Irren ist göttlich. Daniel Sand

Irren ist göttlich - Daniel Sand


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möglich!«

      Thariel betrat den Flur. Zu seiner Linken befanden sich zwölf Türen, zu seiner Rechten gar keine. Obwohl er am Ende des Flurs die Aufschrift Glasmeister auf der Tür lesen konnte, lief er nicht geradeaus, sondern hielt sich an die Anweisungen der unfreundlichen Dame. Sicherlich würde es einen Grund geben, warum er so geführt wurde. Er öffnete die erste linke Tür und gelangte in einen zweiten Flur, der beinahe so wie der erste aussah, nur, dass in ihm alle Türen auf der rechten Seite angebracht waren und es keine Tür am Ende des Ganges gab. Und so ging es immer hin und her. Einmal links, einmal rechts, wieder links, wieder rechts, links und rechts. Immer wenn Thariel durch die rechte Tür trat, kam er dem Glasmeister-Büro etwas näher, bis er sie endlich erreicht hatte. Auf einem kleinen Schild, das er aus der Ferne nicht gesehen hatte, stand: Glasmeister. Öffnungszeiten: Montag - Donnerstag von 8.00 – 12.00 Uhr und von 13.00 – 16.00 Uhr. Freitag von 08.00 – 12.00 Uhr. Er klopfte an und fragte sich, was dieser sonderbare Umweg sollte.

      »Bin, äh, bin da«, brummte es aus dem Inneren. Thariels Herz klopfte heftig, als er die Klinke drückte und eintrat. Noch nie war einer aus dem Sumpfdorf beim Glasmeister gewesen. Ja, vermutlich hatte bislang auch keiner Mammama besucht. Das Büro wirkte ebenso grau wie der Rest des Gebäudes. Wobei die Form des Zimmers auffiel. Angelegt in Form eines Dreiecks liefen die Wände aufeinander zu, bis sie sich in einem spitzen Winkel trafen. Nach hinten hin wurde es immer schmaler. In der Mitte des Raums stand ein kleiner Schreibtisch mit Stiften und Federn, zwei Gläsern und einer leeren Blumenvase. Ansonsten fielen Thariel die zwei schmalen Säulen auf, die den Schreibtisch einrahmten. Ihre tatsächliche Höhe blieb unklar, weil sie irgendwo in der Dunkelheit verschwanden, die die Zimmerdecke einhüllte. Trotz des fahlen Lichts hier glitzerten sie aber wie Edelsteine in der Sonne. Neugierig trat er näher und stellte fest, warum. In die Säule waren Hunderte, nein Tausende, nein … scheinbar unendlich viele Glasscherben eingelassen. Ständig huschten Lichtblitze durch sie hindurch. Diese Glasscherben lebten und füllten sich in jedem Augenblick mit noch mehr Leben, das konnte Thariel spüren. Und er verstand auch, was er hier vor sich hatte: die Schicksale aller Menschen – in Glas gegossen.

      Einst waren alle Schicksale in einer großen Glaskugel versammelt, doch Thromokosch verlor irgendwann den Überblick und voller Wut auf sich selbst warf er sie gegen die Wand, wobei sie in unzählige Scherben zerbrach. Statt sie wieder zusammenzukleben, kam er auf die Idee mit dem Glasmeister und seitdem hat jeder Mensch eine eigene kleine Glasscherbe in der einen Glaskugel, in der sein Schicksal vorgezeichnet ist.

      »Hallo?«, rief Thariel vorsichtig und wunderte sich, dass er den Glasmeister nicht sehen konnte.

      »Was, ähm, ist los?«

      Thariel fuhr erschrocken zusammen. Da hatte jemand gesprochen, nur wo?

      »Sprechen Sie ... also erklären Sie einfach, also ... nennen Sie

      Ihr ... Problem!«, wiederholte die Stimme.

      Plötzlich verstand Thariel, dass es sich beim Glasmeister um ein körperloses Wesen handelte. Ganz Geist und Magie.

      »Was ist ... haben Sie, hmm, haben Sie bestimmte Sorgen oder, also ... ?« Nun löste sich etwas aus dem Grau der Wand und stellte sich als Glasmeister heraus, der sich farblich an seinen Arbeitsplatz angepasst hatte. Thariel verspürte eine gewisse Ernüchterung. Ein unsichtbares Wesen hätte ihn mehr beeindruckt als das, was er nun vor sich sah.

      »Guten Tag, ich, also ich bin, meine Aufgabe ... ich bin der Glasmeister«, murmelte der untersetzte Mann. Nur in einem schmalen Streifen, der von einem Ohr über den Hinterkopf zum anderen führte, wuchsen noch Haare. Schweißperlen funkelten auf seiner Stirn und auf der Nase saß eine dicke Brille mit goldenen Rändern. Der Glasmeister trug eine graue Robe und entzündete nun eine Kerze, die auf dem Schreibtisch stand. Auch sie verbreitete nur einen grauen Schein.

      »Was kann ich für Sie … ähm … tun, Herr ... ?«, nervös wischte sich der Glasmeister den Schweiß von der Stirn, der sich aber sofort wieder bildete. Den engsten Vertrauten von Thromokosch hatte sich Thariel ganz anders vorgestellt.

      »Ich heiße Thariel.«

      »Herr Thariel, in Ordnung, ist … also, ist vermerkt, damit es da keine, ähm, also ... Verwechslung gibt.«

      Der Glasmeister versuchte zu lachen, was sich anhörte, als würde er an einer Feldmaus ersticken.

      »Um was geht es Ihnen, also … warum, also was ist der Grund … Ihres, ähm, Besuches?« Unsicher fixierte er Thariel.

      »Das da!« Thariel deutete mit dem Finger zur Regenwolke, die weiterhin zuverlässig tat, was eine Regenwolke eben tut.

      »Nun, also, also, nun, das … ist eine Verfluchung.«

      Der Glasmeister fuhr mit den Händen immer wieder über seine graue Robe. Einige Momente blieb es still.

      »Warum?«

      Erschrocken weiteten sich die Augen des Glasmeisters. Er fuhr sich hektisch über die Glatze und nahm die Brille ab, die ihm sofort aus den Fingern glitt und auf den Boden fiel. Er versuchte nicht einmal, ihren Sturz zu verhindern und blieb wie festgefroren sitzen. Als er Thariel kurz in die Augen sahen, merkte sein Gast, dass sogar diese grau waren.

      »Warum ... es gibt, das ist so, also es gibt nur einen, ähm, Grund dafür. Thromokosch hat Sie, Thariel, also, genau genommen … verflucht.«

      »Warum?«

      »Können Sie das in meiner Scherbe überprüfen, das wäre nett. Ich bin den ganzen weiten Weg aus dem Sumpfdorf gekommen, um eine Antwort zu bekommen.«

      Den Glasmeister sackte in seinem Sitz langsam zusammen.

      »Versuchen kann ... ich ... es.«

      »Weit oben ... also ein Glasmeister ... ähm ... sollte eigentlich Flügel haben ... um da hin zu ... ähm ... fliegen ... Ein ... ähm ... Glasvogel.«

      Wieder lachte er, aber etwas lauter. Diesmal klang es, als würde ihn jemand erwürgen.

      Irgendwann verschwand er endgültig in der Dunkelheit, die die Decke des Zimmers verbarg. Thariel wunderte sich, warum ausgerechnet eine so sensible und unsichere Gestalt von Thromokosch eine so wichtige Aufgabe anvertraut bekam. Andererseits musste der Glasmeister vor allem sorgfältig und ohne Murren die Aufgaben erfüllen, die Thromokosch ihm mitteilte. Und offenbar konnte er das. Nach einer halben Ewigkeit hörte Thariel ihn wieder die Leiter hinuntersteigen. Unter seinem linken Arm glitzerte etwas. Thariels Herz pochte stark. Das war seine Scherbe, sein Leben.

      »Schauen wir, schauen wir ... mal«, meinte der Glasmeister, als er die Scherbe vor sich auf den Schreibtisch legte.

      »Genau«, stimmte der zu und bemerkte einen Schatten, der durch seine Scherbe huschte.

      »Was war das?«, meinte er erstaunt, während sich schon wieder etwas bewegte.

      »Äh ... was?«

      »Das eben«, erneut diese Bewegung, »das!«

      Er zeigte jetzt mit dem Finger darauf.

      »Ähmm ... also ... das ist dein Leben ... ähm ... das spiegelt sich ... ähm ... in der Scherbe.«

      »Jedes Wort von mir findet sich auch da drinnen wieder?«

      Wie


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