Der Regengott und andere Erzählungen. Alvydas Slepikas

Der Regengott und andere Erzählungen - Alvydas Slepikas


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ganz langsam schmilzt der Haufen dahin. Der Holzbesitzer hält es nicht mehr aus und legt selbst Hand an, nicht immer ist er zufrieden, aber man kann doch keinen alten Mann anschreien. Oder dann sieht Laurinavičius jemanden beim Holzspalten. Dann geht er hin und erzählt ihm, wie man das Holz richtig und gut spaltet und dabei auch noch möglichst wenig Kraft braucht. Er muss lachen, wenn er sieht, wie die Jungen mit der Axt weit ausholen und zuschlagen, doch der Klotz will einfach nicht in zwei Teile zerspringen – wahrscheinlich sind ihre Kniehöhlen schon ganz verschwitzt, aber der Klotz ist noch immer nicht gespalten. Man braucht doch für alles Grips und nicht nur Muskeln – ziele genau auf die Mitte, ins Zentrum des Marks. Er weiß genau, was er rät: Stets von oben, nicht vom dickeren Teil spalten, und wenn jemand ein zu dickes Scheit auf den Haufen werfen will, weist er ihn zurecht – es braucht doch einen Aufpasser, heute ist es vielen völlig schnuppe, wie sie das Holz spalten, ob das Scheit gut brennt oder nicht, sie denken nicht darüber nach, es kümmert sie nicht. Der eine oder andere wird gar böse, aber Laurinavičius ist das ziemlich egal – er brachte ihnen nichts Schlimmes bei, gewöhnte sie nicht an den Schnaps, nur ans sorgfältige Arbeiten, damit alles schön und gut herauskommt. Ekelhaft, wenn nach getaner Arbeit eine Unordnung zurückbleibt. Vielleicht sagt dann einer, er komme gerade von der Arbeit, sei müde, erledige das am nächsten Tag. Das hat der Alte noch nie begriffen: Wie kann man etwas auf morgen verschieben, wo man doch nicht wissen kann, ob man morgen auch aufwachen wird? So auch heute wieder. Als er die Gegend absuchte und darauf wartete, dass sein Kater zurückkehren würde, zog aus irgendeinem Grund eine Linde, die ganz nah bei der Straße emporragte, seinen Blick auf sich. Die unteren Äste wuchsen so krumm und unordentlich, und auch der Wipfel war nichts Halbes und nichts Ganzes und erreichte schon fast die Stromleitung. Laurinavičius hatte die am falschen Ort gepflanzte Linde, direkt an der Stromleitung, schon lange bemerkt, aber heute entschied er, dass er Ewigkeiten auf die Elektriker warten könne – er hatte es doch dem Vincas gesagt, und was war passiert? Nichts. Und was, wenn die Leitung kaputtgeht, wenn es einen Kurzschluss gibt, wenn die Kabel bei Sturm und Regen wild herumtanzen und Funken sprühen? Dann würden sie alle ohne Strom dasitzen und sagen: Da war nichts zu machen, man kann doch nicht alles voraussehen, der Strom ist doch Technik. Da zurrte der Alte seine Klettereisen fest, packte eine kleine Säge und stieg auf den Baum. Auf dem Weg nach oben beschnitt er die unteren Äste, dann kappte er die Spitze der Linde. Den ganzen Wipfel samt den Ästen, die auf den Kabeln lagen. Im Ast- und Blätterdickicht kam er mit den Klettereisen nur schwer voran und so warf er sie zur Erde. Und jetzt sitzt er auf dem Baum und kommt nicht mehr runter. Unten läuft Malenija hin und her und ruft ununterbrochen „Jesses Maria, Jesses Maria“. Man soll doch die Namen der Heiligen nicht so oft in den Mund nehmen. Das will er sagen, er möchte mit ihr schimpfen, nur kann er jetzt nicht laut rufen – eine Menschenmenge hat sich unten versammelt. Sieh mal einer an, der Laurinavičius ist zum Zirkusartisten geworden. Er ist schließlich nicht einfach so hinaufgeklettert – er hat Erfahrung. Vor ein paar Jahren hat er doch bei der Branienė eine Esche gefällt. Das hat er, niemand anders wagte das, denn die Esche wuchs ganz nahe bei der, man könnte gar sagen, fast in der Scheune, denn das Strohdach umarmte den Stamm geradezu. Die Esche wuchs und wuchs, war schon groß und breit, aber dann geschah irgendetwas und sie vertrocknete. Vielleicht eine Krankheit, vielleicht die Kälte, oder jemand hatte sie mit Säure begossen, wer weiß das schon, aber der gigantische Baum vertrocknete und ragte jahrelang wie ein Skelett zum Himmel. Die Rinde schälte sich, die Äste hatten sich über dem Scheunendach nach allen Seiten ausgebreitet, und was am schlimmsten war, über Strom- und Telefonkabel: Genau an dieser Stelle befand sich nämlich ein Schnittpunkt mehrerer Linien oder etwas in der Art, denn von allen Seiten führten Kabel dorthin. Da packte der Alte dann wie jetzt seine Klettereisen (seit damals besaß er sie), stieg, so hoch er konnte, hinauf und ließ vorsichtig erst einen Ast herunterfallen, dann den zweiten, dann den dritten. Nach und nach zersägte er die ganze Esche, vom Wipfel bis zum Boden, wobei er stets darauf achtete, dass nichts auf die Kabel fiele und er dem Schilfdach nicht schadete. Das ganze Städtchen schaute damals zu und nickte zustimmend. Was nickt ihr da? Könnt ihr denn keinen Baum entfernen? Der alte Laurinavičius, ja, der kann das. Der Mensch kann alles, wenn er nur den Kopf gebraucht, wie vorgesehen, und hartnäckig genug ist. Damals lachte Laurinavičius zufrieden, jetzt aber lachen sie über ihn. Über wen denn sonst? Vielleicht lachen sie ja auch gar nicht und es ist nur der Wind, der in ihren Gesichtern spielt, vielleicht kitzelt ja die Natur, ohne dabei zu erröten, all diese Menschen, Nachbarn und Freunde und auch Feinde.

      Aber warum versammeln sie sich hier, als gäbe es hier etwas zu sehen? Sogar die Žvainienė, auch die kommt angekeucht, hat ihr Asthma vergessen, und mit ihr noch eine andere Frau. Ja, kommt nur alle angerannt, lauft nur, der Zirkus ist hier.

      Da er die Gaffer nicht anschauen will, hebt der Alte den Blick – über den Bäumen zur Rechten ragt weiß der Kirchturm empor. Wie weiße Schafe hüpfen die Wolken von den Maiwinden getrieben an ihm vorbei. Der alte Laurinavičius bedauert, dass das alles schon so weit zurückliegt – das fast tägliche Emporsteigen der alten Wendeltreppe, das Dröhnen der Glocken. Auch heute läutet man die Glocken, lädt zum Gottesdienst, nur anders – jetzt bewegt Elektrizität die Glocke. Jetzt klingt sie immer gleich und irgendwie leblos. Rhythmisch und leblos. Bim, bim, bim. Wie ein riesiger Eimer.

      „Da hast du dir aber wieder mal was ausgedacht“, hört Laurinavičius die Stimme seines Nachbarn Baliesius.

      „Der Baliesius hat eine Leiter gebracht“, ruft von unten seine Malenija, „schau mal, ob du sie irgendwie zu packen kriegst.“

      Wie sollte er auch, die unteren Äste hat er zurückgestutzt, die Leiter ist kurz, die reicht nur bis in den Dachstock. Der Alte spürt, dass sein Hintern hart wie Holz ist, versucht sich anders hinzusetzen, die eingeschlafenen Beine anders zu platzieren. Plötzlich verliert er beinahe das Gleichgewicht, eine Welle der Angst peitscht ihm ins Gesicht, das Herz fängt vor Angst an, wie wild zu schlagen, mit Unterbrechungen.

      „Jesses, fall nur nicht runter!“, hört er die Stimme seiner Frau rufen. „Pass auf, bleib ruhig sitzen, der Danius vom Prancisius hat Vincelis angerufen, die Feuerwehr kommt.“

      Die Feuerwehr kommt, sieh mal einer an, sie werden ihn wie eine Katze von der Linde holen. Nein, er wird sich nicht wie ein kleines Kind vom Baum heben lassen, wie ein abgenutztes Ding. Das Herz in seiner Brust flattert, dann beruhigt es sich wieder, wird ganz leicht. Der Alte steht im Geäst auf, hebt die Beine ruhig über einen krummen Ast – alles in Ordnung, er ist noch gar nicht so alt, nicht so ungelenk. Und wenn schon … Zieht man zehn Jahre ab, würde er wie sein getigerter Kater flink vom Baum klettern, obwohl auch der einst im Baum stecken blieb. Plötzlich zerzaust der Wind Laurinavičius’ Haar, wirbelt durch das Geäst. Das Hemd des Alten flattert wild.

      Das ist der Wind!

      Das ist der Maienwirbel!

      Der Alte würde gern mit ihm davonfliegen.

      Aber was ist das, das durch das Heulen des Windes an seine Ohren dringt?

      Die Feuerwehr.

      Die Feuerwehr schimmert riesig und rot zwischen den Bäumen hindurch.

      Nein, erst hört er die Sirene. Sie heult so laut, dass gar die Fenster im Städtchen erzittern. Natürlich ist das Absicht. Vincelis macht Radau. Um sich über den Alten lustig zu machen – Achtung!, eine wichtige Meldung, ich hole den Blödmann von Laurinavičius von der Linde herunter. Die Menge teilt sich, die Feuerwehr bleibt seitlich neben dem Baum stehen, Vincelis machte die Sirene aus, steigt aus und sagt etwas zu Laurinavičius, aber der hört nichts, nur das Pfeifen des Windes. Dann bildet der Feuerwehrmann mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und brüllt.

      Und plötzlich spürt Laurinavičius, wie der Wind ihn emporhebt. Ja, in die Lüfte – das Hemd empfängt den Wind wie ein Segel, wie ein Drachen. Der Alte bekommt es mit der Angst zu tun, er hält sich an einem Ast fest, doch dann fasst er sich ein Herz: Er wollte doch schon immer fliegen, ist noch nie geflogen, jetzt aber ist er dazu entschlossen. Die werden staunen! Wozu die Feuerwehr rufen, wozu all der Lärm, der alte Laurinavičius ist selbst auf den Baum gestiegen und kann doch so lange dort oben hocken, wie es ihm gefällt, und dann wieder selbst heruntersteigen. Oder herunterfliegen – nach eigenem Gutdünken. Der Alte lässt den Lindenast los und erhebt sich ganz langsam, ganz ohne Eile in die Lüfte, die


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