Irren ist göttlich. Daniel Sand

Irren ist göttlich - Daniel Sand


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atmete den frischen Duft von Gras und Blumen ein, als er den Hügel hinablief. Die Sonne kitzelte ihm auf der Nase und für einen Augenblick vergaß er dabei, dass die Regenwolke über ihm niederging. Er legte sich auf das warme Gras und schaute in den Himmel hinauf, der in kräftigem Blau und mit wenigen weißen Wolken vom süßen Sommer sprach. Es duftete nach den Rosen und Lavendel, nach Chrysanthemen und Gladiolen, nach Tulpen und Narzissen des nahen Blumenmeers. Thariel fühlte sich wohl hier im hohen Gras und wälzte sich übermütig hin und her. Die Halme kitzelten ihn an Armen und Beinen und er fühlte sich bei ihnen geborgen. Trotzdem stand er bald wieder auf, das Blumenmeer zog ihn an.

      Während er sich dem Meer näherte, strichen seine Hände über die Gräser, als sei er der Hirte und sie seine Herde. Dann blieben sie zurück und er stand vor dieser gewaltigen wogenden Blumenpracht, die sich in all ihren Farben bis zum Horizont erstreckte. Seine Augen waren mit all diesen Farben ebenso überfordert wie seine Nase mit den süßen Düften, die in der Luft lagen. Er wollte nicht nur am Ufer stehen, er wollte zwischen all diesen Blumen liegen und in sie eintauchen. So nahm er Anlauf und sprang ins Blumenmeer … und spürte, wie oben und unten sich auflösten und ihn etwas mit sich riss. Seine Arme und Beine fanden keinen Halt, unsichtbare Kräfte zogen ihn mit sich. Thariel konnte noch ein letztes Mal die Sonne als gelben Punkt erahnen, nun schon weit weg und wie durch einen Filter. Und dann dachte er, dass er doch nicht wirklich schon wieder ertrinken konnte. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er spürte nur noch, dass er sank und sank, tiefer und immer tiefer.

      HATSCHI! HATSCHI!

      Das Niesen weckte Thariel auf, der nur mit Mühe die Augen öffnen konnte. Er erkannte sehr verschwommen und doch direkt vor sich eine Person, die sich mit einem Taschentuch die Nase putzte. Es dauerte noch weitere Augenblicke, bevor er wieder klar sehen konnte. Wo war er hier? Die Welt schien sich auf und ab zu bewegen. Und wer war diese Person, die ihn da so brutal angrinste und dabei zwei verholzte Zahnreihen zeigte? Sowohl oben als auch unten hatte diese Person nur noch Zähne aus Fichtenholz, wie Thariel beim Blick auf diesen Mundforst vermutete. Auch der restliche Mann wirkte verwegen und entschlossen und wie einer, der beim Münzwurf zu oft auf Zahl gesetzt hatte, wenn es Kopf wurde. Narben überzogen sein Gesicht rund um die breite Nase, doch machten vor allem die Augen einen schlimmen Eindruck. Rot unterlaufen, tränend und dick angeschwollen. Um das linke Knie hatte er einen Verband gewickelt. Sie befanden sich offenbar auf einem Schiff, das ruhig auf und nieder ging.

      »Du verdammter Glückspilz!«, meinte die Gestalt jetzt, während sie sich Tränen aus den Augen rieb.

      »Warum?«, fragte Thariel den Mann, der braune Hosen und ein weißes Hemd trug. Als Antwort kam ein schallendes Gelächter, als ob Thariel einen Scherz gemacht hatte.

      »Was denkst du wohl, wie hoch die Chance ist, im Blumenmeer nicht zu ertrinken, wenn man hineinspringt?«

      Erinnerungen kehrten zurück. Die Wiese, der Himmel, die Blumen, die Düfte, der Sprung.

      HATSCHI! HATSCHI! HATSCHI!

      Das Niesen schüttelte den Mann hin und her, dessen Augen dadurch nur noch mehr tränten. Erneut kam das Taschentuch zum Einsatz.

      »Das Blumenmeer«, begann Thariel und nur langsam ordneten sich die Worte, »ist ein Meer?«

      »Warum heißt es wohl Blumenmeer?« Der Kerl mit den Holzzähnen grinste wieder sein Fichtenlächeln. Sein Atem roch angenehm nach Harz, »ich habe noch nie erlebt, wie sich jemand mit vollem Anlauf in dieses Meer stürzte.«

      »Ich dachte«, begann Thariel, ließ es dann aber sein, weil jede Erklärung doch nur weiteres Lachen auslösen würde. Stattdessen interessierten ihn zwei andere Dinge.

      »Von wem wurde ich gerettet?«

      »Von Nichtadmiral Nelson!«, erklärte der Mann stolz, verbeugte sich leicht und unterband mit großer Willenskraft ein erneutes Niesen, »ich sah dich springen und wusste, dass ich heute Geschichte schreiben werde! Zum ersten Mal wurde ein Mensch aus dem Blumenmeer gerettet.«

      HATSCHI!

      »Zum ersten Mal?«

      Nichtadmiral Nelson nickte zur Bestätigung: »Wenn wir wollen, ist es das erste Mal. Unterschätze nie die Kraft der Fantasie!«

      »Aber, wenn ich doch schon untergegangen war, wie …«

      »Willst du es wirklich wissen?« Nichtadmiral Nelson zeigte wieder sein Holzgrinsen und Thariel nickte, obwohl er sich in diesem Moment nicht sicher war, ob er es wirklich wissen wollte.

      »Dann frage ich dich zuerst: Weißt du, warum sie tränen?«

      Das Gesicht kam Thariel jetzt sehr nahe und sprach weiter, »ich bin dir hinterher getaucht, nur über ein Seil mit dem Schiff verbunden. Und gegen irgendeine der gottverdammten Blumen bin ich wohl allergisch. Meine Güte, vermutlich bin ich allergisch gegen jede einzelne Blume in diesem elenden Blumenmeer!«

      Er musste ein Taschentuch ziehen und sich die Nase schnäuzen, bevor er wieder nieste.

      »Nichtadmiral Nelson«, begann Thariel, »haben Sie vielen Dank dafür, dass Sie mich gerettet haben.«

      »Gern geschehen.«

      »Aber darf ich noch eine Frage stellen?«

      »Natürlich, du bist doch kein Gefangener!«

      »Gut, dass sie das ansprechen, denn strenggenommen bin ich genau das.«

      HATSCHI! HATSCHI! HATSCHI!

      »Wie kommst du darauf?«

      »Im Wesentlichen wohl, weil ich an den Fahnenmast gebunden bin.«

      »Das macht dich zu einem angeschnallten Mann, nicht zu einem Gefangenen.«

      »Aber ich kann mich nicht befreien.«

      »Das sollst du ja auch nicht!«

      HATSCHI!

      Nichtadmiral Nelson zog wieder das Taschentuch hervor, »wie soll ich dich denn sonst auf dem Sklavenmarkt in Mammama verkaufen können?«

      Er lächelte, aber nicht auf eine fiese Art, sondern auf eine aufrichtig erstaunte. Anscheinend wunderte er sich über die Naivität seines Mitreisenden.

      HATSCHI!

      Er versuchte, das Positive zu sehen. Er kam schnell voran. Für die Strecke, die Thariel nun auf dem Blumenmeer in wenigen Tagen zurücklegte, hätte er zu Fuß Wochen gebraucht.

      Nichtadmiral Nelson zeigte sich außerdem als großzügiger Begleiter, der Thariel am reichen Anekdotenschatz seiner Abenteuer teilhaben ließ.

      »Ich bin auch Erfinder«, meinte er eines Abends, als sie gemeinsam die Sonne beobachteten, die hinter dem Blumenmeer unterging.

      »Kenne ich etwas von dir?«

      »Bestimmt!« Zufrieden kaute Nichtadmiral Nelson auf einem Blumenstängel, »zum Beispiel das O-Boot.«

      Thariel hatte davon noch nie etwas gehört.

      »Das O-Boot!«, wiederholte Nichtadmiral Nelson lauter, als ob es ein Problem mit den Ohren war.

      »Kenne ich nicht, was ist das?«

      Ein leicht gekränktes Lachen entfuhr der Kehle des Kapitäns.

      »Nun, das ist im Grunde ein Schiff, nur, dass es nicht auf dem Wasser hinweggleitet, sondern über ihm schwebt!«

      »Es berührt das Wasser nicht?«

      »Ganz genau! O-Boot.« Nichtadmiral Nelson konnte den Stolz auf seine Erfindung nicht verbergen.

      »Und wo ist dein O-Boot?«

      »Du willst es sehen?«

      »Ja.«

      Nichtadmiral Nelson lief mit seinen Holzzähnen und breiter Brust zu einer großen Truhe. Begleitet von einigem Seufzen


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