Escape. Petra Ivanov

Escape - Petra Ivanov


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keine grosse Hilfe.»

      Ich fluchte leise. Diese Zicke konnte mich mal. Aber sie setzte noch einen drauf.

      «Du wärst fast vom Tram überfahren worden», spottete sie.

      Ich ballte die Hände zu Fäusten und zählte langsam bis zehn. Meine Wut verschwand so zwar nicht, aber ich machte wenigstens nichts, was ich später bereute.

      Nicole hingegen hatte keine Skrupel. «Wir sind hier in der Schweiz, nicht im Balkan», sagte sie mit so viel Verachtung, dass ich zusammenzuckte. «Bei uns haben Frauen Rechte. Wenn dir das nicht passt, geh dorthin zurück, wo du hingehörst.»

      Dann lief sie davon.

      Die Gelegenheit, mich zu rächen, bot sich bereits am nächsten Abend. Ich hatte einen beschissenen Tag in der Berufsschule gehabt. Nicoles Spruch verfolgte mich, ich war ziemlich dünnhäutig. Als sich der Deutschlehrer über meinen Aufsatz beschwerte, vergass ich, bis zehn zu zählen. Was glaubte er, warum ich eine Informatiklehre machte? Wohl kaum, weil mir Deutsch besonders lag. Leider dachte ich es nicht nur, sondern sagte es laut. Daraufhin drohte er, sich mit meinem Lehrmeister in Verbindung zu setzen, wenn ich meine Worte in Zukunft nicht vorsichtiger wählte.

       Zu Hause schleuderte ich meine Schulsachen ins Zimmer und setzte mich an meinen Laptop. Ich hatte Chris versprochen, ihm eine CD mit albanischen Songs zusammenzustellen. Chris war der einzige Schweizer, den ich kannte, der albanische Musik hörte. Eigentlich war er gar kein richtiger Schweizer. Sein Vater war Indianer, oder zumindest Halbindianer. Bis ich Chris kennenlernte, wusste ich gar nicht, dass es heute noch Indianer gibt. Sie trugen keinen Federschmuck, sondern ganz normale Klamotten. Seine Haut war auch nicht rot, sondern hellbraun. Aber sein Haar war schwarz wie gebrauchtes Motorenöl, manchmal flocht er es zu einem richtigen Zopf. Er sprach sogar irgendso eine Indianersprache, die klang, als sei er erkältet.

      Ich hatte bereits die Hälfte der Songs heruntergeladen, als es an der Tür klingelte. Mutter öffnete. Kaum hörte ich Nicoles Stimme, stand ich unter Strom. Kurz darauf trat sie ins Wohnzimmer. Sie musste mich nur ansehen, schon fühlte ich mich als Versager. Sie stand nicht einmal so wie normale Mädchen. Viel zu gerade, als hätte sie einen Ölmessstab verschluckt.

      Mutter forderte mich auf, mich um Nicole zu kümmern, bis Julie käme. Widerwillig holte ich aus der Küche ein Glas Cola. Vermutlich trank sie nur Cola light oder zero, aber das war mir egal.

      «Schöne Musik», sagte sie.

      Na klar. Wer’s glaubt.

      «Wie heisst der Sänger?», fuhr sie fort.

      Mutter beobachtete mich von der Tür aus.

      «Sinan Hoxha», presste ich hervor.

      «CD?»

      «YouTube.»

      Endlich hielt sie die Klappe. Doch da mischte sich Mutter ein. Es brauchte viel, bis sie mich zurechtwies. Dafür war Vater zuständig. Aber jetzt erinnerte sie mich daran, dass Nicole ein Gast war, und bat mich, sie anständig zu

       behandeln. Das ist das Problem, wenn man zu Hause eine andere Sprache spricht. Die Eltern können einem sagen, was man zu tun hat, obwohl Besuch da ist.

      Ich drehte den Laptop, damit Nicole den Bildschirm sehen konnte, und erklärte, dass ich eine CD zusammenstellte. Plötzlich kam mir eine Idee. Wenn sie mich schon für einen Idioten hielt, könnte ich die Show genau so gut durchziehen.

      «Irgendetwas klappt mit dieser Datei nicht», jammerte ich wie ein Schwachkopf. «Verstehst du etwas von Computern?»

      Sie zuckte mit den Schultern.

      Ich schob ihr die Maus hin.

      «In welchem Laufwerk befindet sich die CD?», fragte sie unsicher.

      «Keine Ahnung.»

      Ich lehnte mich zurück und beobachtete, wie sie unbeholfen herumklickte. Offensichtlich hatte sie keinen blassen Schimmer. Wer sah jetzt wie ein Idiot aus?

      Leider kam Julie, bevor sich Nicole komplett lächerlich machte. Sofort sprang Nicole auf.

      «Und was ist mit der CD?», rief ich mit gespielter Verzweiflung, als sie auf Julies Zimmer zusteuerte.

      «Welche CD?», fragte Julie.

      «Nicole wollte mir helfen, eine CD zu brennen.»

      Julie verdrehte die Augen. Ich hörte nicht, was sie sagte, aber bevor sie die Tür zustiess, sah ich Nicole mit offenem Mund dastehen.

      3

      schwimmversuche

      Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne, und plötzlich ist es dunkel im Wasser. Mit den Beinen strample ich, als hätte ich mich in meiner Bettdecke verfangen. Es gelingt mir sogar, die Wasseroberfläche mit einer Hand zu durchbrechen, aber schon zieht es mich wieder nach unten. Meine Turnschuhe wiegen fast so schwer wie die Erkenntnis, dass ich ein totaler Versager bin.

      Ich kann nicht einmal schwimmen. Lächerlich, oder? Im Schwimmunterricht habe ich mich immer an die Trennseile geklammert. Das Peinlichste am Ganzen ist: «Trim» heisst auf Albanisch «mutig». Ich heisse also «Leo, der Mutige». Zum Glück war ich der einzige Albaner im Schwimmunterricht gewesen, so dass niemand die Ironie bemerkte. Früher war ich stolz auf meinen Namen gewesen, in letzter Zeit fügte ich das «trim» nur noch aus Gewohnheit an.

      Nicht nur beim Schwimmen fehlt mir der Mut. Hätte ich mich für das eingesetzt, was mir wichtig ist, würde ich jetzt nicht wie ein Vollidiot im Wasser zappeln. Doch ich war zu feige. Wenn mir etwas nicht passte, brummte ich nur vor mich hin, machte aber schliesslich, was von mir verlangt wurde. Manchmal gibt es jedoch Situationen, in denen man es keinem recht machen kann. Wenn man dann nicht auf sich selbst hört, läuft es schief.

      So rasch, wie die Sonne verschwunden ist, kommt sie wieder hinter der Wolke hervor. Ich sehe, dass ich gar nicht so tief unter Wasser bin, wie ich dachte. Einen kurzen Moment stelle ich mir vor, ich könnte die Augen schliessen und wieder an Land erwachen, so wie im Game «Need for Speed». Mit meiner Karre bin ich schon oft ins Wasser gerast, in der virtuellen Welt ist das überhaupt kein Problem. Nach dem Reboot steht der Wagen einfach wieder auf der Strasse.

      Und dann? Hätte ich nun den Mut, ehrlich zu sein? Oder würde ich weiterhin das tun, was von mir verlangt wurde? In der Schule haben sie uns immer gesagt, ein Game hätte mit der realen Welt wenig zu tun. Das sehe ich gar nicht so. In beiden Welten geht es nur darum, möglichst viele Credits zu sammeln, um weiterzukommen. Dazu musst du Schwierigkeiten überwinden, Geschicklichkeit beweisen und Feinde ausschalten.

      Meinem Gegner ist das soeben gelungen. Mir bleiben noch etwa drei Minuten, bis ich das Bewusstsein verliere. Wenigstens das habe ich im Schwimmunterricht gelernt.

      4

      midnight basketball

      Als Coach gehörten auch die Vorbereitungen fürs Midnight Basketball zu meinen Aufgaben. Jeden Samstagabend schloss ich die Turnhalle im Sihlfeld auf, setzte mit den andern Leitern die Musikanlage in Betrieb, reihte Bänke auf und holte Bälle aus dem Geräteraum. Die Arbeit machte mir Spass. Meist konnten wir nicht widerstehen und warfen bereits einige Körbe, bevor es losging. Die leere Turnhalle war wie ein Versprechen. Die Basketbälle lagen erwartungsvoll an der Seitenlinie, der Geruch nach abgestandenem Schweiss erinnerte an hitzige Zweikämpfe.

      An diesem Abend nahm ich keinen Ball in die Hand. Ich machte mir auch keine Gedanken darüber, wie ich die Teams einteilen würde, obwohl mich das noch vor Kurzem ziemlich beschäftigt hatte. Einige Typen hatten Sheila beleidigt, ein Mädchen aus der neunten Klasse. Daraufhin schwor ihr Bruder Rache. Zwar kam er nie ins Midnight, aber sein bester Freund Darko machte regelmässig mit. Bei jeder Gelegenheit provozierte er Jamal und Steve. Aber die hatten natürlich auch ihre Freunde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die ganze Sache hochging. Deshalb war es wichtig, wer mit wem zusammen spielte.

      Coach zu sein war nicht einfach. Aber daran dachte ich jetzt nicht.

      Denn Julie hatte Nicole mitgebracht.

      Sie trug nicht nur


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