Drei baltische Wege. Robert von Lucius

Drei baltische Wege - Robert von Lucius


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Faksimileausgabe eines wohl 1680 entstandenen, 1945 in Ostpreußen entdeckten handschriftlichen deutsch-litauischen Wörterbuches, etwa 2 500 Seiten stark.

      Umso ernüchternder ist, trotz leichter Zunahme, das geringe Interesse an litauischer Literatur in Deutschland. Der wohl bedeutendste literarische Verlag Litauens, Baltos Lankos, publizierte zweisprachige Gedichtbände von Aldona Gustas, die seit 1945 in Berlin lebt – „mit Taschen voller Wortkram / In litauischen und deutschen Lauten / denke ich was später / auf der Zunge schmilzt / im Ohr stirbt“ –, und von Sigitas Geda, einem der wichtigsten Vertreter moderner litauischer Lyrik. Bei Baltos Lankos erscheinen auch Venclova und Mekas. Viele schöne Briefe habe es nach der Frankfurter Buchmesse an den Sondergast gegeben – aber mehr auch nicht, so die Koordinatorin des Litauischen Buchverbandes. Ein Grund: Es gibt nicht nur wenige Übersetzungen, die litauische Literatur ist auch schmal. Der Vorsitzende des Litauischen Verlegerverbandes bemerkt selbstkritisch, ein Grund für das geringe Interesse sei schlicht, dass vieles in der litauischen Literatur nicht gut sei: Wie viele warte auch er auf gute Bücher.

      Einen bemerkenswerten Austausch eines verborgenen Schatzes brachte die berührende deutsche Veröffentlichung des „Tagebuchs für Lyda“ des deutschen Komponisten Edwin Geist, das jahrzehntelang in Litauen versteckt aufbewahrt wurde. Als der wegen seiner Abstammung von den Nationalsozialisten mit Aufführungsverbot belegte Komponist 1938 nach Litauen emigrierte, verliebte er sich in die jüdische Pianistin Lyda. Weil er um seine Frau kämpfte, wurde er Ende 1942 von der Gestapo erschossen, Lyda beging Selbstmord. In Deutschland blieb Geist bis 2002 unbekannt – da inszenierte Vladimir Tarasov, Vater des litauischen Jazz, Geists Oper „Heimkehr des Dionysos“. Die Uraufführung in Vilnius kam sechzig Jahre nach seiner Ermordung.

      Jene, die auf einen neuen Aufschwung der Buchkultur wie in den Dreißigerjahren oder auch wie beim rasanten Scheinaufschwung direkt nach der Befreiung von der Sowjetunion gehofft hatten, wurden enttäuscht. Noch immer sind Touristen, die in Vilnius Reiseführer und Bildbände erwerben, für litauische Verlage ein wichtigerer Markt als die geringen Bücherexporte. Die je nach Definition sechzig bis sechshundert Verlage konzentrieren sich auf den Heimatmarkt. Die schwankenden Angaben sind Beleg für die Umschwünge, die das litauische Verlagswesen erlebt hat. Sechshundert Verlage haben eine Verlagslizenz – jeder sechstausendste Litauer besitzt also einen eigenen Verlag. Aber nur gut vierhundert geben wenigstens ein Buch im Jahr heraus, und zwanzig Verlage vereinen vier Fünftel aller Buchtitel auf sich. Erfolgreiche Bücher erreichten vor 1990 eine Auflage bis zu hunderttausend Exemplaren; jetzt gilt ein Buch schon als Bestseller, wenn es in kurzer Zeit sechstausendmal verkauft wird. Buchverkäufe sanken im Vergleich zum Vorjahr 2008 um gut zehn Prozent, 2009 gar um 25 Prozent. Verlage kämpfen um ihr Überleben, zumal eine klare staatliche Verlagspolitik fehlt und Staatsgelder für Bibliotheksetats gekappt wurden – zwischen 2008 und 2010 sanken diese auf ein Zehntel. 1991 erschien noch eine Gesamtauflage von 25 Millionen Büchern bei 3,5 Millionen Litauern, zehn Jahre später waren es noch zehn Millionen. Immerhin liegt die Zahl neuer Titel gemessen an der Bevölkerung noch immer deutlich über jener anderer Reformländer des Ostens wie Ungarn, Polen und der Tschechischen Republik.

      Wenige haben als Beobachter und Kenner des europäischen Jazz eine größere Rolle gespielt als der Kritiker Joachim Ernst Behrendt. Nach einem Festival in Berlin (West) schrieb er 1980: „Eine große Überraschung bereitete das Ganelin-Trio aus Sowjetlitauen. Die drei Musiker spielen mit zündender Intensität etwa fünfzehn Instrumente und erreichen eine euphorische Kulmination. Sie demonstrierten den spontansten und gleichzeitig organisiertesten, professionellsten Free Jazz, den ich je gehört habe.“ Ganelin, die 1965 den Schritt von der Klub- zur Konzertbühne erreichten, gelten als Wegbereiter des zeitgenössischen Jazz; deren Konzertreise durch die Vereinigten Staaten als Mutterland des Jazz war ausverkauft. Ein Grund mag gewesen sein, dass in Sowjetjahren andere westliche Musikrichtungen wie Rock oder Pop als Zeichen des Verwerflichen verboten waren. Jazz aber wurde geduldet trotz einzelner Sätze in Stalins Reich wie „Heute spielst du Jazz, morgen verkaufst du dein Vaterland“. So konzentrierten sich Musiker und Liebhaber auf Jazz als stilles Zeichen des Aufbegehrens und der Selbstbehauptung. Und pflegten eigene Klänge, indem sie Volksmusik in ihre Werke einflochten. Kaunas spielte dabei anfangs eine stärkere Rolle als Vilnius, nicht nur wegen des Jazzfestivals, sondern auch weil der Radiosender Kaunas weniger starken Kontrollen unterlag als jener in Vilnius. Auch Klaipeda spielte eine Rolle: Matrosen, Zuhörer in Hafenrestaurants, brachten begehrte Tonaufnahmen aus Nordamerika mit, die dann den Stil bildeten.

      Vladimir Tarasov – Wegbereiter des litauischen Jazz

      Die besondere Geltung von Jazz blieb nach 1990 (erst da gab es formelle Ausbildungswege), zumal Jazzclubs und Jazzfestivals – dasjenige in Kaunas galt zeitweise als das beste Jazzfestival im Osten Europas, während jenes in Tallinn das älteste war – mittlerweile aufblühten. Manche spöttelten, nach Basketball sei Jazz der zweite einigende Glaube Litauens. In den letzten Jahren nahm die herausragende Rolle ab. Die Jugend wandte sich dem nun zugänglichen Rock und Pop zu und jüngst eher alternativen und elektronischen Klängen. Nicht wenige der namhaften Schlagzeuger, Pianisten wie Gintautas Abarius oder Saxophonisten wanderten nach Deutschland oder nach New York aus, Jazzclubs wurden wieder geschlossen. Den besten Einblick in die historische Entwicklung gibt eine Sammlung, die litauischen Jazz zwischen 1929 und 1980 auf drei CDs komprimiert.

      Gut fünf Jahrzehnte ist litauischer Jazz alt. Ende der Fünfziger wurde in der Sowjetrepublik ein „echtes“ Swing-Orchester gegründet. Bald darauf gab es weitere Ensembles und Jazzclubs in Vilnius und Kaunas, darunter ein Dixieland-Orchester des Konservatoriums in Vilnius und ein Sextett der Universität. Ein Konzert 1968 in Vilnius gilt als zweite Geburtsstunde des litauischen Jazz. Drei Jahre später entstand das Ganelin-Trio. Nach einem Konzert in Warschau kam der „große“ Erfolg – das Interesse nahm sprunghaft zu. Ende der Achtziger löste sich das Trio um Vyacheslav Ganelin (Klavier), Vladimir Chekasin (Saxophon) und Vladimir Tarasov (Schlagzeug) auf. Die Musiker – alle drei waren in Russland geboren und wanderten später zu – wirkten aber weiter durch ihre Schüler.

      Einen gleichsam historischen Wiederauftritt, den einzigen, gab es fünfzehn Jahre später in Frankfurt, als Litauen 2002 Gastland der Buchmesse war. Dort wurden sie vorgestellt mit dem Satz, sie seien Teil der kulturellen und spirituellen Geschichte Litauens und ganz Europas. Das Trio hatte den Free Jazz auch anderswo geprägt, weil sie dessen Elemente übernahmen und weiterentwickelten – eine Mischung unterschiedlicher Kulturen und Stile von Klassik bis Polka, neue Formen, verknüpfte Kompositionen von mehreren Musikern, eine Vielzahl wechselnder Instrumente. Tarasov, der im Lande und bei der Musik blieb, ist weiterhin neben dem Saxophonisten Petras Vysniauskas die prägende Jazz-Gestalt in Litauen. Er trug dazu bei, eine „nationale Jazzschule“ zu begründen. Zu den Bands, die nach ihm folgten, zählt das Sextett um den Komponisten und Klavierspieler Dainius Pulauskas, das auch außerhalb der traditionellen westlichen Jazznationen auftrat von Indien bis China – ihre Fusion-Musik ist warmherzig, intelligent, auch witzig.

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