Der Regengott und andere Erzählungen. Alvydas Slepikas

Der Regengott und andere Erzählungen - Alvydas Slepikas


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und das Städtchen zu verpesten. Ist das ein Liederjan, der Sohn des Laginauskas, der wäre fast ins Gefängnis gekommen. Hat dem Sohn des Pauga, dem mit dem Herzleiden, die Nieren kaputtgeschlagen, aber der hat einen guten Vater, der landet nicht hinter Gittern: Wer Geld hat, ist im Recht.

      Die Hauptstraße ist wieder leer, nur die sanften Frühlingswinde wirbeln Unrat durch die Gegend – Bonbonpapierchen und Pappelsamen, die behaarten Würmern gleichen. Eigentlich ist der Mai ein Monat, in dem das Gras alles verschlingt: Es schießt in die Höhe und drückt die Zeitungen zu Boden, verbirgt Eisensplitter, alte Blätter, die Halbschuhe, die irgendwer verloren hat; lässt du im Garten etwas fallen, dann solltest du besser nicht danach suchen, sondern lieber die Sense zur Hand nehmen und ausholen, vielleicht entreißt du es ja dem gefräßigen Schlund. Manchmal lachst du auch nur – etwas ist verschwunden, weg, und schon brauchst du es nicht mehr, vielleicht ist es auch ein wenig schade drum, aber wer weiß schon, wo es verschwunden ist, und dann gehst du hin und mähst das Gras in deinem kleinen Garten, und zack, die Klinge der Sense trifft auf etwas, und dann siehst du, dass der vermisste Spaten, der verlorene Hebebock oder weiß der Teufel was deiner Sense die Zähne ausgeschlagen hat. Alles, ja, alles verschlingt das Gras. Und erst im Hochsommer wird der Wind auf den von der Dürre versengten Höfen Sandkörner ausstreuen, Staub herumwirbeln und mit Strohstoppeln um sich werfen, jetzt aber ist alles noch grün und hübsch. Rund und irgendwie … stramm – wie die Waden der jungen Mädel.

      Oh, da ist der Danius, der vom Prancisius. Der ist wirklich ein Nichtstuer, ein richtiger Faulpelz, solche Kerle kann der alte Laurinavičius gar nicht riechen. Die anderen aber, die arbeiten, die müde werden, die manchmal vielleicht gar ein wenig abgestumpft sind, die vielleicht schon seit zehn Jahren kein Buch mehr aufgeschlagen haben und auch in der Zeitung nur das TV-Programm durchsehen oder auf dem Kalender nachschauen, in welcher Phase der Mond gerade ist, die gehen oder kriechen mit gesenktem Blick, der hier aber, der muss seinen Blick unbedingt nach oben richten, unbedingt den alten Laurinavičius entdecken, ihm unbedingt entgegenrufen, sodass es das ganze Städtchen hört: Grüß Gott, Onkel Adolfas! Grüß Gott, wird der alte Laurinavičius stolz erwidern. Was tun Sie da, so weit oben?, wird Danius nicht von ihm ablassen. Und was soll er ihm antworten? Er wird doch nicht jedem, der vorbeigeht, seine Angelegenheiten und Sorgen erörtern, und dann auch noch diesem Rotzbengel, Säufer und Faulpelz, der noch kein einziges Mal für seine Mutter Kartoffelkraut geschnitten oder Holz gehackt hat, aber für eine Flasche Hinz und Kunz zu Hilfe eilt, wenn diese Hilfe auch mehr darin besteht, rumzulabern, anstatt sich wirklich nützlich zu machen. Soll ihn doch der Henker holen, der soll besser seiner eigenen Wege gehen, er wird ihm nicht erzählen, warum er hoch oben in einer Linde sitzt wie in einem Nest, warum er der Linde den Wipfel abgesägt hat, warum er nicht herunterkommt. Nur kommt da auch schon die Malenija, schon wieder mit ihrem „Jesses Maria“ und der nervigen Frage, ob die Beine auch nicht eingeschlafen sind. Sind sie nicht, sind sie nicht, und wenn schon, du kannst mir ja sowieso nicht helfen. Die sehen alle so lustig aus von hier oben, Pilzen ganz ähnlich – Kopf und Schultern, und unter dem Kopf ragen die Beine so merkwürdig hervor.

      Man kann nicht sagen, es sei angenehm, hier zu sitzen, hier auf dieser Linde, aber immer noch besser, als vom frühen Morgen an aus dem Küchenfenster zu starren und den Hühnern zuzusehen, wie sie am Zaun scharren. Heute ist ein Unglückstag. Erstens wegen des Katers. Es tut im Herzen weh, aber was kann man machen, wenn das Tierchen so ein Dummerchen ist. Da kriech mir mal einer in die Iltisfallen. Aber in der Scheune war es dunkel, was hätte er da schon sehen können mit seinen bereits fast erloschenen, wenn auch noch sehr hellen Augen eines alten Katers. Er hat sie in der Dunkelheit nicht gesehen, und dann hat der Halunke auch noch geschwiegen – nicht das leiseste Miau. Laurinavičius stülpte einen Sack über die Falle, hob das Gitter an, schüttelte den „Iltis“ in den Sack – woher hätte er auch wissen sollen, dass es kein Iltis war –, einmal rund um den Kopf und klatsch auf den Zementboden, mit voller Kraft – Laurinavičius hatte seine Lektion gelernt. Wie hätte es anders sein können: Schon seit so vielen Jahren fing er auf Bitte sämtlicher Nachbarn Iltisse – er war ein echter Profi. Alles hatte er schon erlebt: Einmal hatte er den, wie es schien, schon totgeschlagenen Iltis im Sack auf eine Bank gelegt, und als er zurückkam, um ihm das Fell abzuziehen, da war der wieder putzmunter, lief quiekend und stinkend über die Wände, wie der Teufel durch die Außenküche, immer im Kreis herum, um dann durch das Fensterchen (dem ein Stückchen Scheibe fehlte) zu entkommen, es regnete Glassplitter, und auf Nimmerwiedersehen. Kein Iltis und nichts mehr. Seither ging er anders vor, erschlug die Iltisse und ließ sie noch ein wenig im zugeschnürten Sack liegen, damit das Scheusal von einem Räuber nicht wieder zu sich kam. Doch jetzt hatte er ihn auf den Boden geknallt, und wie! Seinen eigenen Kater! Jesses Maria, Malenijas getigerten Liebling. Und als er auf dem Boden aufschlug, begann der zu schreien, er erkannte seine Stimme gar nicht mehr, miaumiaumiau und uhuhuuh und weiß der Teufel was noch für Laute er von sich gab, der alte Laurinavičius erschrak fast zu Tode. Er schleuderte den Sack von sich, band ihn auf, und sein getigerter Kater sprang schreiend heraus, hätte ihm beinahe die Augen ausgekratzt, ein, zwei Sätze, dann blieb er taumelnd stehen. Stand da und taumelte, ein Ohr hing irgendwie herab, Blut strömte über die Lippen. Rainiuk, mein lieber Rainis, näherte Laurinavičius sich ihm, doch er ließ ihn nicht an sich heran – weiter, immer weiter, durch einen Spalt im Zaun in den Garten der Balsienė, dann – weiß der Henker, wohin. Er konnte doch der Balsienė nicht weismachen wollen, dass er in ihrem Garten oder in ihrer Scheune seinen Kater einfangen wollte. Wozu?, würde sie fragen. Was sollte er dann sagen? Dass er alter blinder Vollpfosten seinen Kater erschlagen hatte? Damit ihn dann alle auslachten? Nee. Malenija wollte er es erst auch nicht sagen, gestand es ihr aber dann doch – wie sollte er auch anders nach über sechzig Jahren Ehe. Komme es, wie es wolle, sagte er zu sich. Und nichts Schlimmes geschah. Wer würde ihm schon abnehmen, dass Malenija sich nicht um den Kater, sondern um ihn Sorgen machte, um seine Gesundheit, seine Nerven. Und Malenija hatte recht: Warum zum Teufel hat er keinen Laut von sich gegeben? Nicht miaut? Das macht mich fuchs teufelswild. Wie kann man nur jemanden so erschrecken? Und Mäuse fängt der Faulpelz auch keine. Da hat er nun seine gerechte Strafe … Er wird schon nicht verrecken – die Kater sind zäh. Aber ob er ihn wohl je wieder an sich heranlassen würde? Auf seinen Schoß springen und seine Litaneien miauen würde, wenn er an kalten Winterabenden fernsah?

      Eigentlich saß Laurinavičius gar nicht gern vor dem Fernseher, nur wurde es im Winter so früh dunkel und zu schlafen hatte er noch keine Lust, doch Arbeiten hatte er auch keine. Dann saß der Alte eben da und schaute „Panorama“, die Abendnachrichten, dann noch irgendwas, eigentlich schaute er sich weniger den Film an, als dass er sich in Erinnerung rief, was er noch zu tun hatte, was ihn morgen erwartete, womit er beschäftigt wäre. Laurinavičius konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen als Nichtstun. Dasitzen und Däumchen drehen war für ihn die allergrößte Qual. Arbeit machte ihm Spaß. Alle Arten von Arbeiten. Er scheute sich vor keiner, beherrschte alle möglichen Arbeiten – in seiner Jugend hatte es kaum eine Arbeit gegeben, die er nicht ausgeführt hätte: Bäume fällen, Häuser bauen und auch Eisen schmieden. Natürlich nicht wie Zigma, nein, aber mit dem Eisen konnte er umgehen, alles, was er brauchte, hatte er selbst gefertigt … Oder repariert … Wenn jemand darum bat … Dann, als die Last der Jahre immer schwerer wurde, läutete er die Kirchenglocken (der alte Ustinavičius, der vorherige Glöckner, war gestorben). Diese Glocken waren sicher mit daran schuld, dass der liebe Gott ihm den Lautstärkeregler zudrehte. Aber schön war das – bei jedem zweiten Zug dröhnte die Glocke und sang der ganzen Umgebung. Man hörte ihren Ruf zur Messe oder ihre Mahnung an den Tod noch in fünf Kilometer Entfernung. Je nach Anlass läutete Laurinavičius anders, zumindest glaubte er das. An Sonntagen hallte die Glocke fromm, an den großen Ablassfesten voller Stolz, und trauererfüllt, wenn jemand seine letzte Reise antrat … Der Kirchturm war weiß und erhob sich weit über die Pappeln und Linden des Kirchhofes hinaus. Der alte Laurinavičius betrachtete gern von ganz oben die Umgebung. Sie raubte ihm den Atem – nein, nein, nicht die Furcht, der Alte hatte keine Höhenangst, sondern die Schönheit der Erde. Der Alte war noch nie mit dem Flugzeug geflogen und, wenn wir ehrlich sein wollen, auch noch nie mit dem Zug gefahren, doch wenn er in den Kirchturm hinaufstieg und von dort ganz weit oben, in unerreichbaren Höhen das winzige Kreuzlein eines seine weiße Dunstflagge hinter sich herziehenden Flugzeugs erblickte, überkam ihn stets große Traurigkeit. Wenn von der Spitze des Kirchturms alles so schön aussah, wie schön musste es dann


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