Drei baltische Wege. Robert von Lucius

Drei baltische Wege - Robert von Lucius


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nicht, „aber doch ganz interessant“. Der Leiter einer Staatsbehörde, die Investitionen nach Litauen ziehen soll, hätte in anderen Ländern vielleicht seine Heimat schnittiger und forscher angepriesen. Überzeugt hätte er damit aber vermutlich weniger als der Gesprächspartner, der nicht aufschneiden will. Das ist auch nicht die Art der Litauer. Aufgeregt und patriotisch werden sie nur, wenn der dreifache Europameister im Basketball gegen die Amerikaner siegt, selten genug, oder er 2011 erstmals seit 1939 die Europameisterschaft selber wieder ausrichtete. Dann sind die sonst beschaulichen Straßen bis spät nachts von gelb-grün-rot fahnenschwingenden Jugendlichen gesäumt im vermutlich einzigen Land, das dem Nationalspiel ein sechs Meter hohes Denkmal widmet, eingeweiht 2007 vom damaligen Präsidenten. Anders als andere Nationen des östlichen Mitteleuropa brauchen Litauer nicht zu protzen, weil sie wissen, wer sie sind, und vor allem, wer sie waren: im Mittelalter das Zentrum eines litauisch-polnischen Doppelreichs, das weite Teile Mitteleuropas beherrschte. Mehr als 200 Kirchen belegten den Beinamen „Rom des Nordens“. Und bis zum Zweiten Weltkrieg auch das geistige Zentrum des liberalen osteuropäischen Judentums, das „Jerusalem des Nordens“. Aus dieser Zeit ist viel übriggeblieben, nicht nur die barocke Bausubstanz der zum Weltkulturerbe ernannten Altstadt, die einst das jüdische Ghetto umfasste, sondern auch eine Geisteshaltung. Vielleicht auch, weil man insgeheim weiß, dass man anders als Reval oder Riga nicht einst von Kolonialherren aus dem Westen gegründet und ausgebaut wurde, sondern „authentisch“ von Litauern.

      In Vilnius konzentriert sich kultureller Reichtum vom Jazz bis zur Bildhauerkunst. Letztere treibt bizarre Blüten – viele Litauer haben Sinn für das Absurde und Hintergründige – mit dem ersten Denkmal der Welt für den Rockmusiker Frank Zappa oder einem verschrotteten Stalin-Büsten gewidmeten Park. Da scheint der alte Stein noch fast unscheinbar, der einige Kilometer außerhalb von Vilnius steht an dem Ort, den das Französische Nationale Geographische Zentrum als den Mittelpunkt Europas berechnete. Vor einigen Jahren noch war er schwer zu finden, jetzt aber haben Litauer dem Fremdenverkehr ihren Tribut gezollt mit einer Säule, einer Imbissbude und mehrsprachigen Erläuterungsschildern. Darauf fehlt allerdings der Hinweis, dass auch andere Städte – etwa in der Slowakei und der Ukraine – diesen Anspruch erheben. Beispiele für dies Verspielte ist zum einen der Künstlerstadtteil Užupis, der sich zur unabhängigen Republik ernannte mit eigener Flagge und eigenem Präsidenten. Deren Verfassung legt in ihren 41 Punkten fest, jeder habe das Recht, faul zu sein oder eine Katze zu lieben. Zum anderen eben die Zappa-Statue auf einem vier Meter hohen Sockel. Zappa war der aufsässigen Halbjugend im ehemaligen Ostblock ein Vorbild, weil er sich gegen das „Establishment“ auflehnte. Dabei war der Rockmusiker nie in Vilnius, und seine angebliche Absicht, kurz vor seinem Tod hinzufahren, ist nicht belegt. Und der Bildhauer hatte sich vor seiner Zappa-Statue auf Büsten Lenins und andere Helden der Revolution konzentriert.

      Die Feiern im Jahr 2009 zur ersten Nennung des Landesnamens tausend Jahre zuvor und zeitgleich als Kulturhauptstadt Europas litten ebenso unter Geldnot wie Gedankenspiele, ein „Vilnius Guggenheim Hermitage Museum“ zu errichten und dort Sammlungen zeitgenössischer Kunst zu zeigen, auch aus der Eremitage in Sankt Petersburg und dem New Yorker Guggenheim. Vilnius ist eine Stadt der Statuen und der Kirchen. Dazu zählt der vor 200 Jahren zerstörte, 2009 zur „Jahrtausendfeier“ Litauens symbolisch wiedereröffnete „Königliche Palast“ neben dem Dom. Die Grundlage zur Unabhängigkeit legte die Schlacht bei Tannenberg und Grunwald (Zalgiris auf Litauisch) 1410 zwischen Polen, Litauen und dem Deutschen Orden – in Deutschland eine historische Fußnote, in Vilnius Anlass einer Großausstellung.

      Nicht ein Prachtbau, aber prachtvoll ist die St.-Anna-Kirche. Wie klein sie im Inneren ist – nicht einmal zwanzig Meter lang und neun Meter breit –, vermag nicht zu glauben, wer vor ihr steht: St. Anna wirkt gerade durch ihre Verspieltheit und Formenvielfalt. Weithin gilt sie als Meisterwerk spätgotischer Backsteingotik und als eine der schönsten Kirchenbauten Nordosteuropas. Als Napoleon in Vilnius war, soll er gesagt haben, er würde diese Kirche gerne auf seiner Handfläche nach Paris tragen. Ansonsten waren die Erinnerungen Napoleons an Vilnius weniger gut als die der Hauptstadtbewohner an ihn. Nach seinem Durchmarsch durch die Stadt auf dem Wege nach Moskau kam eine Phase liberaler Reformen – in der Sozialpolitik wie in der Kultur. Auf dem Rückmarsch der geschlagenen napoleonischen Armee dagegen litten Soldaten und sie begleitende Handwerker an Entbehrung, Hunger, Kälte. Erst vor wenigen Jahren wurde in einem Vorort von Vilnius entdeckt, dass dort um die 80 000 Menschen begraben wurden, eines der größten Massengräber der Napoleonzeit und wohl auch insgesamt. Mehrfach gingen von dieser Kirche historische Impulse aus, etwa die Reformation in Litauen oder 1987 die ersten Bewegungen zur neuerlichen Unabhängigkeit Litauens. Erstmals schriftlich erwähnt wurde St. Anna 1501 in einer Bulle Papst Alexanders VI. 33 eigens gebrannte Backsteinformen wählte der Baumeister, der später in Warschau, Danzig und Königsberg tätig war, vor fünf Jahrhunderten. Geschwungene hochstrebende Ziertürme, Erker und die hohen Fenster geben St. Anna eine seltene Leichtigkeit, einer der Höhepunkte im Stadtkern, den nicht nur die Touristenwerbung als „größte zusammenhängende und besterhaltene Altstadt Europas“ rühmt.

      Vilnius ist multinational und multikulturell – 57 Prozent der gut eine halbe Million Bewohner sind Litauer, jeder Fünfte ist Pole. Russen stellen 14, Weißrussen vier Prozent – Deutsche gibt es wenige. Vorbehalte gegen Deutsche gibt es nicht, trotz der Jahre nationalsozialistischer Besetzung, als innerhalb von zwei Jahren viele Zehntausend Menschen, 90 Prozent der jüdischen Bewohner, und ein Teil des geistigen Erbes ausgelöscht wurden. Viele sprechen noch Deutsch, vor allem nahe der Ostsee und an den Grenzen zum alten Ostpreußen. In Vilnius gibt es eine deutschsprachige Online-Zeitung, einen deutschsprachigen evangelischen Gottesdienst und gleich mehrere deutschsprachige Stammtische, zudem die Deutsch-Baltische Handelskammer und das Goethe-Institut. In der Buchhandlung im Innenhof der traditionsreichen Universität stehen viele Dutzend ins Litauische übersetzte Werke deutscher Literatur, angefangen mit „Thomas Mannas“, der nahebei auf der Kurischen Nehrung seine Sommer schreibend verbrachte. Litauisch zu lernen ist nicht einfach für Besucher, die nur kurz bleiben wollen, trotz sprachlicher Nähe: Es ist die ursprünglichste überlebende indogermanische Sprache, nahe nicht nur dem Sanskrit, sondern auch dem Altpruzzischen (Altpreußischen).

      Unter den baltischen Staaten ist Litauen der größte (und der einzige, in dem sich nicht fast alles auf die Hauptstadt konzen­triert). Er zieht die meisten Investitionen aus Deutschland an sich: Zahlen schwanken je nach Zählweise zwischen 900 und 1 200 Unternehmen mit deutscher Beteiligung, auch wenn einige Banken und Konzerne sich zurückzogen und ihre Anteile nordischen Gruppen verkauften. Neben den großen Investoren – in Gasvertrieb, Banken, Versicherung und Elektronik – stellen mittelständische Unternehmen Fahrräder her oder Autoteile, auch Holzhändler und Holzverarbeiter gibt es mehrere. Einige Deutsche sind Berater in Fabriken, Rechtsanwälte, Geschäftsführer von Diskotheken, Deutschlehrer oder Dozenten an den Hochschulen, oft junge und unternehmensfreudige Leute.

      Nicht alles ist für Übergesiedelte einfach: Die Geltung der Krankenversicherung ist lückenhaft und das staatliche Krankenhauswesen noch von den Sowjetjahren geprägt, auch wenn sich vieles verbessert hat. Wer eine Operation oder eine schwierige Behandlung vor sich hat, tut gut daran, nach Deutschland zu fliegen oder dem Arzt als „Geschenk“ einen Umschlag mit einigen Scheinen zu geben, um Termine zu erhalten – viele Ärzte empfangen nur noch Privatpatienten. Eine vergleichende europäische Untersuchung befand, Litauen habe das am wenigsten „benutzerfreundliche“ Gesundheitssystem aller EU-Länder. In öffentlichen Krankenhäusern sind die ohnehin niedrigen Gehälter seit der Wirtschaftskrise mindestens zweimal gesenkt worden, Schwestern und Ärzte verlassen das Land. Zumindest die Mieten können sich viele Litauer ersparen: Meist gehören Häuser und Wohnungen den Bewohnern. Sie sind ebenso leicht zu kaufen wie zu mieten, zumal die Stadt mit 560 000 Menschen ständig Einwohner verliert. Für Unternehmer mit viel Handfertigung im Produktionsablauf ist Litauen dank niedriger Lohnkosten und Steuern ein günstiger Standort. In kaum einem anderen Land der EU dürften die Lebenshaltungskosten so niedrig sein. So kann man bei einem für westliche Verhältnisse niedrigen Gehalt gut leben, zumal das Angebot von Restaurants und Cafés ebenso breit wie gut ist. Mühsam und zeitraubend ist, nicht nur für Zugewanderte, die Bürokratie. Unerträglich wird es, wenn man mit dem Migrationsamt zu tun hat – manches scheint willkürlich.

      Ganz die Lebendigkeit Rigas hat Vilnius nicht, die katholische


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