Drei baltische Wege. Robert von Lucius

Drei baltische Wege - Robert von Lucius


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der Pipeline ausgegrenzt und hintergangen, auch von Deutschland. Erstere zielten vergeblich darauf, dass aus Gründen der Umwelt, der Kosten, der Sicherheitspolitik, die Leitung über ihr Gebiet geführt werde statt unter Wasser; oder zumindest, dass eine Stichleitung in die baltischen Länder auch sie mit Erdgas hätte versorgen können. Das ist nun Geschichte.

      Neben dieser Erdgas-Pipeline-Strategie gibt es weitere Einflussversuche Moskaus, die sich auf die Lage in Riga und Vilnius ungut auswirken. Zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen der baltischen Länder zählt seit jeher die Energie. In Litauen stand nicht nur das größte Kernkraftwerk Europas, das wegen Sicherheitsbedenken unter EU-Druck abgeschaltet wurde, sondern auch die größte Erdölraffinerie der Region. Sie hing ab von Öl und Erdgas aus Russland. Die Häfen in Lettland, Estland und Litauen spielten für den russischen Erdgas- und Erdölexport in den Westen eine zentrale Rolle und brachten Deviseneinkünfte. Der einzigen Raffinerie aber schnürte Russland die Versorgung ab. Die Häfen wurden geschwächt, indem Russland die Verladung seines Erdgases auf russische Häfen am Ende der Ostsee verlagerte, obwohl das kostenträchtiger und umweltpolitisch weit gefährlicher ist angesichts der Vereisung der Ostsee in langen Wintern und des kreuzenden Fährverkehrs zwischen Tallinn und Helsinki. Das lettische Ventspils, früher Windau, und das litauische Klaipeda, früher Memel, wurden abgeschnürt.

      Moskau beließ es nicht bei dieser erpresserischen Erdgas- und Hafendiplomatie. Es nutzte und nutzt auch seinen Einfluss über seine Energielobby in Litauen und Lettland, ihr gefällige Politiker und Parteien zu beeinflussen und möglicherweise zu „kaufen“. So geraten Lettland und Litauen in den Geruch der Bestechlichkeit, was ihr Ansehen als verlässliche Partner schmälert. Es gibt kaum einen gewichtigen Fall von Korruption, in den nicht Gelder und Interessen aus dem östlichen Nachbarland einbezogen sind. Zum anderen wird die innenpolitische Lage in den baltischen Ländern durch diese Unterwanderungsversuche unstabiler. Bisher änderte das wenig an der Ausrichtung: Alle drei Länder sind Musterbeispiele der Marktwirtschaft und der Westorientierung und haben überwiegend bürgerlich-liberal-konservative Koalitionsregierungen. Das aber kann sich ändern. Litauen war zeitweise von populistischen Parteien geprägt; Lettland erlebt unziemlichen Einfluss sogenannter Oligarchen auf mehrere Parteien und damit auf die Regierung; Estland hat seit vielen Jahren eine beständigere Politik mit stabilen Regierungen. Die Jahre, in denen die baltischen Staaten Vorbild für viele waren und sich ungebrochen auf Europa stützten, liefen aus, vor allem dank des russischen Einflusses. Dieser kann über Lettland oder Litauen auch nach Brüssel Eingang finden.

      Zwei Jahrzehnte lang sind Lettland und Estland nun freie Nationen und Litauen schon etwas länger. Unmittelbar nach dem später gescheiterten Putschversuch gegen den sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow hatten Estland und Lettland ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt. Die Erklärung des estnischen Parlaments kam am Abend des 20. August 1991, die Lettlands am 21. August. Unter den Ersten, die die Unabhängigkeit diplomatisch anerkannten, war – nach Island – Deutschland, das wenige Tage später Botschafter in die drei baltischen Staaten sandte. Nachdem der russische Präsident Boris Jelzin Estland und Lettland am 24. August als unabhängige Staaten anerkannt hatte, folgte die Sowjetunion Anfang September.

      Litauen war Vorreiter als das erste Land, das seine Unabhängigkeit wiederherstellte. Im Jonglieren zwischen Anpassung und ­Widerstand ging die wohlhabendste der früheren Sowjetrepu­bliken in den Jahren der Unterdrückung einen ehrenhaften Weg. In seiner Führung agierten auch vor 1990 eher als anderswo im sowjetischen Einflussbereich national eingestellte Politiker und weniger Anpasser und Karrieristen. Daher war die Loslösung von Moskau nach 1990 anfangs blutiger, dann aber klarer als in den anderen baltischen Staaten. So hat Russland zu Litauen nun ein spannungsfreieres Verhältnis als zu Lettland und Estland, zumal dort der Anteil Russischsprachiger in der Bevölkerung weit niedriger ist als in Lettland und Estland. Das Grundmisstrauen in den baltischen Staaten gegenüber Moskau aber blieb in Vilnius ebenso wie in Riga und Tallinn.

      In den folgenden Beiträgen werden diese historischen, geostrategischen, kulturellen Momente angesprochen, die die baltischen Länder prägen. Teils sind das (aktualisierte oder ergänzte) Analysen oder Reportagen, die im letzten Jahrzehnt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen – der Autor war von 2001 an von Stockholm aus als Auslandskorrespondent häufig dort, auch nach seinem Wechsel nach Hannover. Dazu kommen zahlreiche verbindende und ergänzende Beiträge. Soweit es an einigen Stellen kurze Doppelungen gibt, soll das der Lesbarkeit und dem inneren Zusammen­hang dienen. Drei Bildteile des Berliner Fotografen Dirk Bleyer sollen die Anschaulichkeit stärken; die eingestreuten Fotos im Text stammen dagegen vom Autor.

      Dabei geht es weniger um Tagespolitik oder wirtschaftliche Analysen denn um die Wandlungen von Kultur und Gesellschaft, um Selbstverständnis und Aufbruchstimmung. Bewusst wurde die Darstellungsweise eines Mosaiks beibehalten: Schilderungen einer Fahrt durch das alte Kurland und dessen Spuren aus der Sowjetzeit oder über Schriftsteller und Musiker, die in den Jahren der Besetzung Widerstand leisteten, geben Einblicke in eine Gesellschaft, die uns nahe ist und doch besonders. Wer diese bereist (oder sich „erliest“), wird sich, wie der Autor, dem Faszinosum wohl nur schwer entziehen können.

      Litauen

      Großfürsten und Breitband

      Deutschbalten von Schrot und Korn sagen schon mal, Litauen sei ja eigentlich nicht ein baltisches Land. Wer in Vilnius Regale der Buchhandlungen durchstöbert oder Namen von Verlagen oder Firmen anschaut, hat aber das Gefühl, der Oberbegriff Baltisch werde in Litauen weit häufiger benutzt als in Lettland oder Estland. Richtig ist zumindest, dass Litauen, in dem ebenso viele Menschen leben wie in Lettland und Estland zusammen, sich von den beiden Nachbarn im Norden nach Geschichte, Konfession, Denkweise abhebt und in der politischen Ausrichtung: Estland nach Norden, Litauen nach Süden. Lettland, das sprachlich Litauen näher ist als Estland, liegt irgendwo dazwischen. Am weitesten voneinander entfernt nicht nur geografisch sind Estland und Litauen: Estland lebt mit seinem Jugendkult und der Ausrichtung auf neue Technologien von der Zukunft, Litauen zehrt mehr als es ihm gut tut von seiner glorreichen Vergangenheit, als in Vilnius im vierzehnten Jahrhundert mit den Großfürsten zeitweise die Herrscher des größten Staates Europas residierten. Die Unterscheidung gilt aber nur teils, sichtbar an den neuen Technologien. Kein anderer Staat Europas ist in der Dichte seiner Breitbandanbindung auf dem Lande weiter, nicht Estland und erst recht nicht Deutschland.

      Litauen konnte die Wirtschaftskrise besser überstehen als Lettland und Estland. Es hatte als Einziger schon aus der Sowjetzeit eine breite industrielle Basis – der Anteil in der Industrie Beschäftigter lag bei dessen EU-Beitritt in Litauen höher als in Deutschland. Dennoch ist im Land mit den meisten Regentagen im Jahr in ­Europa das Gefühl der Schwermut und der Traurigkeit ausgeprägter als anderswo. Nirgends anders in der Welt ist die Selbstmordrate so hoch. Die durchschnittliche Lebenserwartung – bei Männern 61, bei Frauen 68 Jahre – ist niedriger als anderswo in Europa, und sie sinkt noch. Ein Psychiater berichtet, die Trunksucht sei stark, und sie breite sich vor allem in der Jugend aus. Dabei unterscheidet sich die Jugend in manchem von den Älteren. Sie richtet sich stärker auf westliches und eigenständiges Denken und an dessen Werten aus; ist toleranter gegenüber jenen, die anders denken oder leben; und wendet sich innerlich ab von der katholischen Kirche. Weinrestaurants ergänzen Bierkneipen, und traditionell rücksichtslose Autofahrer achten nun auf Fußgänger – sanfte Anpassungen sind überall spürbar. In der älteren Generation nahm die Unduldsamkeit, die Hetze gegen Minderheiten nach dem EU-Beitritt dagegen eher zu. Sichtbar nach außen werden aufstachelnde laute Redner, so einige populistische Abgeordnete. Andere melden sich wenig zu Wort, eher aus Resignation denn aus Feigheit3

      Das geht einher mit einer Missachtung von Parteien, Politikern, dem Parlament, den Gerichten – eine Ausnahme ist nur die weit geachtete Präsidentin. Zum anderen kam, nach Jahren kreditfinanzierten Ausgabenrausches, ein Rückzug ins Private, in eine Datschen-Mentalität. Nur wenige beteiligen sich am öffentlichen Gespräch, die große Linie geht verloren. Stattdessen zieht man sich zurück ins Sommerhäuschen in den Kreis der Familie und Freunde. Die Zeit des Aufbruchs ist vorbei, als Jazz oder alternative Rockgruppen wie „Antis“ in den Jahren um die Wende 1990 herum Tausende anzogen und zum Symbol der Eigenständigkeit wurden. Basketball übernahm die Rolle


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