Der Regengott und andere Erzählungen. Alvydas Slepikas

Der Regengott und andere Erzählungen - Alvydas Slepikas


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gaben uns Mühe, ruhig zu wirken, doch die von Algis überbrachte Nachricht beschleunigte unseren Puls im Nu – schon bald, nicht mehr lange warten: Gleich würden wir die farbigen, geflügelten Autos erblicken, ihr Brüllen hören, sie würden unter unserem Versteck hindurchbrausen, unter uns hindurch, und wenn die anderen sich damit brüsteten, was sie gesehen hatten, dann könnten wir ihnen entgegnen: „He, wir haben die Autos mit Kirschsteinen beschossen!“

      Ich spitzte die Ohren und lauschte, mit dem einzigen Wunsch, als Erster das Motorengeheul zu hören. Plötzlich stand Rimvis auf, hielt sich an einem dünnen Ast der Weide fest und wandte sich dem Städtchen zu (von dort mussten unsere heiß ersehnten Rennwagen kommen). Mit einer Geste bedeutete er uns zu schweigen und erstarrte mit offenem Mund.

      „Hört ihr das?“, flüsterte er. „Ich höre etwas!“

      Wir hörten es alle! Das tiefe, gedämpfte Motorengeräusch kam wie ein von den Wolken getragener Donner immer näher. Wir warteten angespannt, Raškevičius’ Hühner erhoben die Köpfe, der Hund kam aus seiner Hütte, der Wind legte sich. Plötzlich brachen wir alle zusammen wie ein Chor in Gelächter aus: Um die Kurve tauchte zwischen den Pappeln und Ahornen des Städtchens hervor ein Mähdrescher der Marke „Niwa“ auf. Er fuhr über den Asphalt der schmalen Straße des Städtchens – groß, rot und ungelenkig, das genaue Gegenteil dessen, was wir erwartet hatten. In der Kabine saß der Schafskopf Geniukas, ein seltsamer Mann, dem die Dummheit ins Gesicht geschrieben stand, und ein anständiger Trinker, der, als man ihn nicht zur Armee nahm, den Traktorfahrern klagte: „Und warum auch habe ich gesagt, dass ein Kilo Nägel mehr wiegt als ein Kilo Federn! Wenn ich das Gegenteil gesagt hätte, hätten sie mich genommen!“ Die Kinder des Städtchens bewarfen ihn, wenn er mit dem Mofa vorbeifuhr, stets mit Eicheln, Kastanien, Kieselsteinen, beschossen ihn mit Vogelbeeren. Geniukas fuhr zwar Traktor, aber auf dem Mähdrescher hatte ihn noch keiner gesehen, doch jetzt war er ein richtiger „Mähdrescherpilot“!

      Der Mähdrescher fuhr auf unsere Weide zu. Wir warteten stets sehnsüchtig auf die Durchfahrt großer Maschinen unter unserem Baum, der Mähdrescher aber war ein Vergnügen der besonderen Art, denn seine Kabine streifte die Weide beinahe. Geniukas fuhr langsam, und als der rote Metallberg unter uns war, klopfte Rimvis ein paarmal kräftig mit den Füßen aufs Kabinendach. Geniukas galt als ziemlich boshaft und war wie ein Kind schnell beleidigt: Der Mähdrescher hielt in einigen Metern Entfernung an, aus der Kabine stieg unter Brüllen und wüsten Drohungen der Fahrer.

      „Wart nur, wart nur, du heimatloser Kleinadel, Zaščižinskas! Ich werde dich mit der Knute bearbeiten, dich wie ein Donner vom Baum holen!“ Warum er wohl immer nur den Rimvis anschrie, während er Gintas und mich nicht zu sehen vorgab?

      „Fahr zur Hölle!“, entgegnete Rimvis in aller Kürze.

      „Geniukas ist ein Dummerchen!“, fügten Gintas und ich hinzu und beschossen den frischgebackenen Mähdrescherfahrer mit Kirschsteinen.

      Der Mähdrescher stand genau auf der Kreuzung und versperrte den von uns so ersehnten Rennwagen einen Teil der Straße.

      „Fahr schon, fahr, Schwachkopf!“, rief Rimvis, „du Idiot hast den Weg versperrt!“

      Mir schien, Geniukas müsse das Herz aus der Brust springen – so wütend war er. Seine Stimme kam außer Kontrolle und so verstand man kaum mehr, was er uns da entgegenschrie. Es war zum Grölen. Noch lustiger sah die Sonne des immer dunkelblauer werdenden Himmels aus, die Geniukas’ Kopf wie ein Heiligenschein umgab und sein Gesicht in eine unergründliche Dunkelheit tauchte – so mussten wohl die Gesichter der Apostel ausgesehen haben.

      „Ich bringe dich um!“, brüllte der heilige Apostel, „ihr Bastarde!“

      „Selber Bastard!“, erwiderten wir.

      Im gleichen Augenblick war ein merkwürdiges Keuchen hinter uns zu hören, das uns überraschte und erschreckte. Geniukas freute sich so über seinen neuen Status – er hatte jetzt einen Mähdrescher! – und schien so wütend auf uns zu sein, dass er offenbar nichts gehört hatte. Er war der einzige Mensch auf der Welt, der nicht wusste, dass heute der Startschuss zur Rallye fallen würde. Wir wandten uns alle drei entsetzt zum Städtchen um und verfolgten mit vor Angst weit offenen Mündern, wie an den Dahlien und am Flieder am Straßenrand vorbei, rot wie der Schnee nach dem Schlachten, ein Rennwagen angerauscht kam. Ein wahrhaftiger Rennwagen, denn er raste in einem Wahnsinnstempo über die Straße! Ich schloss die Augen, als er unter unserem Baum hindurchflitzte, und sah nicht einmal mehr, wie er mit Geniukas zusammenstieß, erst nach einem Augenblick, der wie eine Ewigkeit erschien, hörte ich es krachen. Da öffnete ich die Augen und sah den umgekippten Mähdrescher im Straßengraben, den seltsam mitten auf dem Asphalt breit daliegenden Geniukas, der wohl aus der Fahrerkabine geschleudert worden war, und den roten Wagen, der langsam durch die Luft flog und Purzelbäume schlug. Er flog erst über die von den Frauen gebuddelten Sandgruben, dann zwischen den alten, moosüberwachsenen Trauerweiden hindurch und prallte schließlich auf die Friedhofsmauer. Eine zähflüssige und an der Haut klebende Stille packte uns. Und erst dann flogen aus den Friedhofsbäumen in Scharen die Saatkrähen und Dohlen auf. Geniukas stand langsam auf und brach urplötzlich in ein schluchzendes Jammern aus.

      „Was wird jetzt nur! Was wird jetzt nur! Was wird jetzt nur!“

      Wir rutschten, so schnell wir konnten, den Baumstamm hinunter. Ich sah noch den alten Šeikis langsam wie eine Schildkröte von seiner Bank aufstehen und den Specki auf seiner „Jawa“ vom Hügel mit dem Feuer in unsere Richtung sausen.

      „Was wird jetzt nur?! Was wird jetzt nur aus mir?!“, jammerte Geniukas noch immer, als wir am Mähdrescher vorbeirannten, und ich spürte mein Herz genauso schlagen wie diese verzweifelte Frage.

      Als wir vom Straßendamm sprangen und an den Sandgruben vorbeiliefen, hörte ich Rimvis mit keuchender Stimme rufen: „Das ist mal was! Habt ihr gesehen, wie er geflogen ist?!“

      Unweit des Metallhaufens, der gerade erst mit einem Affenzahn über die Straße unseres Städtchens geflitzt war, hielten wir an. Ich glaubte zu träumen, denn ich erblickte einen kleinen flachsblonden Jungen, der um den Wagen herumtaumelte. Er war weiß wie ein kleiner dreijähriger Engel … Dann sah ich eine Frau, die auf dem Rücken lag, und Dampf, der langsam aus ihrem Mund stieg. Vom Hügel kamen die Männer angerannt. Unter ihnen war auch Specki, der uns etwas zurief. Als er bei uns ankam, drehte er mich weg, sodass ich auf die andere Seite schaute, schubste mich, damit ich von hier wegginge. Ich leistete keinen Widerstand, obwohl ich ihn, da ich sein blasses und verzerrtes Gesicht gesehen hatte, nicht im Geringsten fürchtete.

      Jetzt schaute ich die Straße an, das Städtchen, unsere Trauerweide, Šeikis, der es ganz eilig hatte, Geniukas, der die Hände hinter dem Kopf verschränkte, und plötzlich sah ich sie – die blauen Rennwagen, die am Mähdrescher vorbeiflogen, an uns – wie Wolken, wie Schäfchen. Schön waren sie, glitten lautlos und scheinbar leicht über dem Boden vorüber, als würden sie gar nicht zu dieser Welt gehören.

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