Germanias Vermächtnis. Swen Ennullat

Germanias Vermächtnis - Swen Ennullat


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entfernt. Er thronte weithin sichtbar fünfundzwanzig Meter über der Stadt auf dem Schlossberg, einem steilen Sandsteinfelsen, wo er gemeinsam mit den Wohngebäuden des ehemaligen Frauenstiftes ein eindrucksvolles Bauensemble bildete. Ihr Führer, ein Mann von Mitte fünfzig mit graumeliertem, schon lichtem Haar, Nickelbrille und nach oben gerichteter Nase, was ihm – wie Torben fand – einen leicht arroganten Ausdruck gab, hatte sich ihnen als Herr Semmler vorgestellt und mit stolz geschwellter Brust erklärt, ein Kind Quedlinburgs zu sein und die Stadt noch nie länger als drei Monate verlassen zu haben.

      Anerkennend musste Torben zugeben, dass er seine Sache recht gut machte. Semmler war keine dieser Aushilfen, die aus Geldmangel oder Selbstüberschätzung jeden nur denkbaren Job annahmen. Er liebte seine Stadt, kannte jede noch so verwinkelte Ecke und war in der Geschichte des Ortes ziemlich bewandert.

      Auf dem Burgberg, im Schatten der beiden riesigen quadratischen Türme der Kirche erzählte ihnen Semmler, dass Quedlinburg im 8. Jahrhundert Sitz der Liudolfinger, auch Ottonen genannt, einem sächsischen Adelsgeschlecht war, aus dem unter anderem König Heinrich der Erste hervorging. Dieser war es auch, der die Stadt Anfang des 10. Jahrhunderts zur einflussreichsten Pfalz des Reiches ausbaute, nicht zuletzt, weil er sie regelmäßig zum bedeutenden Osterfest besuchte.

      Torben und seine Freunde erfuhren, dass der König nach seinem Tod im Jahre 936 sogar hier beigesetzt wurde. Zu seinen Ehren gründeten seine Witwe Mathilde und sein Sohn, der später zum Kaiser gekrönte Otto der Große, an der Grabstätte noch im gleichen Jahr das Damenstift St. Servatius.

      Aus seinen früheren Abenteuern wusste Torben, dass Mathilde nicht nur Nachkommin eines alten germanischen Fürstengeschlechts, sondern wahrscheinlich auch Angehörige des ihnen feindlich gesinnten Ordens war, und dass sie Heinrich dem Ersten bewusst zugespielt wurde, um ihn mit der jugendlichen Unschuld eines dreizehnjährigen Mädchens zu verführen, ein Vorhaben, was letztendlich gelang. Der wesentlich ältere König ließ die Ehe zu seiner ersten Ehefrau annullieren und wandte sich Mathilde zu.

      Semmler sprach derweil weiter und berichtete, dass es in den folgenden Jahrhunderten Brauch wurde, dass die ottonischen Herrscher das Osterfest in St. Servatius begingen und dort ihrer Vorfahren gedachten. Die eigentliche Stiftskirche entstand aus der Burgkapelle der Königspfalz. Nach einer Bauzeit von vierundzwanzig Jahren wurde dieses Kleinod – wie ihr Führer sich ausdrückte – hochromanischer Baukunst 1021 fertiggestellt und im Beisein des Urenkels Heinrich des Ersten, des Kaisers Heinrich des Zweiten, geweiht.

      Spätestens ab hier wurde es für Semmler zunehmend anstrengend, wenn nicht gar unangenehm, denn die Einwürfe des Professors und seiner teilweise noch besser in dieser Zeitepoche bewanderten Tochter Annabel ließen ihn schnell die Grenzen seines Wissens erkennen und so führte er seine Kunden zügig in das Innere der Kirche, um weitere Nachfragen zu umgehen.

      Torben hatte sich indes, schon als sie vor dem Sakralbau standen, vielmehr für die Architektur der Kirche als für die Ausführungen des Guide interessiert und ihre schlichte und doch erhabene Form bestaunt. Jetzt im Mittelschiff stehend, erkannte er, dass zu beiden Seiten jeweils noch ein Seitenschiff angrenzte. Als trennende Stütze folgte jeweils auf zwei Säulen immer ein Pfeiler. Torben hörte Semmler gerade noch so viel zu, dass er erfuhr, dass diese regelmäßige Abfolge niedersächsischer Stützenwechsel genannt werde.

      Da der Professor ausnahmsweise bei diesen Ausführungen nicht protestierte, fasste ihr Führer neuen Mut und kam noch einmal auf die Geschichte des Bauwerks zurück. Zwar konnte er bis zu der Ära der französischen Besatzung Quedlinburgs überzeugen, die exakte Geschichte St. Servatius’ im Dritten Reich oder genauer die diesbezüglichen Fragen des Professors überforderten ihn dann aber doch, wie sein mittlerweile hochrotes Gesicht verriet.

      Daraufhin erläuterte Professor Meinert ihrer Gruppe: „Heinrich Himmler, Reichsführer-SS und in den letzten Kriegsjahren Reichsinnenminister, der sich als Wiedergeburt von Heinrich dem Ersten betrachtete, erkannte sehr schnell, wie sehr er die Figur des deutschen Königs im politischen Alltag des Dritten Reichs vermarkten konnte. Heinrich der Erste hatte nicht nur das fränkische Reich geeint und die Ungarn zurückgeschlagen, er hatte auch mit der Osterweiterung seines Reiches begonnen, eine Expansion, die den Nazis sehr zupasskam.

      1938 funktionierte Himmler nicht nur die Stiftskirche kurzerhand zur „Weihestätte“ der SS um, sondern machte bereits drei Jahre zuvor die Stadt Quedlinburg anlässlich des tausendsten Todestages des großen deutschen Königs zur alleinigen Trägerin der Feierlichkeiten. Das ihm unterstellte Ahnenerbe beauftragte er zeitgleich damit, Nachforschungen zum Leben Heinrich des Ersten anzustellen und Grabungen mit dem Ziel aufzunehmen, die verschollenen Gebeine des Königs wieder aufzufinden. Dies gelang angeblich tatsächlich und so ließ er im Jahre 1937 diverse Knochenreste, die am Schlossberg gefunden wurden, neben Heinrichs Frau Mathilde beisetzen.“

      Plötzlich lächelte Semmler wissend und sagte mit offenbar tiefer Genugtuung betont langsam zum Professor: „Was Sie da erzählen, ist falsch. So hat es sich nicht zugetragen.“

      Professor Meinert zögerte: „Wie meinen Sie das? Ich verstehe nicht?“ Seine Verblüffung war nicht gespielt.

      „Was Sie über Himmler erzählen, stimmt nicht.“ Semmler blickte in die Runde und wurde konkreter: „Na ja, die meisten Sachen sind schon richtig. Die Begebenheiten im Zusammenhang mit St. Servatius als nationalsozialistischer Weihestätte – von denen Sie sprachen – sind hinreichend belegbar, da haben Sie Recht. Altar, Kanzel und Gestühl ließ man beispielsweise aus der Kirche entfernen und den gotischen Chor“, er zeigte hinter sich, „mauerte man einfach zu. – Soweit scheint alles klar zu sein. Aber Heinrich den Ersten hat man höchstwahrscheinlich nie hier begraben!“

      „Woher wollen Sie das so genau wissen?“, der Professor war skeptisch. „Die Unterlagen, die ich kenne, werfen diesbezüglich lediglich einige Fragen auf.“

      „Vielleicht haben Sie die falschen Dokumente eingesehen. Denn nur von ‚Fragen aufwerfen‘ kann keine Rede mehr sein.“

      „Hören Sie zu, guter Mann“, Professor Meinert war trotz der Kritik, die an ihm geübt wurde, erstaunlich verträglich, „wenn Sie etwas wissen, erzählen Sie es uns. Ich bin bei Weitem kein Laie, aber wenn ich in meinem Alter noch etwas lernen kann, bin ich immer darüber erfreut.“

      Semmler bemerkte anscheinend, dass er nicht näher an eine Entschuldigung des Professors für das permanente Unterbrechen seiner Führung herankam und fing daher an, zu berichten: „Es ist offensichtlich, dass vor allem Sie beide“, er blickte Professor Meinert und seine Tochter an, „ausgesprochen gut in geschichtlichen Fragen bewandert sind. Ich für meinen Teil bin gelernter Stellmacher und habe erst vor wenigen Jahren mein Hobby zum Beruf gemacht. Mein Wissen ziehe ich also – gerade für den neueren Teil der deutschen Geschichte – aus eigenem Erleben oder den Gesprächen mit Zeitzeugen. Wussten Sie zum Beispiel, dass in Quedlinburg im Verhältnis zur Einwohnerzahl nirgendwo sonst in der DDR in der Wendezeit des Jahres 1989 mehr Menschen auf die Straße gegangen sind und für ihre Rechte demonstriert haben? – Nein? Interessant, nicht wahr? Ich sollte aber nicht abschweifen, zurück zu Heinrich dem Ersten.

      Natürlich hat Himmler das angebliche Auffinden der verlorenen sterblichen Überreste des deutschen Königs propagandistisch verwertet. Warum auch nicht, allein schon der tausendste Todestag Heinrich des Ersten war quasi ein Glücksfall für das „Tausendjährige Reich“. Man widmete dem König prompt Sonderhefte, Postkarten und eine SS-Gedenkplakette. Die Entdeckung seines Leichnams machte die Geschichte quasi perfekt, zu perfekt, wie ich Ihnen jetzt berichten werde.“

      Selbst die Mossad-Agenten hörten Semmler nun aufmerksam zu und Torben bemerkte, dass Julia regelrecht an seinen Lippen hing. „Die Nazis waren nicht die Ersten, die nach den sterblichen Überresten gegraben haben“, fuhr Semmler in ihrer Mitte stehend fort. „Bereits bei einer Grabung im Jahre 1756 hat man in der Ruhestätte von Königin Mathilde überzählige Knochen gefunden. Schon damals wurde vermutet, dass es die ihres Gemahls sein könnten. Himmler ließ den Sarg 1936 daher erneut öffnen und eben diese Gebeine anthropologisch untersuchen. Das Ergebnis fiel jedoch nicht wie gewünscht aus, und so wurden sie fortan lediglich als Reliquienknochen bezeichnet.

      Die Suche ging also weiter und


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