Germanias Vermächtnis. Swen Ennullat

Germanias Vermächtnis - Swen Ennullat


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des Bauches wohl zu kräftig – war. Bei einem Pferd würde man sagen, es stehe gut im Futter und bräuchte dringend Bewegung. Der Professor trug sein Übergewicht aber mit Würde. Es passte zu ihm und der Lebensfreude, die er ausstrahlte.

      Professor Meinert forderte sie sogleich auf, ihm ins Wohnmobil zu folgen, das trotz der Nachmittagshitze noch angenehm temperiert war.

      Im Innenraum dominierten Beigetöne und durch die großen Fenster wirkte das Fahrzeug hell und freundlich. Einige der auch hier herumliegenden, handschriftlichen Aufzeichnungen und Folianten warf der Professor kurzerhand in die Spüle und mehrere Tablettenpackungen landeten achtlos in einer Schublade, um für seine Gäste ausreichend Platz zu schaffen. Fünf Erwachsene gleichzeitig aufzunehmen, stellte für das Wohnmobil nämlich eine größere Herausforderung dar. Und so presste sich wenig später Torben gemeinsam mit Julia, Levitt und dem Professor in die enge Sitzbank neben der Kochnische. Mosche hatte inzwischen die Aufgabe übernommen, Gertrud zu verwöhnen, und setzte sich mit ihr auf die Liegefläche eines der schmalen Betten, wo er trotzdem noch bedeutend mehr Platz als die anderen hatte. Torben schien die Enge aber wenig zu stören, nicht nur, weil es ein guter Vorwand war, sich an Julia zu schmiegen, sondern auch, da er sich so sehr freute, den Professor wiederzusehen.

      „Zuallererst George, was um aller Welt machen Sie hier?“ Während er fragte, deutete Torben mit einer Hand durch die Fenster nach draußen.

      Professor Meinert lachte: „Sie wollen wissen, was ich schon wieder in Thüringen suche?“

      Torben nickte. Ihr Weg hatte sie tatsächlich erneut in das ostdeutsche Bundesland geführt. Als ihm Levitt das angekündigt hatte, glaubte er für einen kurzen Moment, dass der Professor vielleicht versuchen würde, doch noch in den ausgebrannten Bunker im Leinawald vorzudringen, in dem damals Meisterin Rema ums Leben gekommen war. Hier irrte er jedoch gewaltig, denn der Eingang zum Bunker war nicht nur längst verschlossen, sie befanden sich mittlerweile mehr als hundert Kilometer östlicher in einer kleinen Talsohle am Fuße der Burg Gleichen, einer mittelalterlichen Burgruine bei Wandersleben südöstlich von Gotha. Gemeinsam mit den wenige Kilometer entfernten Burganlagen Veste Wachsenburg bei Holzhausen und der Mühlburg bei Mühlberg gab sie einem bekannten mittelalterlichen Burgenensemble seinen Namen. Die sogenannten Drei Gleichen ragten aus dem Hügelland des Thüringer Beckens nicht nur weit sichtbar heraus, sie schienen auch die Spitzen eines riesigen Dreiecks zu bilden.

      „Genauso wie Sie, mein Freund“, sprach der Professor inzwischen weiter, „brauchte ich nach unseren letzten Erlebnissen – sagen wir einmal – etwas Ablenkung. Und da uns ja die Behörden aus Gründen der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zum Stillschweigen verpflichtet haben, was nicht heißt“, er flüsterte den nächsten Teil des Satzes, „dass ich nicht trotzdem alles aufschreibe, um es vielleicht später einmal zu veröffentlichen, habe ich unseren Freund Levitt um eine kleine Gefälligkeit gebeten.“

      „Kleine Gefälligkeit ist gut!“, warf der Mossad-Agent daraufhin ein. „Ich musste einen erbitterten Kampf mit dem deutschen Verwaltungsapparat führen.“

      „Aus dem Sie als strahlender Sieger hervorgegangen sind!“, erwiderte der Professor anerkennend und wieder mit lauterer Stimme. „Denn normalerweise benötigt man mehrere Jahre, nicht einige Wochen, um die erforderlichen Erlaubnisse und behördlichen Genehmigungen für archäologische Ausgrabungen in Deutschland zu erhalten. Von der Frage der Finanzierung will ich gar nicht sprechen. Vielen Dank nochmals!“

      Just in diesem Moment ging die Tür des Wohnmobils auf und eine schlanke junge Frau in kurzer Khaki-Hose und eng anliegendem T-Shirt kam herein. Ihr Erscheinen sorgte dafür, dass Mosche wieder sein mittlerweile berühmtes strahlend-weißes Lächeln zeigte, das jeden dafür verantwortlichen Zahnarzt mit Stolz erfüllt hätte, sich aufrecht hinsetzte und Gertrud für ihn augenblicklich uninteressant wurde.

      Eine ähnlich freudige Erregung ergriff den Professor und er sagte: „Ah, da bist du ja! – Darf ich vorstellen, Annabell Siewert, meine Tochter! – Anna, das sind meine Freunde, von denen ich dir erzählt habe – Julia Hartwig, Torben Trebesius, Simon Levitt und Mosche Shalev.“

      Mit einem freundlichen „Hallo“ nickte sie jedem kurz zu und setzte sich dann neben den nun noch breiter grinsenden Mosche auf das Bett. Torben schätzte sie auf Mitte zwanzig. Der Professor musste sehr spät Vater geworden sein. Sie trug ihre blonden Haare modisch kurz und hatte eine kleine Stupsnase, auf der sich etliche Sommersprossen abzeichneten, mit denen sie irgendwie frech wirkte. Sie war Torben sofort sympathisch.

      „Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Tochter haben, George. Und dann noch eine so hübsche!“, wandte er sich dem Professor augenzwinkernd zu, was ihm erneut von Julia einen kleinen Stoß in die Nierengegend einbrachte.

      „Ich stamme aus seiner dritten Ehe. Meine Mutter und er …“

      Weiter kam Annabell nicht, denn ihr Vater unterbrach sie: „Ach, wen interessiert das schon. Wo war ich vorhin? – Ach ja, mein kleines Ausgrabungsvorhaben.“

      „Unser kleines Ausgrabungsvorhaben!“, verbesserte ihn seine Tochter sanft.

      „Ja, ja, natürlich unsere Expedition. Du hast ja Recht. – Sie müssen wissen, Anna ist das schwarze Schaf der Familie und hat darauf bestanden, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Allerdings interessiert sie sich mehr für das Mittelalter.“

      Anna präzisierte: „Frühmittelalter, um genau zu sein.“

      „Von mir aus auch Frühmittelalter!“ Der Professor konnte es augenscheinlich überhaupt nicht leiden, ständig unterbrochen zu werden, und bedachte seine Tochter mit einem tadelnden Blick. Sie ignorierte dieses Zeichen jedoch und sprach längst weiter: „Man kann sagen, dass das Frühmittelalter im späten 6. Jahrhundert mit dem Ende der Völkerwanderung beginnt. Es ist von der Christianisierung und dem Aufstieg und Fall des Frankenreichs geprägt. Sie werden es vermutlich mit den Adelsgeschlechtern der Merowinger und Karolinger verbinden. Es endet etwa Anfang des 10. Jahrhunderts.“

      „Danke, Annabell!“ Die Stimme des Professors klang mittlerweile etwas gereizt. Ein Lächeln seiner Tochter ließ den alten Mann aber schnell wieder dahinschmelzen und sein aufkeimender Unmut verflog. Torben vermutete, dass sie ganz genau wusste, wie weit sie bei ihrem Vater gehen konnte, ohne dass er tatsächlich böse auf sie wurde.

      Julia schien an der Szene viel Spaß zu haben und hakte beim Professor nach: „Und was machen Vater und Tochter hier gemeinsam in dieser Einöde?“

      Diesmal gelang es dem Professor tatsächlich, vor seiner Tochter zu antworten, denn er erklärte schnell: „Ganz einfach, wir suchen die Heilige Lanze! – Sie brauchen gar nicht so ungläubig zu schauen. – Erinnern Sie sich bitte! Als wir in Wien waren und nach einem weiteren Hinweis auf den Orden dieser elenden Priesterinnen gesucht haben, wurde uns zwar die Heilige Lanze mitsamt dem Reichskreuz, in dem sie früher transportiert wurde, vorgelegt, gleichzeitig haben wir jedoch auch erfahren, dass es sich dabei nur um eine Nachahmung handelte. Laut metallurgischen Untersuchungen konnte die in der Hofburg ausgestellte Lanze erst im 8. Jahrhundert angefertigt worden sein. Im Übrigen ist sie ja die Spitze einer karolingischen Flügellanze ohne Schaft, wie sie im Frühmittelalter bis etwa 1200 verwendet wurde. Verstehen Sie? Im Frühmittelalter!“

      „Dann suchen Sie die Originallanze?“ Torbens Überraschung war nicht gespielt. „Und Sie vermuten sie hier?“

      „Ganz recht, mein Freund! Was ich nicht wusste war, dass sich Anna schon während ihres Studiums intensiv mit diesem Thema beschäftigt hatte. Als ich von unserem letzten Abenteuer zurückkehrte und ihr verbotenerweise davon berichtete, wurde sie sofort hellhörig. Sie konnte mich davon überzeugen, dass das Originalrelikt wahrscheinlich hier verloren ging. Die Zeit war günstig, die Behörden, unter Zuhilfenahme von dem guten Levitt hier, um einen Gefallen zu bitten. Und so haben wir vor zwei Wochen mit etwas mehr als einem Dutzend Freunden, Studenten und wissenschaftlichen Hilfskräften angefangen, im Dreck zu wühlen.

      Sie haben bestimmt die anderen zwei Burgen auf ihrer Anreise gesehen. Gemeinsam mit der Burg Gleichen, an deren Fuß wir uns gerade befinden, wurden alle zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert errichtet. Sie waren aber immer in der Hand unterschiedlicher Besitzer.


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