Drei baltische Wege. Robert von Lucius

Drei baltische Wege - Robert von Lucius


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eingebüßt wurde. Nach einer größeren Offenheit nach dem EU-Beitritt sinkt nun wieder die Toleranzschwelle gegenüber Minderheiten unter dem Einfluss populistischer Politiker. Medien greifen das bereitwillig auf. Manche genießen die Überschaubarkeit: Fast alles kann man im Stadtzentrum zu Fuß erlaufen. Zudem ist man innerhalb einer Stunde an einem See zum Angeln. Viele empfinden die Menschen als warmherzig, freundlich – sie nehmen einen Fremden rascher und herzlicher als anderswo auf. Der Familienzusammenhalt ist groß, sichtbar nicht zuletzt im Herbst, wenn junge Menschen aus der Stadt auf die Höfe heimkehren, um ihrer Familie bei der Ernte zu helfen. Hier findet man offenbar leichter als anderswo den Weg zur Natur und inneren Ruhe.

      An der Prachtstraße Gedimino, die wie vieles andere aufwendig ausgebaut wurde, reihen sich Boutiquen mit großen italienischen oder französischen Luxusnamen auf. Viele sind leer, ihre Besitzer verdienen aber genug, wenn am Tag nur ein russischer Großkunde zu Besuch kommt. Stärker noch als Riga und Tallinn wächst Vilnius städtebaulich unaufhörlich. Auf der der Altstadt abgewandten Flussseite der Neris wird ein Hochhaus neben dem anderen gebaut, wo vor wenigen Jahren noch keines stand. Nicht nur das Bauwesen, die gesamte Wirtschaft wuchs in einem Tempo wie in wenigen anderen Ländern der EU – unter der Wirtschaftskrise litt dann aber wiederum die Bauwirtschaft am stärksten.

      So gleitend und schwer zu fassen wie das Stadtbild ist das Selbstverständnis von Vilnius: Es ist weder ganz Osten noch ganz Westen, ein wenig Skandinavien, ein wenig mehr Polen, etwas russisch und eine Prise deutsch.

      Unten im Keller werde alles authentisch sein, oben in den Museumsetagen aber symbolisch. Der Archäologe, der den Vornamen des Großfürsten Gediminas trägt, ist wie viele in Litauen Feuer und Flamme für den Wiederaufbau des Palastes der Großfürsten, der auch Königsschloss genannt wurde. Ein litauischer König hatte dort residiert und dann fast drei Jahrhunderte lang Großfürsten, die oft gleichzeitig Könige von Polen waren. Der Wiederaufbau – Gediminas bevorzugt als genauer Mensch den Begriff Atkūrimas, Wiederschöpfung – bewegt die Gemüter seit fünfzehn Jahren, stärker noch als etwa der Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. Die einen sehen hier den früheren und künftigen Mittelpunkt ihres Gemeinwesens, die anderen weisen auf die Wirtschafts­krise – bei knappen Mitteln sollten Steuergelder eher für sozialen Ausgleich eingesetzt werden. Für Besucher geöffnet werden soll das schon weitgehend fertiggestellte Schloss spätestens 2013, also deutlich vor dem Berliner Stadtschloss, obwohl die zeitlichen „Vorgaben“ – der Fall der Berliner Mauer und die Wiedererlangung der nationalen Souveränität Litauens – übereinstimmen und Litauen weit ärmer ist.

      Fast wie neu – der Palast des Großfürsten

      Gewiss ist nach dem Gang durch die Räume des Schlosses, dass es dann nicht nur der größte touristische Anziehungspunkt der Hauptstadt sein wird, sondern auch ein Ort der Besinnung für jene mit Sinn für Geschichte und einer Sehnsucht nach einstiger Größe. Von hier aus regierten die Schlossherren über das halbe Mitteleuropa. Litauen-Polen war damals das flächenmäßig größte Land Europas. Sie vermählten sich mit Prinzessinnen oder Prinzen aus Schweden, Österreich und auf Vermittlung des Papstes den italienischen Sforza (Herzog von Mailand), was dem Ausbau italienischen Glanz brachte. Sie sammelten hier kostbare Gobelins, Möbel, Bücher. Selbst jene Politiker, die in alljährlichem Ritual bei der Haushaltsdebatte im Parlament ein Auslaufen der Baumittel fordern, meinen das eigentlich nicht ernst – dies ist ein nationales Anliegen. Der Staat beginnt hier, sagt Gediminas. Der verstorbene frühere sozialdemokratische Präsident und Ministerpräsident Algirdas Brazauskas, Vorsitzender des Wiederaufbauausschusses, war ein glühender Verfechter des Baus. Er bedauerte, dass es Streit gebe – und weiterhin gibt – um den Palast. Er werde das Wissen um die Kultur des Landes bereichern und patriotische Gefühle wecken. Just vor diesen, einem romantisierenden Nationalismus, warnen wiederum Kritiker.

      Wer den Schlossbau betrachtet, bekommt das Gefühl, diese kleine Nation gehe durchdachter und vor allem realistischer heran als Deutsche, die sich um den Aufbau ihrer Schlösser in Berlin oder Braunschweig streiten. Dreizehn Jahre lang von 1987 an suchten zunächst Archäologen im Boden. Sie fanden neben Mauerresten vom dreizehnten Jahrhundert an um die 300 000 Artefakte. Dann beschloss das Parlament 2000 den Aufbau, der zwei Jahre später begann. Auch Parteien und Politiker, die anfangs skeptisch waren, fühlten sich an diesen Beschluss gebunden. Ein Jahrzehnt später scheint das meiste bereit. Selbst leere Vitrinen stehen schon und sechs prachtvolle Kachelöfen mit Familienwappen oder Skulpturen. Wie beim übrigen Vorgehen nutzte man die Kacheln, die man bei den Grabungen fand, nur als Vorlage für eine originalgetreue Nachbildung durch Fachleute. Die Originale werden in den Vitrinen ausgestellt werden. Der Fliesenboden, die Holzdecken, die Leuchter wurden jeweils nachempfunden der Periode, die die Räume haben. Wer durch den Palast geht, durchschreitet Stilperioden, in denen er Wandlungen erfuhr, von der Spätgotik über die Renaissance – der Höhepunkt der Macht- und Prachtentfaltung – bis zum Frühbarock und dem nordeuropäischen Manierismus.

      Für Besucher bereit – Kachelofen und Kandelaber im Palast

      Die originalen Mauerreste im Keller bleiben, wie sie waren. Sie können umwandert oder nachts erleuchtet durch Glasfenster von oben betrachtet werden, etwa bei Konzerten im Innenhof mit seiner bemerkenswerten Akustik. Der Palast wird nicht nur ein Museum sein. Er bietet auch ein museumspädagogisches Zentrum, eine Halle für Konzerte oder Seminare, eine Bibliothek oder, schon jetzt, eine Szene für Kulturprojekte oder für mittelalterliche Musik. Musik hat Tradition im Schloss: 1636 fand hier die erste Opernaufführung im Lande statt. Zudem hoffen die Träger – anfangs ein privater Verein, der Spenden sammelte und die Politiker antrieb –, dass dort Präsidenten wichtige Staatsdokumente zeichnen oder Gäste empfangen. Die Präsidentin Dalia Grybauskaitė dringt auf einen raschen Bauabschluss – der Palast sei unerlässlich für die Zeit der litauischen EU-Präsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2013. Schon zur offiziellen und eher symbolischen Eröffnung 2009, als Vilnius Europäische Kulturhauptstadt war und ganz Litauen sein Millenniumsjubiläum feierte, kamen Staatschefs aus dem Norden und dem Osten Europas – wohl nicht oft dürften 15 Monarchen, Präsidenten und Regierungschefs zur Eröffnung eines unvollendeten Gebäudes kommen. Sie wurde auf den 6. Juli gelegt – den Jahrestag der Krönung von König Mindagaus im Jahr 1253, der als Gründer des ersten litauischen Staates gilt.

      Die Großfürsten von Litauen, das Gediminiden-Jagiellonen-Geschlecht, regierten zeitweise gleichzeitig Polen. Die Erforscher der Wieder-Schöpfung suchten – da es wenige Abbildungen gibt vom Inneren des ursprünglichen Palasts – Bauvorbilder in anderen Schlössern und Burgen der Jagiellonen, vor allem in der polnischen Königsburg Wawel in Krakau. Polen und Litauen sind nicht nur durch die gemeinsame Dynastie und Geschichte verbunden, sondern auch durch den katholischen Glauben, den barocken Baustil, und durch ähnliche Traditionen. Beim Aufbau nutzten die Handwerker und Architekten polnische Hilfen und Erfahrungen auch beim den Bau erschwerenden Grundwasser, der Burgbereich war von zwei Flüssen umgeben. Absenken kann man es nicht, da der Palast teils auf Eichenpfählen steht, die das Grundwasser brauchen. Die Mauern mussten dem Vorbild angenähert dick ausschauen. So fügte man in das hohle Innere der Außenmauern Klimaanlagen ein und Leitungen.

      Die Planer des Palastes orientierten sich an anderen Schlossrekonstruktionen. In wissenschaftlichen Konferenzen und mit wechselseitigen Besuchen beobachteten sie Vorhaben in Warschau und Königsberg, Dresden und München, in Italien und Ungarn. Die Planer des Berliner Stadtschlosses kamen nach Vilnius und interessierten sich für die Einbeziehung authentischer Elemente und die Verwendung von Originalstücken: Berlin wollte von Vilnius lernen. Die Zahl der Bücher zum Palast, zuletzt um die zehn jährlich, ist erstaunlich.

      Der vierstöckige Palast ist Mittelpunkt eines ausgedehnten Komplexes, der den Dom, die Oberburg auf dem Hügel, das Nationalmuseum und andere Paläste einbezieht. Die Burg war vom vierzehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert die wichtigste Residenz der Großfürsten, deren Namen viele Litauer als Vornamen tragen – Gediminas,


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