Drei baltische Wege. Robert von Lucius

Drei baltische Wege - Robert von Lucius


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mehr renoviert, zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts dann abgebrochen. Nun steht er „fast“ wieder. Vom Innenhof führt eine glasüberdachte Treppe ins unterirdische Foyer, von dem aus man in vier Richtungen gehen kann – zu den historischen Mauern, zu den „historischen“ Sälen, zu Ausstellungsräumen, in denen künftig Wechselausstellungen aus dem Ausland stattfinden sollen, und zur Konzerthalle, nachempfunden dem Theatersaal aus dem frühen siebzehnten Jahrhundert. Auch hier wollen die Bauherren stets sichtbar machen, was authentisch ist und was Vision.

      Als Napoleon 1807 Berlin besetzte, flohen Regierung und Königshof nach Memel und erklärten es zur provisorischen Hauptstadt des preußischen Königreiches. Dort hob Friedrich Wilhelm III. mit einem Edikt die Leibeigenschaft in Preußen auf und empfing zweimal den Zaren. Als Klaipeda als älteste Stadt Litauens seine Gründung vor 750 Jahren feierte, kamen neben vielen Zehntausend Litauern vier Präsidenten aus Ostsee-Anrainern – nicht aber die Staatschefs von Deutschland und Russland, jenen beiden Ländern, die im Memelland herrschten, bevor und nachdem Litauen die Hafenstadt und das Memelland 1923 übernahm. Schon zwei Jahre nach der Gründung der Burg und der Stadt im August 1252 durch einen Vertrag zwischen dem Bischof von Kurland und dem livländischen Orden übernahm Memel von Lübeck das Stadtrecht.

      Litauer gehen unbefangener mit der sechs Jahrhunderte währenden deutschen Vergangenheit Memels um als Deutsche. Das schließt den ebenso berühmten wie missbrauchten Gedichtvers Hoffmann von Fallerslebens im „Lied der Deutschen“, der Nationalhymne, ein: „Von der Maas bis an die Memel“. In einer Einführung in seine Geschichte und Literatur weist eine offizielle Broschüre darauf, dass die Grenzregion um das ostpreußische Tilsit und Memel vor dem Zweiten Weltkrieg zu Deutschland zählte. Diese waren zugleich aber Orte, in denen die litauische Nation und Kultur vor 140 Jahren wiedergeboren wurden.

      Wechselvoller kann die Geschichte einer Stadt wie Memel, das auch vom Deutschen Orden, von Schweden (1629 bis 1635) und von Franzosen (1920 bis 1924) regiert wurde und Völkerbundsmandat war, kaum sein. Ordensburg – auch hier gibt es Pläne eines Wiederaufbaus – und Stadt wurden im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört. Die historische und kulturelle Bedeutung blieb, alte Fachwerkbauten wurden restauriert. Das Wechselhafte gilt auch für die bernsteinreiche Region „Kleinlitauen“, die sich jetzt auf drei Staaten verteilt – das Memelland kam zu Litauen, Teile Ostpreußens zu Polen und Königsberg als Exklave Kaliningrad zu Russland. Staatsgrenzen waren im vorigen Jahrhundert mehrfach – 1919, 1923, 1939 und 1945 – verschoben worden.

      Klaipeda ist von der Ostsee abgetrennt durch die Kurische Nehrung, auf der Thomas Mann seinen Zyklus „Joseph und seine Brüder“ in seinem Sommerhaus im nahen Nida (Nidden) schrieb. Die Kurische Nehrung trennt das Kurische Haff von der Ostsee: ein knapp hundert Kilometer langer, allenfalls vier Kilometer breiter Streifen mit Wanderdünen, der zur Hälfte Litauen, zur Hälfte Russland (Kaliningrad/Königsberg) gehört. Zu weiteren großen Söhnen der drittgrößten Stadt Litauens zählen der Barockdichter Simon Dach, Dichter des „Ännchen von Tharau“, der Astronom Friedrich Wilhelm Argelander und der wohl bedeutendste lebende litauische Dichter Tomas Venclova. Fast genau ein Jahrhundert steht vor dem Theater die Figur des Ännchen als Brunnen und zeigt die Wechsel der Geschichte. 1939 wich sie einer Hitler-Büste, dann einem sowjetischen Panzer, bis sie 1989 als Nachguss heimkehrte.

      Teufel gibt es in den drei Stockwerken in allen Farben und Formen: aus Ton, Holz, Bronze oder Plastik, aus China, Kuba oder der Ukraine, als Pfeife, Aschenbecher oder Karnevalsmaske. Das Teufelsmuseum in Kaunas glaubt, die einzige Sammlung dieser Art in Europa zu sein. Gegründet wurde es 1966 – also zu Sowjetzeiten. Die Sowjets sahen die Sammlung als Mittel, die katholische Kirche lächerlich zu machen. Sie gründet auf der Privatsammlung eines Malers und Kunstprofessors. Mittlerweile umfasst sie mehr als 2 000 Teufel dank der Geschenke aus vielen Ländern; in Deutschland scheint es, am Bestand gemessen, wenig Teufel zu geben, vielleicht auch nur wenige Schenkungswillige. Vor allem ein Doppelteufel zieht die Aufmerksamkeit auf sich: eine Karte Litauens, auf der Hitler steht, verzerrt und grob, und hinter ihm eine glatte Stalin-Gestalt, die ihn peitscht. Beide Diktatoren tragen die obligaten Teufelshörner; sie haben das Leben zweier litauischer Generationen zerstört.

      Teufelshörner haben beide – Hitler und Stalin

      Ist es Zufall, dass das Museum in Litauen steht, dem letzten Staat Europas, der christianisiert wurde – wobei die politisch motivierte Bekehrung des Großfürsten und seiner Untertanen 1387 nicht nur den Schritt zum katholischen Glauben brachte, sondern auch fort vom orthodoxen Glauben seiner Mutter und damit der Einbindung in die osteuropäische Welt. Viele sagen voller Ernst Nein, auch besonnene Gesprächspartner. Sie weisen auf die starke Rolle, die das Übersinnliche im litauischen Volksglauben noch spiele und die späte „Bekehrung“. Dass ein früherer Staatspräsident sich eine Wahrsagerin mit schwammigem Hintergrund als Beraterin und Vertraute hielt, verspotten viele, andere fühlen ihm das nach. Die Christianisierung kam um 1300, der letzte heidnische Priester in Litauen starb im siebzehnten Jahrhundert. Noch immer tragen viele Turmkreuze über den Kirchen auch heidnische Symbole – Ringelnattern etwa oder Sonnen. Feiertage und Vornamen haben oft heidnische Bezüge. Am Tag vor Aschermittwoch, vor Frühlingsbeginn und der Rückkehr der Sonne, wird Morė, die vorchristliche Todesgöttin, durch die Straßen gezogen und verbrannt. Fabelwesen, Hexen, Teufel – meist aus Holz – stehen auffallend häufig in litauischen Vorgärten oder Parks. Auch die christliche Geschichte verlief wechselhaft. Katholiken wechselten mit Orthodoxen, Protestanten und Atheisten, je nach den Herrschern, die mal aus Polen kamen, dann aus Skandinavien, Deutschland oder Russland.

      Ein Beispiel bietet die St.-Kasimir-Kirche in Vilnius, die abwechselnd protestantisch, orthodox oder katholisch war, in den Jahren sowjetischer Besetzung aber ein Museum des Atheismus. St. Kasimir, Sohn eines polnischen Königs und litauischen Großfürsten, kleidete sich in Pferdehaare statt in ein prinzliches Gewand, betete ständig und starb jung. Also wurde er heiliggesprochen. Sein Gedenktag prägt alljährlich im März die Straßen von Kaunas und Vilnius mit Buden, an denen Blumengebinde verkauft werden, meist aber kommerzieller Kitsch; früher, klagen Altvordere, sei alles individueller und schöner gewesen. Nur wenige Tage davor waren die Gassen ebenfalls voll mit Masken, Tänzern, Feuern: Die böse „Frau Winter“ wurde verbrannt. Hier wie oft in Litauen vermengen sich christliche und heidnische Elemente.

      Nicht alles ist von bösen Winterfrauen oder Teufeln geprägt. Auch das Gute im Menschen wird gefeiert, in den Tagen vor Weihnachten etwa in den vielen Galerien der Altstadt von Wilna. Eine Galerie am Engelsplatz, den selbst der Dalai Lama mit guten Wünschen besuchte, stellt nur Kunstwerke mit Engeln aus. Und in der Stadt Anyksciai, gut hundert Kilometer nördlich von Vilnius, gibt es ein Engelmuseum. Es wurde 2010 gegründet von einer aus dem amerikanischen Exil heimgekehrten Schauspielerin, die es als Gegenstück sieht zum von ihr verachteten Teufelsmuseum.

      Die wenig zerstörte Natur spielt eine Rolle bei dem Glauben an das Übersinnliche. Was für viele weiter im Westen befremdlich sein mag, vom Volksglauben über die Johannisnacht und dem „Hexenberg“ auf der Kurischen Nehrung bis zu den Wahrsagern, ist nicht wenigen Litauern, die umfassend erst vor 130 Jahren alphabetisiert wurden, selbstverständlich. Sagen sind Teil des litauischen Selbstbewusstseins. Die Holzschnittkunst kommt dem entgegen. Selbst große Gestalten des litauischen Geisteslebens wie der Maler und Komponist Mikalojus Konstantinas Ciurlionis – dessen hundertsten Todestag Litauen 2011 aufwendig feierte – beschäftigten sich in ihren Werken mit Kosmologie, Allegorien und Symbolen, mit dem Spirituellen.

      Quedlinburger Stiftsdamen ist zu verdanken, dass Litauen im Jahr 2009 nicht nur die Hauptstadt Vilnius als europäische Kulturhauptstadt feiern konnte, sondern, wichtiger noch für das Selbstbewusstsein, auch sein tausendjähriges Bestehen. Sie berichten in einem Eintrag zum Tod des Missionars Bruno von Querfurt, der Litauer zum Christentum bekehren wollte: „Der Heilige Erzbischof


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