Die Erleuchtung der Welt. Johanna von Wild

Die Erleuchtung der Welt - Johanna von Wild


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graute der Morgen, als Hans mit einem groß gewachsenen Mann, hager und gewandet in einen schwarzen Umhang, zurückkehrte. In der rechten Hand trug der Arzt eine lederne Tasche.

      »Ihr seid also ein Wundarzt?« Misstrauen glomm in Agnes’ Augen.

      Der Mann lächelte. »Nein. Ich habe Medizin studiert und gehöre nicht zur Zunft der Bader und Wundärzte. Ich bin ein Medicus.«

      Agnes starrte ihn an. Ein Gelehrter. Aber verstand er auch das Handwerk eines Wundarztes, oder hatte er nur Bücher gelesen? Stumm sandte sie ein Stoßgebet zum Himmel, der Allmächtige möge ihr einen guten Mann ins Haus geschickt haben.

      »Hat er viel Blut verloren?«, fragte der Medicus und ließ sich neben Cuntz nieder, der mit geschlossenen Augen dalag und leise stöhnte.

      Solange Agnes auf den Medicus gewartet hatte, hatte sie Magda und Ännlin, die völlig außer sich war, angewiesen, ihrem Herrn ein ordentliches Lager in der Eingangshalle zu bereiten, denn er konnte unmöglich die Treppen zu den Schlafräumen hinaufsteigen. Agnes hatte die hochschwangere junge Magd geohrfeigt, weil sie zunächst nur weinend und zeternd herumgestanden hatte, ohne einen Finger zu rühren.

      »Vermutlich. Seine Kleidung war blutdurchtränkt, aber die Blutung hatte fast aufgehört, als wir ihn hierherschleppten«, gab Agnes zur Antwort.

      »Helft mir, ihn auf den Bauch zu drehen«, brummte er.

      Der Medicus wusch die Wunde mit verdünntem Wein, tränkte einen Schwamm mit Mohnsaft und forderte Agnes auf, den Schwamm vor Cuntz’ Mund und Nase zu halten. Dann begann er, die Wunde zu nähen. Die Häpe hatte nicht nur die Hautschichten durchtrennt, sondern einen darunter liegenden Muskel nahezu gänzlich durchschnitten. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er sein Werk beendet hatte. Doch schließlich verknotete er den letzten Faden und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Cuntz hatte dank des Mohnsafts kaum etwas von der Prozedur mitbekommen.

      »Ihr könnt den Schwamm von seinem Gesicht nehmen«, wies er Agnes an. »Er muss sich schonen, sonst platzt die Naht auf. Und reibt täglich Johanniskrautöl auf die Naht und darum herum. Er wird Schmerzen haben, wenn er zu sich kommt, dann gebt ihm Weidenrinde. Sie ist auch gut gegen Fieber.«

      Umständlich kramte er in seiner ledernen Tasche herum, förderte schließlich Johanniskrautöl und zerkleinerte Weidenrinde zutage.

      »Hier, einen halben Löffel davon setzt Ihr mit einem Becher kaltem Wasser auf. Erhitzt das Ganze langsam, bis es kurz aufkocht. Dann könnt Ihr den Sud durch ein Sieb gießen. Er kann drei oder vier Becher täglich davon trinken.«

      »Habt Dank, und nun nennt mir die Summe, die ich Euch schuldig bin.«

      »Für meine Dienste bekomme ich fünf Gulden.«

      »Fünf Gulden! Das ist eine Menge Geld! Seid Ihr von Sinnen?«, begehrte Agnes auf.

      »Ihr hättet auch einen Bader holen können, das wäre billiger gekommen«, antwortete der Medicus trocken. »Ich habe in Paris studiert, Anatomie und Chirurgie, nach den Lehren des berühmten Guy de Chauliac. Danach habe ich drei Jahre in Bologna verbracht. Ihr seht also, im Vergleich zu einem Bader verfüge ich über erheblich mehr Kenntnis des menschlichen Körpers, als es ein Bader je vermag. Zudem habe ich mit zwei verschiedenen Fäden genäht und unterschiedliche Nähte gesetzt, was ein Bader niemals könnte. Und nun bezahlt mir meine Arbeit und lasst mich zurück nach Heidelberg bringen.«

      Agnes, die zwar nicht wusste, was genau die Worte ›Anatomie‹ und ›Chirurgie‹ bedeuteten, war trotzdem tief beeindruckt. Ein weit gereister Mann. Paris. Bologna.

      »Ihr sollt Euren Lohn bekommen, werter Medicus«, erwiderte sie unterwürfig.

      Sie wandte sich ab und verschwand, um kurz darauf mit einem Beutel voller Münzen zurückzukehren.

      »Hier, zählt nach.«

      Sie reichte dem Medicus den Beutel, der ihn nur abschätzend in der Hand wog und dann in seiner Tasche verschwinden ließ. »Ich vertraue Euch. Achtet darauf, dass er sich nicht zu früh zu viel bewegt. Wenn die Nähte reißen, wird er auf ewig ein nahezu steifes Bein zurückbehalten«, empfahl er mit eindringlicher Stimme.

      Agnes nickte und ließ Josef holen, der den Medicus zurück nach Heidelberg kutschieren sollte.

      Die ganze Fahrt über dachte Josef darüber nach, wo die junge Helena abgeblieben war. In all der Aufregung schien nur ihm aufgefallen zu sein, dass das Mädchen verschwunden war. Der alte Knecht war sicher, sein Herr hatte nicht die Wahrheit erzählt. Dessen vermeintlicher Sturz vom Pferd und das Verschwinden des Mädchens hingen zusammen. Darauf würde er seinen Tageslohn verwetten. Doch er würde sich hüten, seine Gedanken laut auszusprechen.

      Endlich dämmerte der Morgen. Steif von der ungewohnten Haltung in der Astgabel und von der Kälte, kletterte Helena ungelenk von der Eiche hinunter. Sie musste los, bevor Cuntz mit den Knechten die Suche nach ihr begann. Wenn er sie zu fassen bekäme, würde er sie zu Tode peitschen lassen. Quälender Hunger und Durst trieben sie vorwärts, doch sie entdeckte nichts Essbares, nicht einmal einen Bach oder Tümpel, an dem sie ihren Durst hätte stillen können. Stunde um Stunde hastete sie weiter, blieb an Dornenranken hängen, die ihr den Kittel zerrissen. In ihren langen Haaren verfingen sich kleine Zweige. Erschöpft ließ sie sich am Stamm eines Ahornbaums nieder, um sich eine kurze Atempause zu gönnen. Bevor es Abend wurde, musste sie einen sicheren Schlafplatz gefunden haben. Mit schweren Gliedern stemmte sie sich hoch und schlug sich weitere Stunden durch den dichten Wald.

      Am Nachmittag des nächsten Tages erreichte sie schließlich den Waldrand. Vorsichtig spähte sie hinter einer dicken Buche hervor. Ein weites Tal lag vor ihr. Vereinzelte Gebäude waren zu sehen, die von einer Mauer umgeben waren. Eine große steinerne Kirche ragte zwischen den Gebäuden empor. Den Hauptteil der dreischiffigen Basilika bildete das Langhaus, nördlich des Gebäudes befand sich die Schaffnei, wo der Schaffner den Zehnten für den Kurfürsten einzog. Helena erkannte, dass es sich um ein Kloster handelte. Ob man ihr dort Zuflucht gewährte? Sie hatte keine andere Wahl, verließ den Schutz des Waldes und stapfte den Hang hinunter. Wenigstens war die Sonne zum Vorschein gekommen und sandte ihre wärmenden Strahlen aus.

      Sie war nicht mehr weit vom Kloster entfernt, als sie mit dem rechten Fuß in ein Loch trat und so unglücklich stürzte, dass die Häpe, die sie in ihrem Gürtel stecken hatte, ihr in den Oberschenkel fuhr. Der Schmerz ließ ihr beinahe die Sinne schwinden. Helena spürte, wie warmes Blut an ihrem Bein hinabrann. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schob sie Kittel und Kleid nach oben. Das Haumesser hatte ganze Arbeit geleistet und steckte mit der gebogenen Spitze in ihrem Bein.

      Helena holte tief Luft, packte die Häpe mit beiden Händen und zog sie heraus, was sie vor Pein aufschreien ließ. Ein Schnitt war nun zu sehen, aus dem beständig Blut sickerte. Stöhnend riss sie einen Streifen Stoff aus ihrem Kleid, band ihn fest über die Wunde. Mit zusammengebissenen Zähnen rappelte sie sich hoch, doch sie konnte kaum auftreten. Offenbar hatte sie sich auch den Knöchel verstaucht. So würde sie es nie bis zum Kloster schaffen. Wenigstens war nun die Blutung zum Stillstand gekommen. Schluchzend, mehr vor Verzweiflung als vor Schmerz, sank sie ins Gras, rollte sich zusammen und schloss die Augen.

      Wie lange sie so gelegen hatte, vermochte Helena nicht zu sagen, als plötzlich Stimmen an ihre Ohren drangen. Sie mühte sich den Kopf zu heben, doch die anstrengende Flucht durch den Wald, Hunger und Durst hatten sie zu sehr geschwächt, sodass der Versuch misslang.

      »Da liegt jemand«, hörte sie eine aufgeregte Stimme rufen.

      Augenblicke später sahen zwei Nonnen auf Helena herunter. Eine von ihnen ließ sich neben ihr nieder und bemerkte das Blut an Helenas Kleidung.

      »Schwester Innocentia, hilf mir«, forderte sie ihre Begleiterin auf.

      »Ich bin Schwester Katharina. Kannst du aufstehen?«, wandte sie sich dann an Helena. Die Nonne hatte ein gütiges Gesicht, voller kleiner Fältchen, die noch mehr zu werden schienen, wenn sie lächelte.

      »Ich weiß nicht, mein Bein …«, stöhnte Helena schwach. Tränen der Erleichterung stiegen in ihre Augen, aber tapfer unterdrückte


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