Die Erleuchtung der Welt. Johanna von Wild

Die Erleuchtung der Welt - Johanna von Wild


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gebrochen.«

      »Na, dann ist es ja ein Glück, dass wir nun hier sind«, erwiderte Helena.

      Sie betraten den Schlafsaal, in welchem an die zwanzig Strohmatratzen auf dem Boden lagen, und stellten die Körbe ab. Siegfried legte seine schmale Hand in Helenas Linke und zog sie zu einer der Schlafstätten.

      »Das ist Anna.«

      Helena kniete sich neben die kleine Gestalt, die sie mit fieberglänzenden und geröteten Augen ansah. Als Helena eine Hand auf die Stirn des Kindes legte, hatte sie das Gefühl, sich zu verbrennen. Das dünne Kind glühte förmlich, und auf der Haut zeigte sich ein roter, fleckiger, knotiger Ausschlag.

      Schwester Katharina, die hinzugekommen war, zog die Decke zurück, öffnete das Hemdchen der Kleinen. Auch hier waren die Flecken zu sehen, der ganze Körper des Mädchens war übersät. Helena erschrak.

      »Zwei meiner Brüder sind vor vier Jahren gestorben. Sie zeigten einen ähnlichen Ausschlag«, raunte sie Schwester Katharina zu.

      Statt einer Antwort nickte die Nonne nur, berührte für einen Moment Helenas Hand. Eine mitfühlende und tröstende Geste. Eine untersetzte Frau eilte herbei, eine der Vorsteherinnen des Waisenhauses, das menschenfreundliche Bürger gestiftet hatten.

      »Gepriesen sei der Herr für Euer Kommen, Schwester Katharina! Zuerst hatte Anna nur Fieber und diesen bellenden Husten, gestern kamen diese Flecken hinzu. Es geht ihr immer schlechter.«

      Die Nonne schob einen Finger zwischen die Lippen des Mädchens, ließ sie den Mund öffnen. Auf der Mundschleimhaut zeigten sich weißliche, teils violette Flecke. Sie hatte diese Zeichen schon mehrfach bei anderen Kindern gesehen und wusste, diese Krankheit, deren Namen sie nicht kannte, konnte gefährlich werden. Vor allem bei solch schwächlichen Kindern wie die kleine Anna eines war. Nicht wenige Kinder verstarben daran. Und oft erkrankten binnen kürzester Zeit weitere Kinder und zeigten die gleichen Anzeichen.

      Ein Hustenanfall schüttelte das Mädchen. Als es sein Köpfchen hob und ein Sonnenstrahl sein Gesicht traf, riss es jäh ein Ärmchen hoch, um sich gegen das Licht zu schützen. Auch Lichtscheu gehörte oft zu den Zeichen dieser namenlosen Erkrankung, wusste Schwester Katharina.

      »Wir müssen sie in eine dunklere Ecke legen, das Licht tut ihr weh, und sie von den anderen Kindern trennen. Und dann bringt mir Tücher und kaltes Wasser«, forderte sie die Vorsteherin auf. »Helena, du gibst ihr Thymiantinktur zu trinken, dann sieh nach, ob wir Augentrost, Knoblauch und Spitzwegerich mitgenommen haben.«

      Helena stand hastig auf und sah die Behältnisse in den Körben durch, während die Nonne das Kind aufhob und in einen anderen Raum brachte, wo es dunkler war.

      Die Vorsteherin erschien mit dem Gewünschten und half, das Mädchen in feuchte Tücher zu wickeln, um das Fieber zu senken. Helena hielt Annas Kopf und flößte ihr von der Thymiantinktur ein.

      »Augentrost und Knoblauch haben wir dabei«, sagte sie und setzte das Gefäß ab, damit das Kind schlucken konnte, »aber keinen Spitzwegerich.«

      »Keinen Spitzwegerich? Wir haben genügend Elixier hergestellt, das kann nicht sein!«, rief Schwester Katharina ungläubig aus.

      »Ich befürchte doch. Es ist meine Schuld, ich war so aufgeregt, dass ich mitgehen durfte. Ich muss es vergessen haben«, gestand Helena zerknirscht.

      Die Nonne verzog verärgert das Gesicht. »Dann geh den Berg hinab, dort findest du bestimmt jede Menge davon. Beeil dich.«

      Die Laienschwester nickte, verließ das Waisenhaus, eilte durch das Stadttor und lief so schnell sie konnte bergab. Die Vorsteherin hatte ihr noch einen Lederbeutel mitgegeben, in welchem Helena das Kraut sammeln konnte. Aufmerksam hielt sie ihren Blick auf den Wegrand geheftet, hob nur ab und an den Kopf, um sich an der herrlichen Landschaft zu erfreuen. Der Fluss glitzerte in der Sonne, und Helena hätte viel darum gegeben, sich ihres Habits entledigen zu können und in das kühle Nass zu springen. Das Wasser war sicher noch warm, denn die Spätsommersonne besaß noch erstaunlich viel Kraft.

      Bisher hatte Helena noch keinen Spitzwegerich entdeckt, und ihre Verzweiflung wuchs. Hier am Wegrand würde sie wohl nichts finden, und sie beschloss, den Weg zu verlassen und in der angrenzenden Wiese zu suchen, die von einem Wald gesäumt wurde. Niemand war zu sehen, und sie gestattete sich, den lästigen weißen Schleier abzunehmen und ihn hinter ihren Gürtel zu schieben. Mit gespreizten Fingern fuhr sie sich durch die Haare und genoss den lauen Wind auf ihrem Haupt, während sie stumm Abbitte bei Äbtissin Maria Ignatia leistete.

      Es war die richtige Entscheidung gewesen, denn bald sah sie die aufrechten, kräftigen Stängel des Spitzwegerichs mit seiner lang gezogenen Blütenähre zwischen den Gräsern und Blumen herausragen. Helena bückte sich und sammelte so lange, bis der Beutel fast gefüllt war. Während ihrer Arbeit hatte sie sich bis zum Waldrand bewegt. Gerade wollte sie sich auf den Rückweg machen, als ihr ein Schlehenstrauch auffiel, dessen Früchte schon aufgrund des warmen Wetters früher als sonst gereift waren. Die blauen Beeren konnte man zu einem Elixier verarbeiten, das den Körper stärkte. Ein Aufguss aus der Rinde galt als fiebersenkend und appetitanregend. Helena begann die Beeren zu pflücken und schabte mit ihrem Speisemesser die Rinde ab.

      Ein Geräusch ließ sie aufschrecken. Aus dem Dickicht des Waldes brach eine Rotte Wildschweine hervor. Die wenige Monate alten Frischlinge rannten quiekend auf sie zu, gefolgt von der aufgebrachten Bache. Irgendetwas musste die Tiere aufgescheucht haben. Helena raffte ihren Habit mit einer Hand und spurtete los. Wildschweine waren gefährlich, vor allem wenn sie Nachwuchs hatten.

      Der Habit hinderte sie daran, größere Schritte zu machen, und sie glaubte schon, den heißen Atem der Bache in ihrem Nacken zu spüren. Das wütende Grunzen gellte in ihren Ohren, und sie hetzte weiter, bis sie den Weg erreichte und warf einen schnellen Blick über die Schulter. Das erzürnte Muttertier hatte die Verfolgung aufgegeben und war mit ihrem Nachwuchs in den Schutz des Waldes zurückgekehrt. Als Helena erleichtert aufatmete und wieder nach vorn sah, stieß sie beinahe mit einem Reiter zusammen.

      »Hooooh, Galen, brrr!«, beruhigte der junge Reiter seinen dunkelbraunen Wallach und tätschelte den schweißnassen Hals des Pferdes. »Wohin so eilig?«

      Helena blickte in freundliche, haselnussbraune Augen. Der Reiter mochte nur wenig älter sein als sie. Seine gelockten Haare, die fast dieselbe Farbe wie das Fell seines Pferdes besaßen, trug er halblang, seine Wangen waren gerötet vom schnellen Ritt. Ein grünes Barrett saß keck auf seinem Kopf, unter dem schwarzen Wams trug er ein helles Hemd, dazu eine braune, enge Hose, und seine Füße steckten in Stulpenstiefeln.

      Helena wurde sich ihrer offen zur Schau getragenen Haare bewusst. Verlegen nestelte sie den weißen Schleier hinter ihrem Gürtel hervor und bedeckte ihre dunkelrote Haarpracht.

      »Verzeiht, junger Herr, die Hitze …«, murmelte sie.

      »Ihr habt meine Frage nicht beantwortet«, erwiderte er belustigt. »Ihr seid gerannt, als wäre buchstäblich der Teufel hinter Euch her.«

      »Nur ein paar Wildschweine«, lächelte sie scheu. »Ich muss zurück in die Stadt. Ein schwerkrankes Mädchen benötigt meine Hilfe.«

      »Toman Ostheim«, stellte sich der Reiter vor, »Ihr seid schneller, wenn ich Euch mit auf mein treues Pferd nehme«, bot er ihr an.

      Ein verlockendes Angebot, doch Helena schlug es aus. »Habt Dank, aber es schickt sich nicht für eine Laienschwester, zu einem Fremden aufs Pferd zu steigen. Ich gehe zu Fuß. Gehabt Euch wohl, Toman Ostheim.«

      Festen Schrittes folgte sie dem Weg bergauf. Toman ritt neben ihr her.

      »Es schickt sich auch nicht, den Schleier abzunehmen«, stichelte er gutmütig. »Kommt schon, niemand wird Euch bemerken. Denkt an das kranke Kind. Ich setze Euch in der Nähe des Stadttores ab, dann könnt Ihr den Rest des Weges zu Fuß gehen«, erneuerte er sein Angebot und starrte unverwandt auf ihren Schleier, als könne er diesen mit seinen Blicken durchdringen, um ihr Haar noch einmal zu bewundern.

      Helena ging weiter, sah stur auf den Weg, der immer steiler und anstrengender wurde. Ihre Beine wurden müde, vielleicht sollte sie


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