Escape. Petra Ivanov

Escape - Petra Ivanov


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doch egal!»

      «Nun sag schon!»

      «Seit August, zufrieden?»

      «Und vorher?»

      «War sie auf dem Gymnasium.» Julie liess das Messer fallen und rannte aus der Küche.

      Verdattert sah ich ihr nach. Mutter hob das Messer auf und drückte es mir in die Hand. Was sollte ich damit? Sie zeigte auf die Zwiebeln. Erwartete sie etwa, dass ich weitermachte? Was war heute nur mit allen los?

      «Warum fragst du nach Nicole?», wollte Mutter wissen.

      Ich zuckte mit den Schultern.

      «Deine Mutter hat dich etwas gefragt!», sagte Vater plötzlich in der Tür.

      «Ich bin nur neugierig», antwortete ich rasch.

       Vater hatte wieder seinen Blick drauf. Genau wie ich war er nicht besonders gross. Über seiner Hose zeichnete sich sein Bauch immer deutlicher ab. Aber wenn er so dastand, ganz ruhig, und mich mit seinen Augen fixierte, fühlte ich mich wie festgenagelt.

      Er befahl mir, Getränke aus dem Keller zu holen. Erleichtert legte ich das Messer hin und verschwand aus der Küche. Ich warf einen Blick zu Julies Tür. Sie war zu.

      Ich blieb länger als nötig im Keller. Die Luft war angenehm kühl, und als ich die Flaschen bereitstellte, dachte ich daran, wie ich als Kind Fussballbilder hinter den Harassen versteckt hatte. Wie alle Jungs meiner Klasse hatte mich während der Weltmeisterschaft das Fussballfieber gepackt. Auf dem Pausenplatz wurden Paninibilder getauscht; wer keine hatte, war ein Niemand. Doch so sehr ich darum bettelte, Vater kaufte mir keine. Er war enttäuscht über meine schlechten Schulnoten und hielt eine Belohnung für unangemessen.

      Eines Morgens wickelte ich mein Pausenbrot aus und entdeckte drei Panini-Päckchen. Mutter hat nie ein Wort darüber verloren, aber jedes Mal, wenn Fussballbilder erwähnt wurden, wandte sie sich ab.

      Stimmen erfüllten das Treppenhaus, und ich packte rasch die Flaschen. Zwei Stufen aufs Mal nehmend erreichte ich unsere Wohnung gleichzeitig mit meinem Onkel und seiner Familie. Julie stand wieder in der Küche, im Wohnzimmer hatte Vater den Tisch ausgezogen, damit er Platz für zehn Personen bot. Während ich Stühle holte, wurde über die Wahlen zu Hause diskutiert.

      Ich hörte nur halb zu. Zwar nickte ich an den richtigen Stellen, doch in Gedanken durchlebte ich den gestrigen Abend. Als es an der Tür klingelte, war ich gerade bei Nicoles Treffer angekommen.

      «Nicole?», stiess Julie aus.

      Ich reagierte wie ein Autofahrer, der das Gaspedal mit der Bremse verwechselt. Zuerst raste mein Herz einfach los, dann hörte es auf zu schlagen, dann donnerte es wieder davon.

      «Entschuldige, ich wollte nicht stören», sagte Nicole. «Ich gehe gleich wieder. Ich wollte nur etwas vorbeibringen.»

      Da ich angestrengt aus dem Fenster starrte, sah ich nicht, was sie in den Händen hielt. Tuschelnd verschwanden Julie und Nicole im Zimmer.

      Das Gespräch über die Wahlen war verstummt. Vater betrachtete mich schweigend.

      «Leotrim! Darf ich eine Runde Autorennen fahren?», fragte mein achtjähriger Cousin.

      «Klar!», antwortete ich befreit. Zusammen gingen wir in mein Zimmer.

      Viel zu schnell stand das Essen auf dem Tisch. Julie kam Arm in Arm mit Nicole aus dem Zimmer, als wären sie immer beste Freundinnen gewesen. Unvorstellbar, dass meine Schwester noch vor einer halben Stunde dreingeschaut hatte, als passten ihr ihre Lieblingsklamotten nicht mehr.

      Natürlich war auch für Nicole gedeckt. Diesmal protestierte sie nicht. Sie wirkte entspannter als beim letzten Essen. Ihr blondes Haar trug sie offen, so dass es ihre Schultern berührte. Was hätte ich dafür gegeben, mit einer dieser Haarsträhnen zu tauschen! Das Bild von ihr auf dem Segelboot tauchte vor mir auf: ihre gebräunte Haut, die in der Sonne trocknete, ihr flacher Bauch, auf dem ihre Hand lag. Ein Bein hatte sie angewinkelt, das andere ausgestreckt. Ich schob einen Berg Kartoffelstock in den Mund, um nicht laut zu stöhnen.

      «Ich zweifle nicht daran, dass Gjyle die Prüfung bestehen wird», sagte Vater. «Sie ist eine hervorragende Schülerin.»

      «Leotrim, machst du die Prüfung ein drittes Mal?», fragte mein Onkel.

      Es passierte wieder: Zucker im Benzin. Bei jedem Familientreffen war die Aufnahmeprüfung ans Gymnasium

      Thema. Der Kartoffelstock schmeckte auf einmal wie Pappe. Ich schüttelte den Kopf.

      «Warum nicht? Willst du nicht, dass aus dir etwas wird?»

      «Leotrim macht eine Lehre, das ist gut», sagte Mutter auf Deutsch.

      Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als einfach «Escape» zu drücken und das Programm vorzeitig zu beenden.

      «Das Gymnasium ist besser», beharrte mein Onkel.

      Na toll. Aber als sein Skype keinen Ton von sich gab, wer hat ihm die Audiotreiber aktualisiert? Und wer half ihm, als er vom Explorer auf Firefox umstieg und auf dem Desktop keine Verknüpfung mit der Website herstellen konnte? Sogar seine Software-Altlasten hatte ich ihm von der Festplatte geschafft.

      «Hauptsache, er macht keine Dummheiten», sagte Vater bedeutungsvoll.

      Bitte nicht, flehte ich innerlich. Nicht jetzt, nicht vor Nicole.

      Als ich zum zweiten Mal durch die Aufnahmeprüfung ans Gymnasium gefallen war, fühlte ich mich so Scheisse, dass ich Vaters Taxi klaute. Ich weiss nicht, was ich mir dabei dachte. In mir kochte es, ich wollte einfach weg. Ich hatte genug vom ganzen Terror. Monatelang hatte ich gebüffelt, nur um durchzurasseln. Dass es knapp gewesen war, konnte mir egal sein. Entweder man war drin oder eben nicht.

      Meine Spritztour endete auf dem Polizeiposten.

      «Informatiker-Lehrstellen sind total begehrt», wehrte sich Julie für mich. «Und Leo hatte es viel schwerer als ein Schweizer, eine zu finden. Obwohl er beim Test als Zweitbester abschnitt!»

      Ich wagte es, den Kopf zu heben und sah, dass Nicoles Blick auf mich gerichtet war. Bevor jemand Julie widersprechen konnte, zeigte Nicole auf die Teigtaschen.

      «Was ist das?», fragte sie.

      «Wir nennen sie Manti», erklärte Mutter. «Sie sind mit Hackfleisch gefüllt. Gjyle hat sie gemacht. Schmecken sie Ihnen?»

      In meinem Kopf herrschte Chaos. Hatte Nicole mich absichtlich gerettet? Oder fragte sie zufällig gerade in diesem Moment nach den Manti?

      5

      liebe

      Hier unten klingt alles gedämpft. Vielleicht können Geräusche ebenfalls nicht schwimmen und meiden deshalb das Wasser. Das hätte ich auch tun sollen.

      Genauso hätte ich damals merken müssen, was mit mir los war. Aber es machte überhaupt keinen Sinn. Wie kann man sich in jemanden verknallen, den man gar nicht mag? Zu meiner Entlastung muss ich sagen, dass ich in Sachen Liebe wenig Erfahrung hatte. Eigentlich gar keine. Nicht, dass mich Mädchen kalt liessen. Aber das ewige Gekicher hielt mich davon ab, mich ihnen zu nähern. Ich hatte immer das Gefühl, mein Hosenladen stehe offen oder ich hätte Ketchup im Gesicht.

      Chris sagt, einzeln seien Mädchen ganz in Ordnung. Aber sie sind ja nie alleine. Sogar aufs Klo gehen sie mindestens zu zweit. Keine Ahnung, warum. Julie kann ich nicht fragen, sie rollt nur die Augen.

      Obwohl man es Chris nicht zutrauen würde, hatte er fast ein halbes Jahr lang eine feste Freundin. Er hat mir nie erzählt, wie weit sie gegangen sind. Ich weiss nur, dass er sie mochte. Ich meine, er fand sie nicht nur scharf, sondern redete auch mit ihr. Mit Nicole sprach ich nur, wenn es nicht anders ging. Deshalb verstand ich nicht, was mit mir geschah. Ich fand sie echt mühsam. Und trotzdem dachte ich jede Sekunde an sie.

      Jetzt frage ich mich, ob alles anders gekommen wäre, wenn ich nicht so ein Vollidiot gewesen wäre. Wenn ich vor Vater gemerkt hätte, was mit mir los war. Ich war wie ein Besucher


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