Escape. Petra Ivanov

Escape - Petra Ivanov


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gleichzeitig heiss und kalt.

      «Dein Onkel hat Kontakt zu einer befreundeten Familie aus Peja aufgenommen. Driton Kika hat einen sehr guten Ruf. Seine Tochter besucht das Gymnasium, nächstes Jahr wird sie ein Wirtschaftsstudium beginnen. Sie ist gleich alt wie du.»

      Mein ganzes System stürzte einfach ab. Unfähig, einen Ton von mir zu geben, starrte ich Vater mit offenem Mund an.

      «Sanije ist ein wohlerzogenes Mädchen», sagte er. «Ausserdem ist sie überdurchschnittlich attraktiv. Ich glaube, sie wird dir gefallen.»

      «Was?», entfuhr es Julie. «Leo ist doch viel zu jung, um ans Heiraten zu denken!»

      «Natürlich», pflichtete Mutter bei. «Davon spricht ja niemand. Es geht nur darum, sich gegenseitig kennenzulernen.»

      «A-aber … ich …» Verzweifelt rang ich nach Worten.

      Vater sah mich, ohne zu blinzeln, an.

      «Es gibt doch auch hier Mädchen», flüsterte ich.

      Vater atmete tief ein. Mutter erklärte mir, dass ich mit einer Frau, die zu mir passe, viel glücklicher sein würde.

      «Darum geht es doch nicht! Ihr wollt, dass sie zu euch passt, nicht zu mir!»

      «Das reicht!» Vater schlug mit der Faust auf den Tisch.

      «Enver!», wies ihn Mutter zurecht. Sie wandte sich zu mir. «Leotrim, wir wollen nur, dass du ihr eine Chance gibst. Sie wird in den Herbstferien in die Schweiz reisen.»

      «Und wenn sie mir unsympathisch ist?»

      «Das ist einzig und allein deine Entscheidung», erklärte Mutter.

      Ich war so bescheuert, es zu glauben.

      In meinem Zimmer setzte ich mich aufs Bett. Die albanische Flagge, die an der Wand hing, wirkte auf einmal bedrohlich. Sie zeigte einen schwarzen Adler mit zwei Köpfen, die in unterschiedliche Richtungen schauten. Da schien jemand gewusst zu haben, wie man sich fühlt, wenn man hin- und hergerissen ist.

      Eines war mir klar: Widerstand war zwecklos. Was ist schon ein einziges Treffen?, sagte ich mir. Ich würde sie mir ansehen, höflich absagen, und das wäre es dann gewesen. Keine grosse Sache, oder? Warum bekam ich dann Magenschmerzen bei der Vorstellung?

      Ich startete meine XBox, loggte mich ein und griff nach meinem Headset. Chris war online. Als Bordschütze eines Lockheed AC-130H Spectre Gunships hatte er in einer Mission gerade zwanzig Gegner niedergestreckt. Er ist ein echter COD-Geek. Dagegen bin ich ein blutiger Anfänger. Dafür habe ich bei Sport-Games etwas drauf.

      Heute griff ich allerdings lieber zur Waffe. Ich war so vertieft ins Zocken, dass ich gar nicht hörte, wie Mutter hereinkam.

      Irgendwann spürte ich etwas neben mir und sah auf. Mutter starrte auf den Bildschirm, einen entsetzten Ausdruck im Gesicht. Rasch schaltete ich die XBox aus. Ihr vorwurfsvoller Blick nervte mich.

      «Es ist ja nur ein Game!», verteidigte ich mich.

      «Du hast immer gesagt, du spielst Basketball oder Fussball auf deinem Computer», warf sie mir vor.

      «Das ist eine XBox», brummte ich.

      «Ein Kriegsspiel? Ausgerechnet du?»

      Was sollte das nun wieder heissen?

      «Hast du denn überhaupt keinen Respekt?», fragte sie. «Wir sind wegen des Krieges in die Schweiz geflüchtet! War das für dich ein Spiel?»

      Noch nie hatte ich Mutter so erlebt. Normalerweise ist sie gefasst. Als vor einem halben Jahr ein Wasserrohr brach und unsere Wohnung fast überflutet wurde, war sie diejenige, die alles im Griff hatte, während Vater überfordert mit seinem Taschentuch herumtupfte und Julie kreischend auf dem Sofa stand.

      «Leotrim! Hörst du mir überhaupt zu?»

      «Ja.» Was erwartete sie von mir?

      Sie schüttelte den Kopf. «Vielleicht hat dein Vater Recht.»

      Ohne mir zu sagen, warum sie gekommen war, verliess sie mein Zimmer. Was war heute nur los mit allen? Hatte mich jemand zum Abschuss frei gegeben? Mein Blick fiel auf die Fussballtickets auf meinem Schreibtisch. Die Vorstellung, Nicole zum Match einzuladen, hatte nach allem, was passiert war, an Schrecken verloren. Mein Handy zeigte erst acht. Ich zog mir einen Pullover über und verliess vorsichtig mein Zimmer. Aufs Aftershave verzichtete ich.

      Vater las konzentriert in seiner Zeitung. Ich wähnte mich schon in Sicherheit, als er mich fragte, wohin ich wolle.

      «Raus», nuschelte ich unverbindlich.

      «Wen triffst du?»

      «Niemanden.»

      Streng genommen war das gar nicht gelogen. Nicole wusste nichts von meinem bevorstehenden Besuch.

      Aber Vater liess sich natürlich nicht täuschen. «Gehst du zu ihr?», fragte er.

      «Zu wem?»

      Er nahm seine Lesebrille ab. «Ich möchte nicht, dass du dich mit ihr triffst.»

      Plötzlich packe mich eine Riesenwut. «Sie hat einen Namen! Sie heisst Nicole.»

      Vater blätterte in seiner Zeitung. Ich zögerte kurz, griff dann aber nach der Türklinke.

      «Leotrim!»

      Ich fühlte mich wie der Adler an meiner Wand. Sollte ich Vater ignorieren und einfach gehen? Oder in mein Zimmer zurückkehren? Vater schien nicht daran zu zweifeln, dass ich gehorchen würde. Er blickte nicht einmal von seiner Zeitung auf.

      «Warum darf ich Nicole nicht sehen?», wollte ich wissen.

      «Hast du keine Hausaufgaben?»

      «Nein», log ich.

      «Hast du deinen Aufsatz über Gesundheit am Arbeitsplatz geschrieben?»

      «Nein», flüsterte ich.

      Und folgsamer Scheisser, der ich nun mal war, kehrte ich in mein Zimmer zurück, wo ich die Tickets in tausend Stücke zerriss und mit dem Fuss so fest gegen die Wand kickte, dass ich anschliessend zum Schreibtisch humpelte.

      Für meine Eltern ging das Leben weiter, als wäre nichts geschehen. Ich aber sah nur noch ein Datum vor mir: 7. Oktober. An diesem Tag würde Sanije von Pristina in die Schweiz fliegen. Um mich kennenzulernen. Sie würde bei ihren Verwandten wohnen, mit denen Vater bereits Kontakt aufgenommen hatte. Mutter stellte jetzt schon das Menü für den Besuch zusammen.

      Je näher der Tag rückte, desto schlechter wurde meine Laune. Für meinen Aufsatz kassierte ich eine Zwei, obwohl er nicht viel schlechter war als die anderen. Bei der Arbeit schloss ich ein Netzwerkkabel falsch an, so dass eine ganze Abteilung nicht mehr drucken konnte. Zwei Stunden lang suchte mein Boss den Fehler. Daraufhin erinnerte er mich daran, dass ich noch in der Probezeit sei.

      Mein einziger Lichtblick war Chris. Wenn wir zockten oder abhingen, vergass ich den ganzen Stress. Es war schwierig, sich um Chris herum gestresst zu fühlen. Dazu bewegte er sich einfach zu langsam, nahm alles zu gelassen. Vielleicht war das nur Show. Falls ja, zog er sie echt gut ab. Einmal fragte ich ihn, ob sein Vater nie Druck mache wegen seiner Noten und so. Besonders gut waren sie nicht. Und immerhin war sein Alter Bulle; der verstand also etwas von Druckmachen.

      Chris zuckte mit den Schultern.

      «Was heisst das?», bohrte ich.

      Erstaunt sah er mich an. Normalerweise stellte ich ihm keine Fragen. Er schüttelte den Kopf und holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Mich fragte er schon gar nicht mehr, ob ich auch eines wollte, denn ich trank nie.

      «Nö», antwortete er endlich, ins Zimmer schlurfend.

      «Und dieses Chaos? Stört ihn das nicht?» Chris’ Zimmer sah aus wie ein Schlachtfeld in «Call of Duty».

      Grinsend hob er die Achseln. «Je schlimmer es hier aussieht, desto häufiger übernachtet er bei seiner Freundin.» Er hielt


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