Escape. Petra Ivanov

Escape - Petra Ivanov


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hatte gar nicht gemerkt, dass sie mir gefolgt war. Sie schien nicht einmal ausser Atem zu sein. Ich kam mir vor wie der grösste Idiot.

      Julie riss mich aus den unangenehmen Erinnerungen. «Glaubst du, sie finden den Dieb?»

      Manchmal ist sie echt naiv. Ich zuckte mit den Schultern und legte die Füsse auf den Tisch.

      «Alle meine Unterlagen sind in der Tasche», jammerte Julie. «Für den Vortrag.»

      Ich kannte keinen Menschen, ausser meiner Schwester, der verlorenem Schulmaterial nachtrauerte. Dabei weiss sie vermutlich auswendig, was in den Unterlagen steht.

      Mit einem schweren Seufzer kehrte sie in die Küche zurück. Kurz darauf hörte ich Vaters Schritte auf der Treppe. Ich stählte mich innerlich gegen die Standpauke, die mir bevorstand, weil ich nicht gut genug auf Julie aufgepasst hatte.

      Die Haustür ging auf, und ich hörte, wie Mutter auf Deutsch «Kommen Sie» sagte. Vater hatte einen Gast mitgebracht. Vor Fremden würde er mir nicht die Kappe waschen.

      «Ich muss gleich wieder gehen», antwortete eine bekannte Stimme.

      Mit 280 Sachen über eine Rennstrecke zu rasen, ist einfach geil. Taucht aber ein Hindernis auf, hast du fast keine Chance. Deine Augen sehen es, deine Daumen reagieren, doch du kannst meistens nicht mehr ausweichen.

      Als Mutter die Wohnzimmertür aufstiess, biss ich die Zähne zusammen und wartete auf den Knall.

      Nicole hatte geduscht. Sie sah nicht mehr verschwitzt aus, sondern wie poliert. Aus Angst, mein Blick könnte wieder an ihrem Busen festkleben, schaute ich weg. Der Nachrichtensprecher im Fernseher bewegte die Lippen, doch ich verstand kein Wort. Julie brachte Getränke und verschwand wieder in der Küche. Mein Herz klopfte wie ein defekter Auspuff. Ich war mir sicher, dass Nicole es hören konnte.

      «Was schaust du?», fragte sie.

      Konnte sie Gedanken lesen? Meine Ohren glühten, bis mir klar wurde, dass sie auf den Fernseher deutete.

      «Wahlen», murmelte ich.

      «Wo?»

      Eigentlich bin ich nicht schwer von Begriff, aber ich glaube, in dem Moment hätte ich nicht einmal eins und eins zusammenzählen können. Ich riskierte einen Blick zur Seite und sah, wie Nicole Stirne runzelnd den Nachrichtensprecher musterte. Plötzlich verstand ich.

      «In Kosova.»

      «Seid ihr … Shipis?», stiess sie hervor.

      Die Art, wie sie es sagte, jagte meinen Puls noch weiter in die Höhe. Es klang wie ein Schimpfwort. Genau so gut hätte sie fragen können, ob wir Messerstecher seien.

      Eigentlich bin ich ziemlich schlagfertig. Doch bis ich auf Deutsch die richtigen Worte fand, war es zu spät. Julie rief uns zum Essen. Natürlich war auch für Nicole gedeckt. Das gehörte sich einfach. Ich sah ihr an, dass sie nicht mitessen wollte, aber gegen Julie und Mutter hatte sie keine Chance, auch nicht, als sie sagte, sie habe keinen Hunger.

      Kerzengerade setzte sie sich auf die Stuhlkante. Ein Jaguar mit laufendem Motor. Damit sie gleich losfahren konnte, wenn die Ampel auf Grün wechselte. Vermutlich fürchtete sie, der Stuhl sei schmutzig. Ich fragte mich, wie Julie sie dazu gebracht hatte, mit ihr in die Recyclingfirma zu gehen.

      «Wie war die Führung?», fragte Vater.

      Vaters Deutsch ist perfekt. Er weigerte sich, Schweizerdeutsch zu lernen, weil er lieber eine Sprache gut spricht als zwei Sprachen schlecht. Zu Hause war er Lehrer gewesen. Das merkt man.

      Ich beschloss, die Sache mit dem Dieb hinter mich zu bringen.

      Schweigend hörte Vater zu. Als ich die Geschichte zu Ende erzählt hatte, herrschte Stille.

      «Wir haben Anzeige erstattet», fügte ich hinzu.

      «Bei der Polizei?», fragte er.

      «Ja.»

      Vater mag Bullen nicht. Das war schon zu Hause so. Lange habe ich das nicht verstanden. Es passte einfach nicht zu ihm. Ordnung ist ihm wichtig. Wenn wir gegen die Regeln verstossen, greift er sofort durch. Erst als Mutter uns erklärt hatte, wie die Spezialpolizei in Kosova die Bevölkerung terrorisiert hatte – zumindest uns Albaner –, war mir ein Licht aufgegangen. Als ich klein war, wurde Vater mitten in der Nacht verhaftet. Fäuste polterten gegen die Tür, mehrere Polizisten stürmten ins Haus. Ich roch Rauch, hörte meine Mutter weinen. Zuerst dachte ich, unser Haus stehe in Flammen. Aber es war nur Vaters Wagen, der brannte. Später erfuhr ich, dass die Polizei ihn angezündet hatte.

      Mehrere Wochen wussten wir nicht, was mit Vater passiert war. Eines Morgens stand er vor der Tür. Seltsam war, dass er sie nicht sofort öffnete. Ich beobachtete ihn vom Hühnerstall aus. Er griff zweimal nach der Türklinke, zog die Hand aber jedes Mal wieder zurück. Erst beim dritten Versuch stiess er die Tür auf. Schwerfällig trat er über die Schwelle, als koste es ihn Überwindung. Er hat nie darüber gesprochen, was er erlebt hatte, aber sein Körper war mit blauen Flecken übersät. Jahre später begriff ich, dass er geschlagen worden war. Die Vorstellung, jemand könnte Vater schlagen, war so ungeheuerlich, dass ich immer nach anderen Erklärungen gesucht hatte.

      Langsam nickte Vater. Plötzlich hatte ich einen Bärenhunger. Mutter füllte meinen Teller mit Reis und Fleisch, Julie begann, vom Recyclingbetrieb zu erzählen. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Nicole. Dafür, dass sie keinen Hunger hatte, verschlang sie eine ganze Menge.

      Nach dem Essen verschwand Nicole mit Julie im Zimmer. Ich holte meine Matheaufgaben hervor und setzte mich zu Vater ins Wohnzimmer. Mutter brachte uns Kaffee und kümmerte sich um den Abwasch. Mathe macht mir keine Mühe. Mir gefällt es, dass Zahlen in jeder Sprache gleich funktionieren. Seit ich rechnen kann, habe ich an diesem Tisch Matheaufgaben gelöst und dabei dem Rascheln von Vaters Zeitung gelauscht.

      An diesem Abend ergaben die Zahlen jedoch keinen Sinn. Kaum nahm ich einen Anlauf, eine Aufgabe zu lösen, soff mein Motor ab. Aus Julies Zimmer hörte ich Gekicher und Geplapper. Worüber quatschen Mädchen die ganze Zeit? Keine Sekunde war es still. Unruhig rutschte ich auf dem Sofa hin und her. Nicht einmal Vaters strenger Blick half mir, mich zu konzentrieren.

      Als Julies Tür endlich aufging, hatte ich erst die Hälfte der Aufgaben gelöst. Während Julie Nicole mit einer Salve von Küsschen eindeckte, sah Vater von seiner Zeitung auf.

      Nein!

      Ich beugte mich tief übers Mathebuch.

      «Leotrim, bitte begleite unseren Gast nach Hause», befahl Vater auf Albanisch.

      Genau das hatte ich befürchtet. Widerwillig stand ich auf.

      Nicole verabschiedete sich von meinen Eltern und verliess die Wohnung. Ich schlich ihr nach wie ein unfreiwilliger Schatten.

      Draussen blieb sie stehen. «Folgst du mir?»

      «Ich bringe dich nach Hause.»

      «Was? Ich finde den Weg alleine.»

      Ich wusste nicht einmal, wo sie wohnte. Vermutlich irgendwo am Zürichberg, wo die Villen der Bonzen standen. Keine Ahnung. Aber warum war sie dann in Julies Klasse?

      «Ich brauche keine Begleitung!»

      Halt endlich die Klappe, dachte ich.

      «Leo!»

      «Leotrim», zischte ich.

      «Leotrim», wiederholte sie schnöde, «ich will nicht, dass du mich nach Hause bringst.»

      Glaubte sie etwa, ich hätte Bock darauf, Babysitter zu spielen?

      «Du solltest nicht alleine unterwegs sein», presste ich hervor.

      «Wie bitte?»

      Jetzt hatte sie wieder diesen Blick drauf. Sie hob ihr Kinn so hoch, dass ich nur noch ihre Nasenlöcher sah. Eingebildete Kuh.

      «Ich brauche niemanden, der mich beschützt!», meinte sie. «Ich komme ganz gut alleine zurecht.»

      «Mann,


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