Ein erlesener Mord. Фиона Грейс
das nur die erste Welle von vielen sein würde, die sie während dieser zwei Wochen würde ertragen müssen. Sie war neidisch auf jeden einzelnen Bewohner in dieser Gegend. Auf jeden!
Charlotte schenkte ihnen Wein ein, und sie prosteten sich zu.
„Auf die Freundschaft“, sagte Olivia.
Sie atmete das grasige Bouquet des eisgekühlten Sauvignon Blanc ein und nahm lächelnd einen Schluck.
„Auf Spontanurlaube“, sagte Charlotte, und sie tranken erneut.
„Auf neue Anfänge“, fügte Olivia für einen dritten Toast hinzu.
„Auf den Gewichtsverlust“, schloss Charlotte.
Olivia zog die Augenbrauen hoch und starrte auf die ausgebreiteten Speisen vor ihnen.
„Ich habe in den letzten zwei Wochen hundertachtzig Pfund abgenommen“, erklärte Charlotte. „Das ist ungefähr, was Patrick gewogen hat.“
„Was ist passiert?“, fragte Olivia. „Ihr wolltet doch heiraten.“
„Ich habe die Hochzeit abgesagt“, sagte Charlotte. Sie suchte sich eine Scheibe Ciabatta aus und bestrich sie mit einer dicken Schicht aus Tomatenaufstrich.
„Wieso das?“, fragte Olivia, als sie sich ein Sandwich mit Schinken, Käse und Olivenpaste zusammenstellte. Sie war neugierig, was zwischen Charlotte und ihrem Verlobten vorgefallen war, den sie zwar nie kennengelernt hatte, von dessen konstanter Präsenz auf Charlottes Instagram sie aber geschlossen hatte, dass er gutaussehend und charmant war.
Charlotte verzog das Gesicht.
„Es war kompliziert.“
Sie begann zu reden, hielt inne, seufzte und nahm einen Schluck Wein.
„Zu kompliziert, um jetzt darüber zu sprechen“, sagte sie schließlich und wedelte ungeduldig mit einem Stück Parmaschinken. „Ich will unser nettes Mittagessen nicht mit einer Geschichte über dieses grässliche Subjekt versauen.“
Olivia nickte verständnisvoll.
„Wie dem auch sei, immerhin hat dich das Ganze hierhergebracht“, tröstete sie ihre Freundin.
„Genau“, stimmte Charlotte zu. „Und dich auch. Du bist immer so beschäftigt, dass ich gar nicht auf die Idee gekommen bin, dich einzuladen. Wirst du während deines Urlaubs hier arbeiten müssen?“
„Nein“, antwortete Olivia. All ihre Ängste brachen wieder über ihr zusammen, als sie hinzufügte: „Ich habe gekündigt.“
Charlotte verschluckte sich an ihrem Wein.
„Du hast deinen Job gekündigt? Du meinst, du bist einfach so hinausspaziert?“
„Ich habe ihn gehasst.“ Schuldbewusst versuchte Olivia, ihre Taten zu rechtfertigen. „Ich habe einen billigen, gepantschten Wein vermarktet, der für alles steht, was ich verabscheue.“
„Hättest du dir nicht einen anderen Kunden aussuchen können?“, fragte Charlotte in einem ehrfürchtigen Ton, der Olivias Gewissenbisse sogar noch verschlimmerte. „Du hast mir mal gesagt, dass deine Mutter von dir gesagt hat, wenn du nicht im Marketing arbeiten würdest, wäre alles, für das du noch qualifiziert wärst, das Regaleeinräumen im Supermarkt.“
„Ich brauche eine neue Richtung für meine Karriere. Kein Regaleeinräumen“, sagte Olivia entschlossen. „Ein Urlaub im Heimatsland des Weins wird mir Zeit geben, darüber nachzudenken. Einer meiner Träume ist mein eigenes, hausgemachtes Weinlabel.“
„Ich mag Katzen, also will ich irgendwann mal Löwenbändiger werden“, scherzte Charlotte gutgelaunt, doch als sie Olivias Gesicht sah, verblasste ihr Lächeln. „Ich dachte, das sollte ein Witz sein. Du meinst das also ernst mit dem Weinlabel?“
„Ja. Es ist ein Traum von mir“, insistierte Olivia. Jetzt, wo sie tatsächlich hier war, erschien er ihr sogar noch verlockender als zuvor in Chicago.
„Wow. Naja, soll ich dir vielleicht erst einmal den Garten zeigen? Das Grundstück ist wunderschön.“
Begierig, ihre Umgebung zu erkunden, stand Olivia auf, und sie schlenderten hinaus aufs Grundstück.
Als sie die Website der Villa durchstöbert hatte, hatte sie gelesen, dass fünf Morgen des Landes ursprünglich für eine Freilandhühnerhaltung benutzt wurden. Ein alter Hühnerstall, kunstvoll im Garten platziert, erinnerte noch daran.
Sie passierten einen Obstgarten und stiegen einen steilen Hang hinauf auf eine mit Büschen bespickte und mit Bäumen umrandete Grasfläche. Olivia fragte sich, ob hier einst die Freilandhühner umhergewandert waren.
Ein Pfad umrundete das verwilderte Feld, und Olivia erkannte die Bäume dank ihrer unverwechselbar dicken und fasrigen Rinde. Es waren Korkeichen. Dieses Weinanbaugebiet war wahrlich ein geeigneter Platz dafür.
Sie bewunderte sie für eine Weile und ließ ihre Hand über die Rinde eines Baumes gleiten, bevor sie wieder in den nach Kräutern duftenden Hof zurückkehrten.
Olivia trat wieder in die Kühle der Küche und fühlte sich hin- und hergerissen. Eine Hälfte von ihr war sprachlos von dem Zauber dieses Paradises, in das sie gereist war. Die andere Hälfte zitterte vor Angst bei dem Gedanken daran, was ihre leichtsinnige Aktion für ihre Zukunft bedeuteten würde.
Ein freundlicher Klopfer auf ihre Schulter lenkte sie von ihrem Zwiespalt ab.
„Du machst dir doch nicht gerade Panik über deinen Job, oder?“, fragte Charlotte.
„Nur ein bisschen“, gab Olivia zu.
Charlotte verschränkte streng die Arme vor der Brust.
„Das ist hier im Urlaub leider nicht erlaubt. Wieso machen wir nicht eine kleine Tour durch die Stadt? Es gibt eine kleine Bar, die ich schon immer mal ausprobieren wollte. Ich habe bereits viele gutaussehende Männer dort hineingehen sehen. Hast du Lust?“
Olivia erinnerte sich an den Traum, den sie gehabt hatte, bevor ihr Flugzeug gelandet war. Okay, das hatte in einem peinlichen Erlebnis geendet, aber das war umso mehr ein Grund, es noch einmal zu versuchen. Irgendwo da draußen wartete die große Liebe auf sie, aber die würde auch nicht für immer warten.
„Lass mich schnell meinen Lippenstift auffrischen, und dann können wir los!“, willigte sie ein.
KAPITEL ACHT
Als sie in die kleine Stadt Collina fuhren, war Olivia froh, dass Charlotte am Steuer saß. Sie war so gefesselt von der Szenerie, dass sie sie wahrscheinlich strack in eine der Mauern gefahren hätte, die die schmale Straße säumten.
Es gab dort eine Schlossruine außerhalb der Stadt – ein echtes Schloss mit bröckelnden Mauern, und Zinnen an seinem Turm. Es sah düster und imposant aus, und seine Silhouette zeichnete sich gegen die tiefstehende Spätnachmittagssonne ab. Dieser Turm hatte die Stadt womöglich einst vor Eindringlingen beschützt.
Sie stellte sich vor, neben einer echten Schlossruine wohnen zu können. Ihre zweite Welle aus Neid überkam sie, als sie die zweigeschossigen Apartments daneben mit ihren verwaschenen, cremefarbenen Fassaden, den Fensterläden und den bunten Blumenkästen unter den Fenstern beäugte.
Sie beobachtete, wie eine junge Frau mit einem Einkaufskorb die Stufen zu ihrer Wohnung herunterlief und ihrem Nachbarn ein fröhliches „Buon giorno“ zurief. Ihr dunkles Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und sie war mit dem natürlichen Sinn für Stil gekleidet, von dem Olivia glaubte, dass jeder Italiener ihn besaß. In einer Millionen Jahren wäre Olivia nie auf die Idee gekommen, dieses burgunderfarbene Top mit den himmelblauen Dreiviertel-Jeans und den leuchtendweißen Sandalen zu kombinieren, und damit auszusehen, als wäre sie gerade den Seiten der Vogue entstiegen.
An ihr würden diese Klamotten zusammengewürfelt wirken, als hätte sie wahllos im Dunkeln danach gegriffen. Die Leute würden erst auf ihre Schuhe starren, dann hoch zu ihr, als wollten sie sagen: Echt jetzt?
In der Stadt selbst teilte ein schmiedeeisernes Geländer den schmalen Gehweg von der beinahe genauso schmalen Straße ab. Olivia lehnte sich aus dem Auto und atmete den