Warum wir fotografieren. Jürgen Gulbins

Warum wir fotografieren - Jürgen Gulbins


Скачать книгу
Porträt auf dem Umschlag des Buchs von Gregory Heisler war der Stimulus für eine Serie eigener Low-Key-Porträts.

image

      Wir wissen nicht, mit welchen Mitteln Heislers Aufnahme entstand. Er lässt sich in seinem Buch dazu kaum aus, auch wenn die Story ausgesprochen lesenswert ist. Er dürfte typischerweise mit einer Mittelformatkamera im Studio gearbeitet haben. Aber die Kamera ist sicher nicht das wirklich wichtige Element.

      Die Aufnahme von Magdalene auf Seite 16 entstand mit ausgesprochen einfachen Mitteln, einer APS-C-Kamera mit einem 50 mm-Objektiv bei Blende f/7,1 in einem abgedunkelten Raum. Es wurde dazu ein Systemblitz eingesetzt und dessen Licht mit zwei schwarzen Kartons auf einen recht schmalen Bereich begrenzt. Für das Porträt auf Seite 21, welches später entstand, wechselte die Fotografin zu einer relativ leichten und kleinen MicroFourThirds-Kamera und setzte dort ein 45 mm-Objektiv (90 mm KB-äquivalent) und Blende f/2,2 ein. Das Licht ist hier Tageslicht. Den dunklen Hintergrund erzielt sie einfach mit einer dunklen Decke.

      Beide Bilder sind typisch für ihre Porträts: intensiv, gut komponiert und dicht an den Menschen. Der jüngere Mann auf Seite 16 ist der Vater eines der von ihr betreuten Babys, aus Nigeria stammend und als Flüchtling mit seiner jungen Familie nach Deutschland gekommen. Der Mann auf Seite 21 lebt schon lange in Deutschland. Magdalene kennt ihn über seine Kinder und über die Kirchengemeinde.

      Eine noch größere Nähe zeigen auch die Schwarzweiß-Porträts eines Mannes nebenstehend und auf der nachfolgenden Seite. Diese fotografische Nähe erfordert in der Regel auch eine menschliche Nähe, selbst wenn es sich sonst um einen weitgehend Fremden handelt. Die Arbeit geht in diesen Fällen also über das reine Fotografieren hinaus, und nicht jeder Fotograf erträgt diese Nähe oder ist in der Lage, eine solche aufzubauen.

      Dass man den Fotografierten nach der Aufnahme das Bild auf dem Rückendisplay der Kamera zeigt und dabei auf mögliche Einwände eingeht, ist fast selbstverständlich. Das wirkliche Bildergebnis ergibt sich zumeist aber erst nach einer digitalen Ausarbeitung. Und natürlich sollte man sich dann mit einem gedruckten Bild in angemessener Größe im Nachhinein bedanken. Dies schafft oft eine Verbindung, die es erlaubt, wiederzukommen und bei Bedarf weitere und andere Porträts zu machen.

      Bei diesen Porträts und bei vielen anderen war es für die Fotografin von Vorteil, eine Frau zu sein und in den beiden ersten Fällen als Hebamme einen guten Zugang zu den Familien zu haben. Die Wahrscheinlichkeit, als Frau eine Absage zu bekommen, wenn man höflich fragt, ob man ein Porträt machen darf, ist relativ gering. Man muss sich aber trauen, muss sich die Zeit nehmen, muss für die richtige Umgebung sorgen, sollte bereits vor der Aufnahme das ›Bild‹ im Kopf haben. Und man muss als Fotograf auf die Person eingehen, die man porträtieren möchte, muss Nähe zulassen, muss Nähe und Vertrauen schaffen.

      Ein solches ›anderes Porträt‹ entstand, als die Fotografin mit einem Besucher bei einer Fotoausstellung, auf der sie einige Porträts zeigte, ins Gespräch kam. Daraus entwickelte sich ein Shooting. Dabei entstand gleich eine kleine Serie von Aufnahmen, von denen die nachfolgenden beiden Bilder nur einen kleinen Ausschnitt darstellen.

image

      Aus einem Gespräch auf einer Fotoausstellung ergab sich ein Shooting. Dabei entstand eine kleine Porträtserie dieses zunächst Fremden mit seinem ernsten eindrucksvollen Gesicht.

image

      Die Brennweite von 150 mm (KB-äquivalent) erlaubt eine optische Nähe bei etwas größerem Aufnahmeabstand. Wesentliches Element sind die Augen sowie die nach hinten schnell abnehmende Schärfe. Der angeschnittene Kopf verstärkt die Wirkung der Augen.

      Gelingt es, Kinder oder Jugendliche für Aufnahmen zu gewinnen, so können sich interessante Porträts oder andere Szenen ergeben. Dabei gilt es immer die Szene und Situation an die eigene fotografische Vorstellung anzupassen (oder umgekehrt). Während es bei Kindern oft nur kurz gelingt, die Aufmerksamkeit und Konzentration aufrecht zu erhalten, geht dies bei Jugendlichen schon deutlich besser.

      Die Aufnahme der achtjährigen Annika nimmt schon etwas mehr Zeit in Anspruch, setzt aber auch die volle Kooperation der Fotografierten voraus. Und beim Überzeugen und Motivieren von Menschen ist Magdalene ein Profi. Mit ihrer gewinnenden, freundlichen Art gelingt es ihr (fast) immer, die porträtierte Person auf die Reise mitzunehmen, welche die Fotografin im Kopf hat.

      Auf dem Rücken liegend auf einer schwarzen Decke und das prächtige rote Haar weit wie ein Fächer verteilt sowie mit Kornblumen geschmückt, entstand diese Aufnahme. Während Magdalene in der Nachbearbeitung die helle, jugendlich glatte und zarte Hautfarbe beibehielt und sogar noch etwas aufhellte, wurden das Rot der Haare sowie das Blau der Kornblumen und des Pullovers nachträglich etwas intensiviert. Auch das Grün/Blau der Augen wurde verstärkt.

      Während die Model-Fotografie, wie wir sie in Kapitel 5 sehen, primär jüngere Menschen – zumeist jüngere Frauen – als ›fotografisches Objekt‹ einsetzt, erweisen sich gerade ältere Menschen und Kinder als ausgesprochen fotogen – auf ihre eigene Art. Wenn es dann bei älteren Menschen gelingt, den Charakter des Alters, die Lebenserfahrung, die sich im Gesicht oder in der Haltung widerspiegelt, das Durchleben von guten und harten Zeiten im Bild einzufangen, so hat man mehr als nur einen Schnappschuss, muss sich dafür aber auch mehr Zeit nehmen. Solche Bilder werden zugegebenermaßen eher von älteren Menschen gewürdigt, haben oft aber auch etwas Bleibendes, Zeitloses.

      Schwarzweißaufnahmen werden dabei dem älteren Menschen oft besser gerecht als Farbbilder. Nicht nur dadurch, dass die Farbe-nach-Schwarzweiß-Umwandlung dem Fotografen viel Spielraum in der Nachbearbeitung gibt, sondern sie reduziert auch die Problematik von eventuell unschönen Leber- und anderen Hautflecken. Diese lassen sich mit einer entsprechenden Schwarzweiß-Umwandlung einfacher etwas aufhellen und damit optisch zurücknehmen.

image

      Eine etwas andere Art von Porträt: natürlich arrangiert und gut vorbereitet sowie passend nachbearbeitet. Solche Shootings können beiden Parteien viel Spaß bereiten, insbesondere wenn ein solches Ergebnis erzielt wird. Sie setzen aber beim Porträtierten Vertrauen und Kooperation voraus. Hier liegt Annika auf einer schwarzen Decke im Freien im Gras. Die Fotografin steht auf einer kleinen Mauer, um möglichst eine Vogelperspektive zur erzielen. Der höhere Blendenwert von f/5,6 wird hier benötigt, um auch das Haar scharf wiederzugeben. Die Blende 5,6 an einer MFT- Kamera erzeugt eine Schärfentiefe, die f/11 an einer Vollformatkamera bei gleichem Ausschnitt entspricht. (Olympus OM-D E-M5 MarkII mit M.Zuiko 12–40 mm F2,8 bei 19 mm (38 mm KB-äquivalent), 1/50 s, f/5,6, ISO 200)

      Auf die bei Models oft gewünschte Glättung der Haut – teilweise bis zum Glattbügeln durchgeführt (und oft so auch gewünscht) – kann man hier verzichten. Poren, Falten und Flecken machen den Charakter der meisten Älteren aus, geben dem Bild Stil und Authentizität, ohne zu entstellen. Ein zuweilen falsches, aufgesetztes Lächeln kann bei solchen Aufnahmen entfallen.

      Bei Kindern hingegen wirken deren eigene, oft niedlichen Formen und Farben, die junge, glatte und ›unverbrauchte‹ Haut. Dann gilt es, die Unbefangenheit, das Kindliche oder Jugendliche einzufangen.

      Die Kunst ist es dabei, die Person in einen entspannten Zustand zu bringen und einen möglichst natürlichen Gesichtsausdruck zu erzielen. Augen und Mund sind die kritischen Elemente solcher Aufnahmen, der Hintergrund, sofern er nicht zur Szene als ›Umgebung‹ beschreibend beiträgt, muss in der Aufnahme stark zurücktreten, möglichst


Скачать книгу