Germanias Vermächtnis. Swen Ennullat

Germanias Vermächtnis - Swen Ennullat


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Familien hingenommen worden. Glücklicherweise und zu ihrem eigenen Erstaunen konnten sie aber alsbald verkünden, bei Grabungen im Untergrund der bislang leeren Grabstätte des Königs ein weiteres Skelett und verschiedene Grabbeigaben gefunden zu haben, die die berechtigte Vermutung zuließen, dass es Heinrich der Erste sein könnte.“

      Der Professor unterbrach Semmler daraufhin: „Das sage ich doch die ganze Zeit! – Bislang erzählen Sie nichts Neues! – Ich weiß, dass jeder Wissenschaftler, der das Ergebnis damals anzweifelte und so die Nazi-Propaganda störte, mundtot gemacht wurde. Ich will Ihnen aber zu Gute halten, dass nach dem Krieg ein DDR-Forscher herausbekommen haben will, dass die Knochen viel zu jung sein sollen. Man müsste sie heute erneut und gründlich untersuchen. Vielleicht meinten Sie das vorhin mit Ihrer Bemerkung.“ Er winkte gönnerhaft ab.

      Derweil schien Annabells weibliche Intuition anzuschlagen und sie sah Semmler durchdringend an. Irgendetwas schien sie misstrauisch zu machen und sie sagte: „Moment, George“, sie sprach ihren Vater bewusst mit seinem Vornamen an, um sich seiner Aufmerksamkeit sicher zu sein, „nicht so schnell! Unser Stadtführer weiß noch mehr über die Sache. Stimmt’s?“

      Mit einem breiten Grinsen im Gesicht nickte Semmler kurz und erklärte in Richtung des Professors: „Ihre Tochter hört genauer hin als Sie.“ Er räusperte sich kurz. „Normalerweise erzähle ich den Touristen die offizielle Version, weil alles andere zu phantastisch klingt. Für Sie mache ich aber heute eine Ausnahme. – Sie hatten Recht mit den Untersuchungen zu DDR-Zeiten. Genaugenommen war es bereits Ende der Fünfzigerjahre! Und Sie werden nie glauben, zu welchen Ergebnissen diverse anthropologische Untersuchungen und Nachforschungen in dutzenden Heimatarchiven und Kirchenbüchern kamen.“

      Er machte eine bedeutungsschwangere Pause, bevor er leicht theatralisch fortsetzte: „Die Gebeine, die Himmler unter großen Pomp beisetzen ließ, sind nicht nur mehrere hundert Jahre zu jung, sie stammen auch von einer … Frau.“

      Torben spürte plötzlich Julias Hand auf seinem Arm.

      „Und es kommt noch besser“, Semmler genoss es, endlich die ihm zustehende Wertschätzung zu erfahren, „es sind die Gebeine einer Hexe!“

      Julias Händedruck wurde stärker und Torbens Blick traf sich mit dem des Professors. Beim Nicken Professor Meinerts wurde ihm klar, dass vor ihnen die Spur lag, die zu finden sie gehofft hatten. Er versuchte daher schnell, Semmler noch weitere Informationen zu entlocken: „Woher wissen Sie das mit der Hexe?“

      Ihr Stadtführer zuckte mit den Schultern „Ein paar alte Aufsätze verschiedener Wissenschaftler, ein kaum bekanntes Buch eines regionalen Heimatforschers aus dem 18. Jahrhundert und diverse vergilbte Urkunden und Aufzeichnungen in den Stadtarchiven. Wenn man die Zeit hätte, alle Quellen ausführlich zu prüfen, könnte man es sicherlich mit ausreichenden Beweisen belegen. So aber müssen Sie mir im Moment in dieser Hinsicht vertrauen.“

      „Aber Sie wissen, wer die Frau war?“, fragte Annabell trotzdem nach.

      „Bei ihrem Namen müsste ich nochmal nachschauen. Der ist mir entfallen. Aber es war auf jeden Fall eine neunzehnjährige Magd, die unter dem Einfluss der Folter gestanden hat, eine Priesterin der schwarzen Magie zu sein, und dafür erdrosselt wurde. Weil sie vor ihrer Hinrichtung glaubhaft bereute und ihren Irrglauben widerrief, machte man sozusagen eine Ausnahme und bestattete sie trotz ihrer Verfehlungen auf heiligem Boden, allerdings möglichst nah an den Reliquien der Kirche, die eine göttliche und reinigende Macht ausstrahlen sollten. – Wahrscheinlich wurden ihre Gebeine nur deshalb zufällig bei den Ausgrabungen gefunden.

      Himmler pochte derweil vehement auf einen Erfolg. Was also lag näher, als ihm ein gut erhaltenes Skelett als deutschen König zu präsentieren?“

      Semmler schien für den Professor plötzlich nicht mehr interessant.

      Er wandte sich Torben zu und sagte: „Es passt alles zusammen. Können Sie sich an Nordhausen erinnern, wo uns ebenfalls eine Rolandsstatue den Weg wies? Auch dort hatte Mathilde ein Stift gegründet, als ihr Heinrich der Erste die Stadt schenkte. Jetzt ist es also Quedlinburg in dem aller Voraussicht nach die Hexen im Geheimen die Geschicke der Stadt geführt haben.“

      Semmler, verblüfft, dass er schon wieder nicht mehr beachtet wurde, räusperte sich hörbar und meldete sich nochmals zu Wort: „Was meinen Sie mit ‚Hexen‘ und ‚die Geschicke der Stadt führen‘? Dass die Reste einer Hexe in Heinrichs Grab liegen, heißt doch nicht, dass sie die Stadt regiert hat. Man hat die Gebeine lediglich verwechselt. Eigentlich müsste man jetzt weiter nach dem Grab des deutschen Königs suchen.“

      „Wie Sie meinen.“ Der Professor wirkte nun doch leicht überheblich. Der Stadtführer war ihm ab jetzt offensichtlich egal.

      Torben versuchte zu vermitteln und gleichzeitig vom Thema abzulenken: „Herr Semmler, manchmal hat Professor Meinert eben verrückte Ideen.“ Er lachte gekünstelt. „Was mich vielmehr interessieren würde – wo Sie doch so gut in der Geschichte Quedlinburgs bewandert sind – fällt Ihnen etwas Besonderes im Zusammenhang mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dieser Kirche hier oder der Stadt ein? Irgendetwas, was vielleicht – sagen wir einmal – ungewöhnlich ist?“

      „Ich weiß nicht.“ Der Stadtführer war anscheinend für Torbens Schmeichelei anfällig und überlegte. „Quedlinburg wurde fast kampflos von den US-Amerikanern eingenommen. – Gott sei Dank muss man an dieser Stelle sagen, nur dadurch wurde die Altstadt, die Sie heute noch bewundern können, nicht zerstört.“

      „Wieso kampflos?“ Levitt schaltete sich ins Gespräch ein. Alles Militärische schien ihn besonders zu interessieren.

      „Ganz einfach, Quedlinburg war quasi eine Lazarettstadt. In dutzenden Villen, Sporthallen und Kirchen wurden in Notlazaretten seit 1943 Verwundete versorgt. Zeitweilig waren es an die achttausend Personen. Schon mit Hinblick auf das Schicksal der Verletzten war ein verbissener Verteidigungskampf nicht möglich.“

      „Sie sprechen von Tausenden Menschen. Für so viele Patienten war doch auch zusätzliches Pflegepersonal notwendig, nicht wahr?“, fragte Julia.

      „Natürlich“, antwortete Semmler, „die Ärzte und vor allem Krankenschwestern kamen aus ganz Deutschland.“

      Torben blickte wieder zum Professor und sagte nur „Bad Mergentheim“. Sein Freund nickte.

      „Bitte, was meinten Sie?“ Semmler schaute Torben an.

      „Ach, nichts Besonderes. – Ich wollte Sie nicht unterbrechen. Reden Sie ruhig weiter.“

      Der Stadtführer versuchte, den letzten Gedanken wieder aufzunehmen und erzählte: „Das Aufregendste am Kriegsende war der Verlust unseres Domschatzes und Jahrzehnte später seine glückliche Rückkehr!“

      „Ich kenne die Geschichte. Sie ging schon vor zwanzig Jahren durch die Medien und wird regelmäßig aufgewärmt. Jeder Archäologe träumt von solch einem Fund“, bemerkte Annabell.

      Leicht flapsig erwiderte Torben darauf: „Okay, kann mich trotzdem mal jemand aufklären?“

      „St. Servatius verfügt über einen der bekanntesten und kostbarsten Kirchenschätze des Mittelalters, Reliquien gefertigt aus Gold, Edelsteinen und Elfenbein, Geschenke an das mächtige Damenstift“, erklärte Semmler und behielt bei seinen Ausführungen den Professor im Auge. „Bereits 1943 hatte man den Domschatz in einen unterirdischen Stollen unter der Altenburg ausgelagert, nicht sehr weit von hier entfernt. Als die US-Amerikaner die Höhle fanden, entwendete einer ihrer Soldaten zwölf der wichtigsten Stücke und schickte sie seiner Familie per Feldpost nach Hause. Nach dem Tod des GI versuchten seine Erben Anfang der Neunzigerjahre, die Stücke auf dem internationalen Kunstmarkt zu verkaufen. Nachdem deutsche Millionen flossen und nach einem langen juristischen Tauziehen kehrte der Schatz oder zumindest der größte Teil davon, zwei Stücke blieben nämlich unauffindbar, 1993 auf seinen angestammten Platz zurück. Sie können ihn gerne in der Domschatzkammer wenige Meter von hier bewundern.“ Er streckte seinen rechten Arm nach hinten aus und wies damit in Richtung einer Ausstellung.

      „Eine wirklich interessante Geschichte.“ Torbens Bemerkung war ernst gemeint. „Aber


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