenbahre: Da war der Leib nirgends mehr. An seiner Stelle finden sie eine Blume, [510] in der Mitte safrangelb und umsäumt mit weißen Blütenblättern.
Pentheus (I)
Das Ereignis wurde bekannt, und schon hatte es dem Seher überall in Achaeas Städten den verdienten Ruhm eingetragen, und der Wahrsager hatte einen sehr großen Namen. Doch als einziger von allen verschmäht ihn Echions Sohn Pentheus, der Verächter der Götter. [515] Er verspottet die prophetischen Worte des Alten und macht ihm seine Blindheit, den schmerzlichen Verlust seines Augenlichtes, zum Vorwurf. Jener aber schüttelt die grauen Schläfen und versetzt: »Wie glücklich wärest du, wenn auch dir dieses Augenlicht genommen würde, so daß du die Mysterien des Bacchus nicht sehen könntest! Denn der Tag wird kommen – und ich ahne, daß er nicht fern ist –, [520] an dem ein neuer Gott, Bacchus, Semeles Sohn, hier erscheinen wird. Wenn du ihn nicht für würdig hältst, von dir durch Tempel geehrt zu werden, wirst du, zerfleischt und verstreut, an tausend Stellen den Wald mit deinem Blut besudeln und auch deine Mutter und die Schwestern deiner Mutter. Ja, es wird geschehen; denn du wirst der Gottheit nicht die Ehre geben. [525] Beklagen wirst du noch, daß ich trotz meiner Blindheit nur allzu viel gesehen habe.« Während er solches spricht, jagt ihn Echions Sohn hinaus.
Auf die Worte folgt die Erfüllung; und was der Seher verkündet hat, spielt sich ab. Bacchus ist da, und die Felder brausen vor festlichem Frohlocken, ein Schwarm stürmt daher; unter die Männer mischen sich Mütter und Schwiegertöchter, [530] und Hoch und Niedrig eilt zu den neuartigen Mysterien. »Welch ein Wahn hat euern Sinn betört, ihr Schlangengeborenen, du Volk des Mars!« ruft Pentheus. »Kann denn Erz, das an Erz schlägt, so viel ausrichten, ein Blasinstrument mit gekrümmtem Horn und magischer Betrug? Männer, die kein Kriegsschwert, [535] keine Feldtrompete erschrecken konnte und kein Heer mit gezückten Waffen, sollen von Frauenstimmen, weinseligem Wahnsinn, zuchtlosen Horden und hohlen Tamburinen besiegt werden? Soll ich mich mehr über euch wundern, ihr Alten? Nach langer Seefahrt habt ihr hier ein neues Tyros, hier eine Flüchtlingsheimat gegründet; [540] und jetzt laßt ihr euch kampflos erobern? Oder mehr über euch, ihr jungen Männer, die ihr besser zum Krieg taugt und meinem Lebensalter näher steht? Euch ziemte es, Waffen zu tragen, keine Thyrsusstäbe, einen Helm, keinen Kranz aufzusetzen. Denkt bitte daran, woher ihr stammt, und erfüllt euch mit dem Mut der Schlange, die allein war und doch viele getötet hat. [545] Sie ist für die Quelle und den See gefallen; ihr aber, siegt um eurer Ehre willen! Sie hat Tapferen den Tod gegeben; verjagt ihr jetzt die Weichlinge und wahrt den ererbten Ruhm! Hat schon das Schicksal Theben keinen langen Bestand vergönnt – o wären es dann doch wenigstens Geschütze und Männer, [550] die unsere Mauern zerstörten! O klirrten doch Klingen und knisterten Brände! Dann wären wir unglücklich, aber ohne Tadel, man müßte unser Los beklagen, nicht verheimlichen, und wir brauchten uns unserer Tränen nicht zu schämen. Nun aber wird Theben von einem waffenlosen Knaben erobert werden, den kein Krieg, keine Speere, keine Rosse erfreuen, [555] sondern nur Haar, das von Myrrhe trieft, weichliche Kränze, Purpur und Gold, das in bunte Gewänder eingewoben ist. Ihn werde ich – haltet ihr euch nur zurück! – auf der Stelle zwingen zu gestehen, daß er sich seinen Vater selbst zugelegt und seine Mysterien erlogen hat. Soll etwa Acrisius Mut genug haben, einen falschen Gott zu verachten [560] und vor seiner Ankunft die Tore von Argos zu verschließen – den Pentheus aber und mit ihm ganz Theben soll ein Hergelaufener einschüchtern? Geht eilends«, so befiehlt er seinen Dienern, »geht und schleppt mir den Anführer gefesselt hierher. Führt meinen Befehl aus, ohne lange zu zögern.«
Ihn weisen der Großvater, ihn Athamas, ihn die übrige Schar der Seinen mit strafenden Worten zurecht. [565] Doch vergeblich mühen sie sich, ihn zurückzuhalten; heftiger noch wird seine Wut durch die Ermahnungen; was sie zügeln soll, reizt sie noch mehr; sie wächst, und das lenkende Eingreifen schadet nur. So sah ich einen Bergbach dort, wo seinem Lauf nichts im Wege stand, sanfter und mit leisem Rauschen herabströmen; [570] aber überall dort, wo Balken und im Wege liegende Felsen ihn aufhielten, floß er schäumend und brausend daher, und die Schranke steigerte nur seine Wildheit. Seht, blutbefleckt kommen die Schergen zurück. Auf die Frage ihres Herrn, wo denn Bacchus sei, sagten sie, Bacchus hätten sie nicht gesehen. »Doch diesen Anhänger und Diener seiner Mysterien haben wir gefangen.« [575] Und sie übergeben ihm einen Mann aus tyrrhenischem Stamm, der sich einst den Bacchusmysterien angeschlossen hatte; die Hände sind ihm hinter dem Rücken gefesselt.
Pentheus blickt den Gefangenen mit Augen an, die der Zorn furchterregend machte, und obwohl es ihm schwerfällt, den Augenblick der Bestrafung noch aufzuschieben, spricht er: »Todgeweihter, der du anderen durch deinen Untergang bald als warnendes Beispiel dienen wirst! [580] Nenne deinen Namen, den Namen deiner Eltern, dein Vaterland und den Grund, warum du an den neuartigen Mysterien teilnimmst!«
Die tyrrhenischen Schiffer
Jener versetzte furchtlos: »Mein Name ist Acoetes, meine Heimat Maeonien, meine Eltern stammen aus dem einfachen Volk. Mein Vater hat mir kein Land hinterlassen, um es mit kräftigen Ochsen zu beackern, [585] keine Herden, die Wolle tragen, keine Rinder. Er war ja selbst arm und pflegte mit Garn und Angelhaken die Fische zu überlisten und die Zappelnden mit der Angelrute aus dem Wasser zu ziehen. Seine Kunst war sein ganzer Reichtum. Als er sie mir weitergab, sprach er: ›Nimm, du Nachfolger und Erbe meines Berufes, die Schätze, die ich habe.‹ [590] Und sterbend hinterließ er mir nichts als Gewässer. Das allein kann ich als mein väterliches Gut bezeichnen. Dazu lernte ich bald, um nicht immer an dieselben Klippen gebannt zu sein, mit der Rechten das Schiff zu lenken, und ich merkte mir mit den Augen das regenbringende Gestirn der olenischen Ziege, [595] die Taygete, die Hyaden, die Bärin, die Häuser der Winde und die Häfen, die für Schiffe geeignet sind. Unterwegs nach Delos laufe ich einmal den Strand von Chios an, wende mich mit den Rudern nach rechts, mache einen leichten Sprung und lande im feuchten Sand. [600] Sobald die Nacht vorüber ist – gerade hat Aurora begonnen, sich zu röten –, steh’ ich auf, gebe Weisung, frisches Trinkwasser zu holen, und zeige meinen Leuten den Weg zur Quelle. Ich selbst halte auf einem hohen Hügel Ausschau, was der Wind mir verspricht, rufe meine Begleiter und kehre zum Schiff zurück. [605] ›Hier sind wir!‹ antwortet als erster der Gefährten Opheltes und führt am Strand entlang einen Jungen von mädchenhafter Schönheit, den er als vermeintliche Beute auf einsamem Felde gefangen hat. Jener scheint, von Schlaf und Wein beschwert, zu taumeln und nur mit Mühe zu folgen. Ich betrachte seine Kleidung, sein Aussehen und seine Gangart: [610] Nichts habe ich an ihm gesehen, was man für sterblich hätte halten können. Ich bemerkte es und sagte es auch den Gefährten: ›Ich weiß nicht, welche Gottheit in diesem Körper wohnt, aber in diesem Körper wohnt eine Gottheit. Wer du auch sein magst, sei uns gnädig und steh uns in unserer Arbeit bei. Verzeih auch diesen Männern.‹ – ›Spar dir die Mühe, für uns zu beten‹, [615] spricht Dictys – es gab keinen, der schneller bis zur obersten Segelstange emporsteigen, ein Tau ergreifen und daran hinabgleiten konnte. Diesen Worten pflichtet Libys bei und der blonde Melanthus, dem das