Mit Feuer vom Himmel. Ruth Zenkert
Eine solche Verbundenheit hat Jesus mit seinen Schülern. Er erklärt die enge Beziehung mit dem Bild des Weinstocks und der Rebe. Leicht verständlich für einen Galiläer, denn überall sind Weinberge. Jeder kennt die mühsame Arbeit des Weinbauers, wenn er die einzelnen Stöcke beschneiden muss. Das unbrauchbare Gestrüpp wird weggeschnitten und ins Feuer geworfen. Die Reben, die am Weinstock bleiben, tragen im Herbst süße Früchte. Dann wird aus den Trauben Wein, der Trank der Freude, bereitet. Die Propheten bezeichnen das Volk Israel als Weinstock, auch Jesus versteht sich als Weinstock – der Winzer ist Gott, der ihn eingepflanzt hat und sich liebevoll um jede Rebe kümmert. Wie der Winzer in seiner Sorge um die Rebe am Weinstock, so verbunden ist Jesus mit seinem Vater. Das gibt ihm den Lebenssaft, mit dem er sein Werk aufbauen konnte. Unter seinen Anhängern findet er die Schüler, die mit ihm ebenso verbunden sind. Ihnen übergibt er sein Werk, sie gründen Neues. Antoaneta kann unser neues Sozialzentrum leiten, weil sie bei uns und mit unseren Schützlingen verwurzelt ist. Die Verbundenheit, die zwischen uns gewachsen ist, gibt nicht nur ihr, sondern auch mir viel Kraft.
Mit wem bin ich verbunden? Welche Beziehung trägt Früchte? Wer ist in einem Unternehmen so verwurzelt, dass um ihn herum Neues wachsen kann?
Wie die Rebe aus sich keine Frucht bringen kann, sondern nur, wenn sie am Weinstock bleibt, so auch ihr, wenn ihr nicht in mir bleibt.
JOHANNES 15,4
Von dem Versuch, Engel zu sehen
Barrieren lösen sich auf. Menschen bekommen stärkere Konturen. Es stärkt das positive Denken.
Georg Sporschill
Mittags zieht eine Karawane von Kindern von der Dorfschule in unser Sozialzentrum. Unterwegs reihen sich einige kleine wilde Gestalten ein, ohne Schultasche. Die Schülerinnen in unserer Haushaltsschule haben gekocht und servieren den Kindern eine Mahlzeit. Für die meisten ist es das einzige Essen am Tag. Die Kinder drängen sich an die Tische. Immer gibt es Streit um die Plätze, an denen zuerst ausgeschöpft wird. Und ich staune: Gerade die Schwierigen wollen neben Aron sitzen. Aron ist ein Volontär, der nach der Schule nicht so recht wusste, was er wollte. Er begann ein Studium, war aber schon nach wenigen Wochen nie mehr an der Uni. Seine Energie steckte er vor allem in den Widerstand gegen die Mutter. Und eines Tages fragte er, ob er bei uns mitarbeiten könne. Um dann hier seinen Protest gegen die Erwachsenen fortzusetzen. Er war stets schlecht gelaunt, hatte einen aufmüpfigen, rotzigen Ton. Einmal wurde es mir zu bunt, und ich ermahnte Aron, sich zu benehmen, wenigstens »Guten Morgen« zu sagen.
Gerne hätte ich einmal mit ihm über sein wirkliches Problem gesprochen, aber er ließ niemanden an sich heran. Und nun sehe ich, dass die wilde Bande an seinem Hemd zieht, sie wollen bei ihm sitzen, mit ihm essen. Diese Beobachtung hilft mir, mit Aron umzugehen. Plötzlich sehe ich in ihm den Freund der Kinder. Sie spüren seine Kraft und Liebe, vielleicht auch, dass er sie deshalb so gut versteht, weil er selber schwierig ist. Plötzlich sehe ich in Aron einen Engel. Er, der große Bruder, läuft nach dem Essen hinaus aufs Fußballfeld, die wilden Burschen folgen ihm.
Engel sind in den biblischen Sprachen – Hebräisch, Griechisch, Lateinisch – einfach Boten, die modernen Sprachen unterscheiden zwischen himmlischen und irdischen Boten. Und doch ist es ein fließender Übergang zwischen den zwei Welten. »Lieber Gott, ich danke dir für den Engel neben mir«, beten unsere Straßenkinder mit Inbrunst und schauen dabei links und rechts auf ihre großen und kleinen Freunde. Sie spüren die Nähe Gottes in einer Familie, die ihnen geschenkt wurde, ihnen, die keine Familie hatten. Engel sind bei ihnen, Engel, die mit ihnen lernen, Engel, die sie begleiten und selbstbewusst auftreten lassen. Das ist unmittelbare Gotteserfahrung, wie sie Geheilten geschenkt wird.
Maria von Magdala, die Frau, die Jesus so nahestand, nachdem er sie von einer schweren psychischen Belastung geheilt hatte, sah zwei Engel in weißen Gewändern, »den einen dort, wo der Kopf, den anderen dort, wo die Füße des Leichnams Jesu gelegen hatten«. Während die Frau Engel sah und die Botschaft der Liebe empfing, sahen Johannes und Petrus das leere Grab, die Leinenbinden und das Schweißtuch, und hielten diese äußeren Fakten im Evangelium fest.
Was ändert es in der Beziehung, wenn ich Engel sehen kann? Barrieren lösen sich auf. Menschen bekommen stärkere Konturen. Es stärkt das positive Denken. Ich sehe einen Menschen milder, barmherziger, hoffnungsvoller.
Da sah sie zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, den einen dort, wo der Kopf, den anderen dort, wo die Füße des Leichnams Jesu gelegen hatten.
JOHANNES 20,12
Erinnere dich daran, wie du verliebt warst
Es braucht die Verliebten, die einen tieferen Blick als die Normalen haben. Sie können andere in Bewegung setzen.
Georg Sporschill
Nach einem Monat Sprachkurs und Einschulung wurden den neuen Volontären die Aufgaben im Sozialprojekt zugeteilt. Auf der einen Seite waren die Fähigkeiten der jungen Leute zu berücksichtigen, auf der anderen Seite mussten die Bedürfnisse in unserem Werk abgedeckt werden. Ich suchte noch eine Unterstützung für das Sportprogramm der Mädchen im Sozialzentrum. Zu meiner Überraschung meldete sich Angelika. Das hatte ich nicht erwartet, da sie eher ihre künstlerische Begabung gezeigt und sich sportlich nicht beteiligt hatte. Angelika setzte sich unglaublich ein, sie hatte viele Ideen, mit denen sie die drogensüchtigen Mädchen von der Straße für die Körperübungen motivierte: Morgengymnastik, Volleyball, Badminton, Tischfußball, Hindernisläufe und abenteuerliche Wandertouren. Viele machten mit, ja sogar mehr und mehr Burschen waren plötzlich beim Mädchensport, obwohl sie bisher nur für Fußball zu begeistern gewesen waren. Wie konnte die eher unsportliche Angelika solche Energien entwickeln und bei anderen freisetzen? Bald kam ich dahinter: Sie war verliebt in Jan. Jan war verantwortlich für den Sport bei den Burschen. Da war nicht viel los. Sie wollte ihm imponieren – und nun hatte sie auch das Sportprogramm für die Burschen auf den Kopf gestellt. Jan wurde mitgerissen. Das ganze Sozialzentrum kam mir manchmal vor wie ein kleines Olympiatrainingslager. Und Angelika gewann Jan für sich. Sie wurden ein Paar.
Mich erinnert die Geschichte an Adam und Eva im Paradies. Eva hatte mehr Mumm als Adam. Sie wollte vom Baum der Erkenntnis essen, weil er »eine Augenweide war und begehrenswert war, um klug zu werden« (Genesis 3,6). Dann brachte sie Adam dazu, davon zu essen. Da sollten ihnen die Augen aufgehen, sie wurden wie Gott und erkannten Gut und Böse. Jetzt trugen sie selber Verantwortung mit Mühen und Zweifeln, weil ihnen die Leichtigkeit der Kindheit genommen war. Die aufgeweckte Eva hatte Adam zum Lernen gebracht, zur Unterscheidung der Geister.
Verliebt wie Eva, wie Angelika, ist Maria von Magdala. In ihrer Sensibilität für Jesus nimmt sie am Grab das Neue wahr und muss es weitersagen. Was sie – befähigt durch die besondere Liebe – sieht und hört, macht sie zur Künderin für die anderen Schüler Jesu. Maria von Magdala steht zum Herrn, auch in der neuen Situation des Verlassenseins. Als Erwachsene begegnet sie ihrem Geliebten auf neue Weise, sehend, hörend, kündend. Sie bleibt nicht von der Trennung gelähmt, sondern wird aktiv. Sie hat etwas zu sagen und bringt andere in Bewegung. Sie wächst mit ihnen im Glauben.
Eva, Maria von Magdala und Angelika, drei gefühlsstarke Frauen, die andere in Bewegung setzen.
Wo sind bei uns Menschen mit herausragendem Gespür, Menschen, die mehr wahrnehmen als die »Normalen«? Wann habe ich eine Liebe empfunden, die mich tiefer schauen ließ, als andere es konnten? Die mich Neues hören ließ, wo andere noch nicht einmal sahen?
Maria von Magdala kam zu den Jüngern und verkündete ihnen: Ich habe den Herrn gesehen. Und sie berichtete, was er ihr gesagt hatte.
JOHANNES 20,18
Feuer und Wasser
Begeisterung und Verlässlichkeit, Herz und Verstand – worin liegt deine Stärke? Welche Ergänzung brauchst du?
Ruth Zenkert
Wochenende