Irren ist göttlich. Daniel Sand

Irren ist göttlich - Daniel Sand


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nieder, der mit einem kaum hörbaren Knirschen unter seinem Gewicht zerbrach. Wenige Meter weiter befand sich ein moosbewachsener Stein, der als Sitzgelegenheit bessere Dienste leistete. Thariel blieb einfach stehen. Sie beide einte ein besonderes Band. Günter war die erste Person, an die Thariel sich erinnern konnte. Er musste damals etwa zwei Jahre alt gewesen sein und Günter hatte ihn in einem Korb über eine duftende Blumenwiese getragen. Vielleicht hatte er deswegen niemals Angst vor diesem Koloss gehabt. Günter der Golem überragte alle Dorfbewohner um mindestens zwei Köpfe und hatte einen doppelt so breiten Brustkorb wie die anderen. Sein Körper bestand aus Sand, weswegen er einen gewissen Respekt vor Wasser hatte.

      »Danke«, meinte Thariel nach einer langen Weile.

      »Ich hatte dich rennen sehen, anders als du sonst rennst. Also bin ich besser mal hinterher.«

      Thariel entfernte mit spitzen Fingern mehrere Algen von seiner Brust.

      »Was ist das?« Ein breiter Finger, deutete auf die Regenwolke.

      »Nichts«, blockte Thariel ab.

      »Ist das ein …« Auch der Golem sprach es nicht aus.

      »Glaub ich nicht.«

      »Die Dorfbewohner wollten dich deswegen fangen, deine eigenen Freunde«, erinnerte ihn der lebende Sandberg, »sie haben Angst vor dir!«

      »Tja, da kann man wohl nichts dran ändern. So sind wir Menschen eben. Wir können von einem Moment zum nächsten zu Feinden werden.«

      »Nicht nötig, das geht vorbei.«

      Der Golem schüttelte langsam den Kopf. Aus zwei schwarzen Augenhöhlen blickte er Thariel lange an. So lange, dass Thariel wieder über etwas nachdachte, was ihn schon als Kind beschäftigt hatte. Sind das überhaupt Augen oder sind es nur Löcher im Sand? Auf eine seltsame Art hatte diese Augenpartie aber eine sehr beruhigende Ausstrahlung. Egal, ob sie nun wirklich Augen beherbergten oder nur aus zwei Löchern bestanden.

      »Ich habe deinem Vater versprochen, dich vor Dummheiten zu bewahren!«

      »Am Sumpf wachsen großartige Pflanzen, die gegen solche Krankheiten helfen. Die geh ich jetzt pflücken.« Thariel stand auf und wollte sich wieder auf den Weg machen. Nicht zurück ins Dorf, sondern weiter in den Sumpf. Nur nicht ins Dorf, zur Diagnose.

      »Thariel!« Günters Stimme wurde noch etwas tiefer, »du wirst dich der Diagnose stellen!«

      »Nein!« Thariel verschränkte die Arme.

      »Zwing mich nicht!«, kam es mit tiefer Stimme zurück.

      »Zu was?«

      »Das willst du nicht wissen, zwing mich einfach nicht!« Der Golem erhob sich und blickte nun aus der Höhe zu Thariel hinab, der den Sand roch und an seine Kindheit dachte. Günter roch immer nach Kindheit.

      »Ich habe nein gesagt. Die Wolke ist schon kleiner als gestern.«

      »Du zwingst mich?«

      »Mach, was du willst!«

      »Ist das dein letztes Wort?« Günter hatte sich zu Thariel hinuntergebeugt. Selbst jetzt konnte er nicht sagen, ob und was da in den Augenhöhlen saß. Anstatt zu antworten, zuckte Thariel mit den Schultern. Entsetzt hörte er dann ein Geräusch, das sich anhörte, als ob Lehm auseinanderbricht und schon stand Günter ohne Kopf vor ihm. An seinem langen Arm hielt er den Kopf fest, der nun über dem Sumpf baumelte.

      »Tu mir das nicht an, Thariel, bitte! Tu, was er sagt!«, flehte der Kopf.

      »Ja, schon gut, ich werde mich der Diagnose stellen«, rief Thariel verstört, »nur nimm den Kopf da weg«.

      Wütend lief er mit dem Golem zurück.

      »Aber du verhältst dich natürlich sehr erwachsen«, schimpfte Thariel, während sich Günter den Kopf wieder aufsetzte. Wobei er jetzt etwas weiter rechts auf der Schulter hing, was ihn aber nicht zu stören schien. Er ging auch nicht auf Thariels Vorwürfe ein, sondern pfiff leise vor sich hin und war mit sich zufrieden.

      Normalerweise liebte Thariel die Geräusche, die man im Sumpf hörte. All die Vögel, Käfer, Frösche, Fische, Schlangen, Tauware und Wölfe, die zusammen rund um die Uhr dieses besondere Konzert gaben. Doch heute ärgerte er sich zu sehr, um sie wahrzunehmen. Er hörte nur Günter und sein Pfeifen.

      Wölfe heulten weit draußen in den Wäldern und Thariel stand in einem Käfig, der von allen Seiten von stabilem Wolkenholz verschlossen war. Sein Gefängnis schaukelte leicht hin und her, da es mit einem Seil an einem Ast befestigt worden war. Ein Lagerfeuer trotzte der Nacht ein wenig Helligkeit ab und ließ seine Funken durch die Dunkelheit tanzen. Am Himmel versteckte sich der Mond hinter den Baumwipfeln und Wolken, weswegen Thariel nicht einmal den beruhigenden Wasserfall sehen konnte, der sich aus dem Universum auf den Würfelplaneten ergoss. Er blickte sich um, das war sie nun also, seine Diagnose. Von allen Ritualen, die es gab, war dieses das Schlimmste. Er schaute in die Gesichter von Menschen, die ihn sein Leben lang kannten und jetzt misstrauisch betrachteten.

      Zwischendrin saß auch Günter der Golem. Er überragte alle, als würde er als einziger stehen. Die Bewohner hatten Angst, das spürte Thariel ganz deutlich. Was so eine persönliche Regenwolke doch alles verändern konnte, wunderte er sich. Lydia nahm nicht an der Diagnose teil, sie wollte sich das alles nicht anschauen.

      Da war es, das Wort, ausgesprochen, nackt und kalt: Fluch!

      Er hatte es nicht einmal umschrieben oder verschwiegen, wie es üblich war. Nein, Fluch, ganz laut und deutlich. Es hallte in Thariels Kopf nach und ohne, dass er es richtig merkte, drückte er seine Stirn gegen den Käfig. Dorfbewohner schüttelten fassungslos den Kopf, nachdem der Verdacht zur Gewissheit geworden war. Thromokosch verfluchte nie ohne Grund. Thariel musste etwas angestellt haben, etwas sehr Schlimmes.


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