Irren ist göttlich. Daniel Sand

Irren ist göttlich - Daniel Sand


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      Thariel irrte durch graue Gänge ohne Fenster und Türen. Er hatte die Orientierung vollkommen verloren und wusste nicht, ob er vielleicht schon zum dritten oder vierten Mal dieselben Gänge entlanglief. Darum war er erleichtert, als er um eine weitere Ecke bog und diese rote Leiter entdeckte. Eigentlich entdeckte er sie nicht, sondern sie explodierte förmlich in seinen Augen, so sehr fiel sie in dieser grauen Welt auf. Neugierig kletterte Thariel sie hinauf und gelangte so auf die nächste Plattform. Sein Herz klopfte heftig. Er wusste, wo er jetzt war. In der Thromokoschvilla.

      Sie strahlte Erhabenheit aus, Größe und Macht. Nicht zu vergleichen mit der Tristesse im Glasmeistergebäude. Rote Teppiche auf dem Boden, brennende Fackeln in verzierten Einlassungen an den Wänden. Der Duft exotischer Gewürze lag in der Luft. Mehrmals eilten Priester an Thariel vorüber, der sich dann hinter Altären oder breiten Zimmerpflanzen versteckte. Hier würde niemand einen Verfluchten dulden. Nach einem schier endlos langen Weg, der ganz aus Glas bestand, folgte eine Empore. Von ihr aus fiel der Blick auf einen kunstvoll eingerichteten Raum, der an einen Ballsaal mit goldenen Fackelhaltern und prächtigen Naturgemälden an den rot gestrichenen Wänden erinnerte. Im Zentrum des Saals befand sich ein roter Thron, um den herum die Pilger standen, die Thariel zuvor angegriffen hatten. Unter ihnen befanden sich auch mehrere Priester. Sie schienen auf etwas zu warten.

      Thariel beobachtete die Gruppe heimlich von der Empore aus. Schließlich öffnete sich eine goldene Türe, die er bis eben für das Gemälde einer mit Gold überzogenen Türe gehalten hatte, das vom Boden bis zur hohen Decke reichte. Zwölf Priester schritten hindurch, die sich an den Händen hielten und so aufreihten, dass sie schließlich die Entfernung bis zum Thron überbrückten. Der letzte Priester stand an der Tür und hielt sie auf.

      »Thromokosch!«, riefen sie dann vereint und zeigten mit der freien Hand zur Tür. Alle Augen ruhten nun auf ihr. Zuerst passierte gar nichts, dann immer noch nichts und als auch danach nichts passierte, blickten sich die zwölf Priester ratlos an. Sie alle trugen schwarze Zauberhüte und endlich schob einer seine Kopfbedeckung zurecht und löste sich aus der Händekette, um durch die Türe zu gehen. Kurz darauf kam er zurück und versuchte die Ruhe zu bewahren, während er verstört mit seinen Zauberkollegen flüsterte. Manche schüttelten nur den Kopf, andere schlugen die Hände vor ihr Gesicht.

      »Thromokosch!«, riefen sie erneut und dieses Mal passierte wirklich etwas. Schritte hallten aus der geheimen Welt hinter der Türe herüber, Thromokosch näherte sich. Thariel konnte sich vor Aufregung kaum in seinem Versteck halten. Thromokosch!

      Plötzlich war er da. Langsam, aber elegant schwebte er ganz leicht über den Boden und an seinen Priestern vorbei. Er trug einen pechschwarzen Zylinder, in einem so intensiven Schwarz, als ob er die tiefste Nacht darin gefangen hielt. Daneben trug er einen prunkvollen, aber viel zu langen roten Umhang, der über den Boden schleifte. Sein Kopf hatte etwas Ovales und im Gesicht funkelten zwei rote Augen. Auch der Bart wies eine beeindruckende Länge auf und schleifte ebenso über den Boden wie der Umhang. Außerdem trug Thromokosch eine schwarze Lederrüstung ... und fing plötzlich an zu schwanken. Die Pilger erstarrten, zwei Priester eilten zur Hilfe, doch zu spät, schon hatte Thromokosch das Gleichgewicht verloren und stürzte ab.

      »Verdammt noch mal!«, rief er ärgerlich, als er auf dem Boden lag und sich das Knie hielt, doch er fing sich schnell wieder und meinte in die eifrig nickende Runde: »Das ist ja gerade noch einmal gut gegangen, was? Da könnte man sich blaue Flecken und Knochenbrüchen holen, bei so einem Sturz, meine Güte.«

      Es war den Pilgern anzusehen, wie sehr sie der Sturz verunsichert hatte. Thromokosch setzte wieder zum Schweben an, strauchelte, fiel beinahe und ging schließlich den Rest zu Fuß.

      Die Pilger setzten sich um den Thron herum, von dem aus Thromokosch mit gütigem Blick auf sie herabblickte.

      Im Verlauf dieses Besuches wurden zu Ehren Gottes Choräle angestimmt und rituelle Tänze dargeboten. Als die Pilger schließlich wieder aufbrechen wollten, war Thromokosch von deren Bewunderung sichtlich gerührt. Er breitete also seine Arme aus und verkündete: »Ihr seid mir die Treuesten und Liebsten. Ein Vorbild für alle anderen und die Zierde unter euch Menschen. Seid gesegnet!« Einen Moment später graste da, wo bis eben die Pilger standen, eine Herde Schafe. Thariel konnte sehen, wie sich drei Priester fassungslos gegen die Stirn schlugen. Thromokosch schien das alles nicht zu stören. Zufrieden schritt er durch die Schafsherde und streichelte hier ein Tier und kraulte dort eines.

      »So ist es brav, ja, so ist es richtig.«

      Er verließ den Raum und versuchte dabei erneut zu schweben. Erfolglos. Zurück ließ er zwölf peinlich berührte Priester, die von den Schafen vorwurfsvoll angeglotzt und angeblöckt wurden.

      »Bitte, eure Besuchszeit ist vorbei. Begebt euch schleunigst zum Ausgang und danke für den Besuch«, rief ihnen einer der Priester überfordert zu. Die Tiere wurden aus dem Raum getrieben und Thariel beeilte sich, zurück in das Gebäude des Glasmeisters zu gelangen.

      Was er da eben gesehen hatte, verstörte ihn sehr. Warum wurden ausgerechnet die treuesten Pilger verflucht? Nachdem er unbemerkt über die Leiter zurück ins Glasmeistergebäude gelangt war und nach einigem Umherirren endlich wieder in der Empfangshalle herauskam, hatten sich die Ereignisse schon herumgesprochen. Ein hagerer Priester redete aufgeregt auf die Empfangsdame ein.

      »Es ist schon wieder passiert!«, rief er, »was sollen wir nur machen, er wird immer wunderlicher.«

      Nachdenklich bearbeitete die Frau ihre Fingernägel: »Hmmm.«

      »Vor einer Woche hat er ein Faultier heiliggesprochen, als es eigentlich um Sigbert den Starken ging. Jetzt wird bald in der Allee der Helden eine Faultierskulptur neben Heribert dem Klugen und Roikvilt dem Kräftigen stehen.«

      »Hmmm.«

      »Was machen wir nur falsch?«, fragte sich der Priester kopfschüttelnd und kam zum Ergebnis, dass sie zu wenig beten würden, weswegen er schnell verschwand, um das nachzuholen.

      Thariel lief hinüber zur Empfangsdame und nahm sich vor, kühle Überlegenheit auszustrahlen.

      »Ist der Glasmeister soweit?«

      »Ja«, murmelte sie.

      »Danke.« Irritiert, aber zufrieden, dass es so problemlos ging, machte er sich auf den Weg zu ihm. Sicherheitshalber wieder auf dem komplizierten Tür-links-Tür-rechts-Tür-links-Weg. Er klopfte an und nachdem er auch nach dem zweiten Mal keine Antwort erhielt, trat er einfach ein.

      »Glasmeister?«

      Keine Reaktion.

      Düsternis füllte das graue Zimmer aus. Thariel machte einen weiteren Schritt nach vorne.

      »Glasmeister?«

      Kein Laut.

      Hier ist niemand, dachte er jetzt. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Briefe, Notizen und alte Bücher. Und was war das auf dem Boden? Als Thariel sich hinunterbeugte, zuckte er zurück. Blut! Was war geschehen? Der Glasmeister war verschwunden, die linke Hand Thromokoschs. Vielleicht sogar tot. Thariel griff sich einen Kerzenhalter, das Messing fühlte sich kalt an in seiner Hand. Vorsichtig bewegte er sich voran, der oder vermutlich die Täter mussten noch hier sein. Das Blut war zu frisch und Ausgänge gab es nur einen: den Flur. Irgendwo versteckten sie sich und als Verstecke kamen eigentlich nur die beiden Säulen in Frage. Die Regenwolke störte ein wenig als Thariel voranging, aber das würde ihn nicht aufhalten. Er dachte daran, wie er im Sumpf die Seekatzen in die Flucht geschlagen hatte. So würde er auch hier vorgehen. Wobei er befürchtete, dass Gegner, die den Glasmeister entführten oder töteten, ein anderes Kaliber waren als flauschige Wesen auf drei Beinen, die anstelle von Zähnen mehrere süße Zungen hatten.

      »Kommt raus! Zeigt euch!«, schrie er und stürmte zu den Säulen. Noch zwei Schritte, der Kerzenhalter in der Hand schien zu glühen. Noch ein Schritt. Thariel hatte die andere Seite der Säulen erreicht. Jetzt ging alles ganz schnell, als ob er seit seiner Kindheit auf diesen Kampf vorbereitet worden war. Ein mächtiger erster Hieb ging ins Leere,


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