Irren ist göttlich. Daniel Sand

Irren ist göttlich - Daniel Sand


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all das passiert, ohne dass auch nur ein Laut zu hören ist! Stell dir das vor!«

      »Mache ich.«

      »Stell es dir gut vor.«

      »Ja.«

      »Denn so ist es in der Wüste der Stille. Es gibt keine Geräusche, überhaupt keine.«

      »Verstanden.«

      »Und du brauchst etwa zwei Wochen, um diese Wüste zu durchwandern. Zwei Wochen, in denen du nicht das leiseste Geräusch hörst. Stell dir das vor. Absolute Stille.«

      Thariel wünschte sich, dass der Nichtadmiral Nelson etwas mehr Abstand zwischen sich und ihm halten würde. Er konnte sogar gut erkennen, dass in der unteren Zahnreihe Holzwürmer zwei Schneide­zähne aushöhlten und in der oberen Zahnreihe mindestens vier weitere Zähne zerfressen waren.

      »Absolute Stille, zwei Wochen. Und dann?«, er ließ eine Kunstpause verstreichen, »erreichst du das Ende der Wüste und trittst aus ihr heraus. Du hast sie hinter dir gelassen, die Wüste der Stille, und du läufst weiter und dann«, Nichtadmiral Nelson ließ weitere Augenblicke verstreichen, »bewegt vor dir im Gras eine winzige Weinbergschnecke ihren Fühler, nur ihren kleinen Weinbergschneckenfühler! Aber das reicht schon und Rumms, dein Kopf explodiert! Die scheinbar lautlose Bewegung des Fühlers hört sich für dich jetzt an, als ob zwei Sterne direkt neben deinem Ohr explodieren!«

      Er schaute Thariel noch einmal ernst an, was dieser aber nicht sehen konnte, weil ihm die Wimpern von Nichtadmiral Nelson im Auge kratzten, bevor dieser endlich einen Schritt zurücktrat.

      »Aber dann bin ich nicht von der Wüste der Stille getötet worden, sondern von der Weinbergschnecke«, widersprach Thariel.

      »Und wenn dich eine Sumpfschlange vergiftet und du daran nicht im Sumpf, sondern Tage später in deinem Bett stirbst, hat dich also dein Bett getötet?«

      Thariel hätte gerne mit »ja« geantwortet, weil ihn das überhebliche Lächeln ärgerte, das Nichtadmiral Nelson dabei aufsetzte, aber er schluckte seinen Frust runter. Er versuchte sich damit zu trösten, dass Nichtadmiral Nelson demnächst ein sehr unangenehmer Besuch beim Zahnarzt oder Förster bevorstand.

      Land in Sicht! Nach so vielen Tagen auf dem Blumenmeer freute sich Thariel, endlich diesen Ozean hinter sich zu lassen. Auch wenn das eine zweischneidige Freude war, da er das Gewässer nicht als freier Mann verlassen würde, sondern als Gefangener, der als Sklave verkauft werden soll – daran erinnerte ihn permanent der Mast, an den er gebunden war.

      Zu Beginn bestand das Land aus nicht viel mehr als einem grauen Gebirge, das nebelgleich am Horizont auftauchte. Doch mit jeder Meile mehr, die sie sich näherte, gewann das Gebirge an Konturen und irgendwann sah man die Wolken, die seine Gipfel einhüllten. Auch das Land zu Füßen des Gebirges nahm Gestalt an. Aus dem fernen Horizont wurde mit der Zeit eine Küste mit schroffem Gestein, die sich mit Sandstränden abwechselte.

      Und dann sah Thariel das erste Haus.

      »Glückspilz«, hörte er Nichtadmiral Nelson rufen, und kaum, dass er seinen Blick vom fernen Haus gelöst hatte, das offenbar zu einem Bauernhof gehörte, stand der Kapitän schon wieder dieses eine bisschen zu nah vor ihm, »unsere Reise neigt sich leider ihrem Ende zu, es wird also Zeit, dass wir zum Geschäftlichen kommen.«

      HATSCHI!

      »Also Glückspilz, warum hast du das da«, meint Nichtadmiral Nelson und deutete zur Wolke, »ich wollte es nicht fragen, weil es mich nichts angeht und wir ja alle so unsere Leichen im Schiffskeller haben, aber das werden die Kunden auf dem Sklavenmarkt anders sehen.«

      »Das ist ein Fluch, aber er ist eine Verwechslung.«

      »Gut«, begann Nichtadmiral Nelson mit beunruhigend ruhiger Stimme, »tu mir einen Gefallen und sag mir die Wahrheit. Sieh es als Gefallen an, schließlich habe ich dir das Leben gerettet.«

      »Du verkaufst mich doch schon als Sklaven. Ich finde, wir sind quitt.«

      »Meine Güte«, Nichtadmiral Nelson verdrehte die Augen, »alle tun immer so, als sei das Sklavenleben so schlimm. Das sind Vorurteile, Klischees! Ich kenne Leute, die ich als Sklaven verkauft habe, die grüßen mich nicht mal mehr, weil sie sozial so viel höher stehen als ein einfacher Reisender auf dem Blumenmeer.«

      »Vielleicht grüßen sie nicht, weil sie dir übelnehmen, sie versklavt zu haben?«

      »Einer war davor Schuhputzer im Riesenland, was für eine Zukunft hätte er gehabt? Riesen tragen aus religiösen Gründen keine Schuhe, wie du sicherlich weißt!«

      »Na klar, weiß ich das«, log Thariel, der bis eben nicht einmal wusste, dass es Riesen außerhalb alter Sagen gab.

      »Und was ist er heute? Erster Sekretär einer barokalischen Geschäftsfrau und damit einer der reichsten Männer überhaupt! Ist er nicht ein Glückspilz, Glückspilz?«

      »Glück im Unglück.«

      »Welches Unglück, er war Schuhputzer! Aber egal, sag mir nur schnell, warum du verflucht wurdest. Ehrlich gesagt, ist es den meisten Leuten total egal, die wollen das nur wissen, um was zum Tratschen zu haben.«

      Thariel hielt dem Blick von Nichtadmiral Nelson nur mit Mühe stand: »Eine Verwechslung.«

      Sein Gegenüber schüttelte genervt den Kopf.

      Weit über ihnen drehte ein Vogel seine Kreise. Das erste Tier seit Tagen. Die Küste kam näher, mittlerweile sah man die Wellen, die sich gegen das Gestein warfen. Und Thariel bildete sich ein, sie an diesem letzten Vormittag auf dem Meer sogar zu hören. Während eine starke Böe über das Deck fegte, kam Thariel eine Idee.

      »Der Grund für den Fluch ist sehr heikel, er hat etwas mit einer fernen Königin zu tun. Es ist für mich lebensgefährlich, es zu erzählen, weil der ferne König mich suchen und töten wird, wenn ich darüber spreche. Aber dir werde ich es trotzdem sagen, weil du es bist!«

      Vorfreude blitzte in den Augen von Nichtadmiral Nelson auf. Er kam wieder fast auf Nasenspitzenlänge an Thariel heran.

      »Es gibt nur eine Bedingung«, Thariels Herz klopfte dabei, die ferne Steinküste war mittlerweile ziemlich nah, »du musst mich losbinden. Als Vertrauensbeweis. Ich vertraue dir schließlich etwas an, was mein Leben gefährdet, wenn ich es dem Falschen erzähle.«

      Für einen Moment zögerte Nichtadmiral Nelson, aber dann überwältigte ihn die Neugierde endgültig.

      Es fühlte sich gut an, als Thariel endlich wieder seine Arme und Beine schütteln konnte. Aber er hatte wenig Zeit, diese neue Freiheit zu genießen, denn Nichtadmiral Nelson wollte die Geschichte sofort hören. Thariel setzte sich auf die große Truhe, von der aus er das Festland im Blick hatte, das jetzt von allen Seiten her den fernen Horizont durch nahe Wälder, Felder und Küstendörfer vertrieb. Nichtadmiral Nelson schob eine Kiste heran und schaute Thariel erwartungsvoll an.

      »Nun«, Thariel räusperte sich. Schweiß stand auf seiner Stirn, was der Kapitän aufgrund der aktiven Regenwolke über Thariel nicht sehen konnte (und deswegen nicht stutzig wurde), »das mit dem Fluch ist so gekommen. Ich … vor vielen Jahren ... «

      Thariel fiel nichts ein, egal, wie sehr er sich bemühte.

      »Glückspilz«, meinte


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