Der Regengott und andere Erzählungen. Alvydas Slepikas

Der Regengott und andere Erzählungen - Alvydas Slepikas


Скачать книгу
Polizist heißt das, glaube ich, heute … Er rief völlig überraschend an – Mama, Papa, ich komme … Malenija freute sich sehr, sie redete und redete und lachte und lachte am Telefon. Malenija hatte die Kinder schon immer verhätschelt. Laurinavičius dagegen war stets strenger gewesen, denn im Umgang mit den Kindern ist Strenge unverzichtbar. Und die Strenge hat sich ausgezahlt – seht nur, der Aleksas ist, wie schon gesagt, Polizeihauptmann, Saulė arbeitet bei einer Firma als Buchhalterin oder etwas Ähnliches und Nijolė hat einen tollen Mann, drei Kinder, ein schönes Haus, zwei Autos, nur wohnt sie weit weg, im äußersten Nordwesten bei Skuodas. Kaum hatte sie aufgelegt, schickte Malenija Laurinavičius unter die Dusche, ließ ihn ein weißes Hemd anziehen und sich eine Krawatte umbinden. Was soll das jetzt wieder?, fragte sich der Alte. Ist denn ein Ablassfest? Nein, kein Ablassfest, unser Sohn kommt zu Besuch. Und nicht einfach so, nein, mit dem Hubschrauber kommt er, gleich ist er da, denn am Himmel geht es viel schneller als zu Lande, wie der Wind ist der Hubschrauber im Nu hier oder dort – genau da, wo die Passagiere hinwollen. Noch während ihr Mann sich ankleidete, hatte Malenija auch schon alle Nachbarn besucht und ihnen die Neuigkeit voller Stolz erzählt. So ist es nun mal Mode bei den Weibern, was soll man da machen, erfährt eine etwas, so wissen es bald alle. Wann war das denn? Vor fünf Jahren? Ja, vor fünf Jahren, er feierte gerade seinen achtzigsten. Das war denn der Grund für den Besuch seines Sohnes – er wollte dem Geburtstagskind gratulieren. Seine Glückwünsche damals waren wirklich rührend, sogar „Armonika“ spielte im Fernsehen für Laurinavičius auf, zuvor aber sprach Aleksas ihm seine Glückwünsche aus. Wer weiß, vielleicht flog er ja auch so vorbei? Wie auch immer, Laurinavičius und seine Frau traten Hand in Hand aus dem Haus, trotz der Hitze – es war zu einer ähnlichen Zeit wie jetzt – der Alte im dunklen Anzug, weißen Hemd mit Manschettenknöpfen, Krawatte, Lackschuhen, Malenija im blauen Kleid, mit grauem, nur mit einem Haarreif befestigtem Haar. Sie spazierten die Hauptstraße hinunter, und Laurinavičius fühlte sich nicht ganz wohl, denn den Straßenrand säumte eine große Menschenmenge, wie es schien, sämtliche Nachbarn, die auf geheimnisvolle Weise (auf welche, ist doch völlig klar: Weibergewäsch) vom bevorstehenden Ereignis erfahren hatten und den Hubschrauber zu sehen begehrten. Malenija errötete wie in ihrer Jugend, sie war einst ein hübsches Mädel gewesen. Sie schritt durch das Städtchen, gefolgt von den Kindern, vorbei am Haus der Kultur, an der Kirche, am Exekutivkomitee (jetzt ist dort das Büro des Vorstehers des Städtchens), bog in das Sträßchen zum auf zwei Seiten von alten Bäumen, Linden, Ahornen und Pappeln, auf der dritten, der Schulseite, von dicht wachsenden Mirabellenbäumen umstandenen Schulstadion ab. Um das Stadion herum versammelten sich die Nachbarn. Noch war am Himmel nichts zu erkennen. Keine Anzeichen, dass jemand angeflogen käme. Laurinavičius dachte gar, wie das denn aussähe, wenn niemand kommen würde, falls Malenija Aleksas’ Worte falsch verstanden hatte – eine Riesenschande wäre das. Aber schon nach wenigen Minuten konnte man ein Klopfen hören. Da kommt er, dachte der Alte. Er kam, ein Raunen ging durch die unter den alten Bäumen der Schule versammelte Menge. Der Hubschrauber erschien hoch am Himmel, drehte eine Runde über dem Schulstadion, über den Bäumen. Offenbar suchte er nach einem geeigneten Landeplatz. Das Himmelsgefährt war weiß mit roten Streifen, zuoberst drehten sich riesige Rotorblätter, die einen solchen Wind verursachten, dass Laurinavičius’ Haarpracht (Malenija hatte ihn geheißen, sich hübsch zu frisieren) für die Katz war. Die Leute aus dem Städtchen bestaunten das unerhörte Wunder mit offenem Mund. Seine riesigen Rotoren drehten sich noch, als plötzlich eine kleine Tür aufging und eine Menschengestalt eine Leiter herabstieg. Oder war da vielleicht gar keine Leiter? Da musste eine sein … da war sicher eine. Laurinavičius und Malenija, die sich bei ihm eingehakt hatte, traten näher. Obwohl die Rotorblätter sich weit über ihnen drehten, war es ihnen nicht ganz geheuer und sie wollten sich unweigerlich bücken. Aus dem Hubschrauber stieg ihr Sohn Aleksas, offenbar in Paradeuniform. Er wandte sich zur Hubschraubertür um, jemand übergab ihm etwas Großes, das Laurinavičius umgehend als Brotlaib identifizierte. Nur war er so groß, rund, gar nicht so wie im Laden, größer auch als die Laibe, wie sie Malenija früher zu Hause backte. Aleksas hielt ein hübsches Leinenhandtuch in Händen, auf dem das Brot lag, und schritt so stolz und militärisch daher, dass es dem Alten, dass es ihm ganz den Atem verschlug – war das ein Sohn, sollen nur alle sehen, was für einen Sohn er großgezogen hatte. Laurinavičius nahm das Brot, er hörte gar nicht, was ihm sein Aleksas, der Hauptmann, sagte: Glückwünsche, noch etwas. Er gab ihm einen Kuss. Und auch der Mutter gab er einen, wechselte ein paar Worte mit ihnen, sagte, er würde am Wochenende zu Besuch kommen, dass alle seine Kinder ihn besuchen wollten, auch einen Musikanten mit Akkordeon hätten sie angestellt – das gebe ein Fest zu Papas rundem Geburtstag. Während er zum Stadion spazierte, hatte der alte Laurinavičius sich vorgestellt, wie er mit dem Hubschrauber flog, sein Sohn könnte ihm doch seine Bitte nicht ausschlagen und würde den alten Vater wenigstens einmal am Himmel über das Heimatstädtchen fliegen. Doch als das Gefährt gelandet war, als sein Sohn mit dem Brotlaib erschien, vergaß er vor lauter Aufregung und Rührung – wie einen General ehrte man ihn – ganz, worum er seinen Sohn hatte bitten wollen, und als es ihm später wieder in den Sinn kam, war Aleksas schon wieder auf dem Weg zurück zum Hubschrauber und er konnte den Lärm des Gefährtes nicht überschreien. Und irgendwie, kam es Laurinavičius in den Sinn, irgendwie schämte er sich auch, den Sohn mit den Launen des Alten zu belästigen. Der Sohn winkte zum Abschied, die Hubschraubertür ging zu, die Rotorblätter surrten noch lauter und wirbelten Staub auf, der ihm in die Augen geriet. Und so flog Laurinavičius auch diesmal nicht, aber beide kehrten sie voller Stolz nach Hause zurück – er und auch Malenija.

      Hoch fliegen diese Hubschrauber, die silbernen kleinen Flugzeuge vielleicht noch höher – die sind so klein, es dünkt einen ganz seltsam, dass darin Menschen sind. Aber auf dieser Linde, was ist das schon für eine Höhe? Wäre er jünger, er würde mit einem Satz hinunterspringen, aber jetzt gehorchen ihm seine alten Knochen nicht. Ach, der Wind, er bläst am Boden entlang und höher, in kleinen Wirbeln. Fast wie bei der Landung des Hubschraubers. Der Wind hüllt alle in ein blaues Frühlingsgewand, so etwas wie Nebel oder Hitzedunst. Alles vibriert und rotiert, und durch dieses Windesblau sieht er unten Prancisius’ Sohn lächeln und Malenija herumrennen. Wozu durch die Gegend laufen? Wozu die Aufregung – der Alte geht nun in sich, ruht sich ein wenig aus und wird schon irgendwie aus dieser Lebenssituation, aus der überraschenden Lage herausfinden, die mehr auf dem Alter als auf Zufall beruht. Nur keine Gaffer, bitte. Der Daniokas soll schneller nach Hause gehen. Was steht er denn überhaupt da? Mit wem unterhält er sich? Mit einem unbekannten jungen Mann im karierten Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Vielleicht hatte er ihn auch schon gesehen, wer kann sich schon an alle erinnern: Die Kinder wachsen heran, werden zu Männern, beenden die Schule, kehren aus der Armee heim, wie sollte man sie auch alle kennen? Und dann sind da auch noch die vielen wer weiß woher Zugezogenen, früher musste man nicht einmal die Tür abschließen, aber man versuche das heute mal. Jetzt kann man den Menschen nicht mehr trauen, die haben doch alle ein wenig einen an der Birne, laufen alle dem Geld hinterher, jeder versucht jeden übers Ohr zu hauen. Danius und der Unbekannte lachen. Und die Kinder sitzen im Gras. Auch sie lachen. Worüber lachen sie wohl? Wahrscheinlich über ihn, den alten Laurinavičius, dass er wie ein Storch in seinem Nest hoch oben auf dem Baum sitzt. Es war dumm gewesen, die Klettereisen hinunterzuwerfen, aber die stören nur im Lindengeäst, die würden ihm jetzt nicht helfen, wie sollte er die auch hier oben festbinden, wie mit den Klettereisen aus dem Geäst herauskommen? Da sitzt er nun, der Laurinavičius, hoch oben, sieht sich um und fragt sich, wozu er überhaupt auf den Baum gestiegen ist. So ist nun einmal sein Charakter, er kennt ihn ja, lernt aber nie daraus, vergisst stets etwas mitzubedenken, bald das Alter, bald die Kräfte. Aber was wäre das auch für ein Leben, wenn man alles in Erwägung zöge und sich vor allem und jedem behütete, nur dasäße und Tee tränke und nichts unternähme. Da wäre man ja tot. Er hätte nur noch eine Wahl: sich auf die Bahre zu legen und den Pfarrer zu rufen. So sah Laurinavičius auch heute Mittag, als er sich so wegen seines getigerten Katers aufregte, zum Fenster hinaus, lief im Hof herum (der verdammte Kater ist bis jetzt nicht wieder aufgetaucht), denn er konnte nicht einfach nichts tun und dasitzen. Und auf dem Hof der Nachbarn waren weder Bäume zum Zersägen noch zersägte zu sehen. Alle hatten schon zu Beginn des Frühlings für die Wärme im Winter gesorgt. Man muss Laurinavičius nicht darum bitten, seine Säge mit den zwei Griffen in die Hand zu nehmen, für die Nachbarn sägt er gratis und franko Brennholz, einfach so, nur, um nicht Däumchen drehen zu müssen. Wenn er nicht wäre, würde


Скачать книгу