BEUTEZEIT - Manche Legenden sind wahr. Lee Murray

BEUTEZEIT - Manche Legenden sind wahr - Lee Murray


Скачать книгу
aus und untersuchte die geschwollene Blase an seinem Fußballen.

       Mist, die wird morgen wehtun.

      Das Licht wurde schwächer, und er kramte in seinem Rucksack nach dem Verbandskasten, um damit seine Wunde zu versorgen. Als er das Erste-Hilfe-Set wieder verstaute, reichte ihm Cam eine Tasse mit heißem Tee.

      »Runter damit, Kumpel.«

      Terry legte seine Hände um die warme Tasse und blies über die dampfende Flüssigkeit. Das Feuer knackte, ein Geräusch wie das Öffnen einer Limonadendose, und die Fanta-farbenen Flammen erhellten den Zeltplatz. Fasziniert nippte Terry an dem heißen Getränk und kam zu dem Schluss, dass alles halb so wild war. Sie hatten sich nicht wirklich verirrt, sondern wussten im Moment nur nicht so genau, wo sie sich befanden. Cam hatte recht. Alles, was sie brauchten, war eine Mütze voll Schlaf. Morgen würden sie weitersehen.

      ***

      Als Terry erwachte, bemerkte er, dass der Platz neben ihm leer war. Er tastete nach seiner Uhr und sah nach der Zeit. 00:23 Uhr. Cam musste pinkeln gegangen sein. Terry hörte, wie er vor dem Zelt herumstapfte. Meine Güte, Cam, wie schwer kann es sein, einen Platz zum Pissen zu finden? Terry stemmte sich auf den Ellbogen und gab seinem Kissen – oder vielmehr dem Haufen aus schmutziger Wäsche – einen Klaps, um ihn in eine komfortablere Form zu bringen, und rutschte ein wenig zur Seite, um das lästige Piesacken loszuwerden, dass sich durch die Unterlegplane in seine Hüfte bohrte. Danach grub er sich tief in seinen Schlafsack ein und zog sich den Stoff bis übers Kinn. Er war beinahe wieder im Land der Träume angelangt, als Cams Schrei durch die Nacht hallte.

      »Herrgott, Camp!« Terry kroch aus seinem Schlafsack und stürmte aus dem Zelt. Dann blieb er stehen. Der Zeltplatz war ein Flickenteppich aus Schatten, das Lagerfeuer längst erloschen.

      »Cam?«

      Nichts. Meilenweit von jeglicher Zivilisation entfernt, erschien ihm die Stille gespenstisch, so als würde der Wald selbst den Atem anhalten.

      »Cam?«, rief Terry erneut. »Hör mit dem Quatsch auf, okay? Du machst mir eine Scheißangst.«

      Die Luft wog seltsam schwer. Er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten.

      »Cam, geht es dir gut?«, fragte er und griff hinter sich, unter die Zeltplane, nach seinen Stiefeln. Er lauschte angestrengt und vernahm ein entferntes Rascheln. Ohne sich mit den Schnürsenkeln aufzuhalten, schlüpfte er in die Stiefel und zuckte kurz zusammen, als er sich seine Blase anstieß. Danach durchquerte er den Zeltplatz in Richtung des Geräusches. Dabei tastete er sich vorsichtig voran, prüfte zuerst die Beschaffenheit des Untergrundes, bevor er den Fuß absetzte. Camp hatte vorhin ziemlichen Krach geschlagen, als er hier draußen herumgestapft war. War er vielleicht über ein Erdloch gestolpert und hatte sich dabei selbst ausgeknockt? Oder hatte er sich vielleicht zu weit von ihrem Zeltplatz entfernt und fand nun nicht mehr zurück? Wobei, wenn das der Fall gewesen wäre, hätte er sicherlich nach ihm gerufen. Terry kam zu dem Schluss, dass Cam sich verletzt haben musste. Was aber musste in Cam gefahren sein, um im Dunkeln auf Tiki-Tour zu gehen? Man musste schließlich nicht aus allem gleich ein verdammtes Querfeldein-Abenteuer machen. Wieso konnte er nicht einfach in die Büsche hinter dem Zelt pinkeln? Terry stieß sich das Knie an einem Felsen an.

      »Fuck!«

      Moment. Da war noch ein Geräusch zu hören. Ein Wimmern …

      »Cam? Kannst du mich hören?« Terry blieb wie angewurzelt stehen, lauschte nach seinem Freund und versuchte die Panik zu unterdrücken, die sich in seinen Eingeweiden ausbreitete. Totenstille. Cam muss bewusstlos sein. Terry hoffte, dass es nichts Ernstes sein würde. Er beschleunigte sein Tempo, versuchte sich seinen Weg durch die Finsternis zu bahnen, aber in Gedanken war er bereits woanders. Wie sollten sie wieder aus dem Busch kommen, wenn Cam verletzt war? Wahrscheinlich blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Köpfe einzuziehen und ein Such- und Rettungsteam anzufordern. Vorausgesetzt, dass sie hier draußen Empfang haben würden. Aber selbst wenn sie durchkämen und jemanden erreichten, hatte Terry keine Ahnung, wo sie sich gerade befanden. Der Waldpark erstreckte sich über mehr als zweitausend Quadratkilometer. Es würde Tage dauern, bis man sie fand.

      Terry schüttelte den Kopf, verärgert darüber, dass seine Fantasie mit ihm durchging. Zuerst einmal musste er Cam finden. Darüber, wie er ihn aus dem Wald schaffen konnte, würde er später nachdenken.

      Am Rand ihres Lagers stolperte Terry über einen umgestürzten Baumstamm, schrammte sich das Kinn auf und landete mit dem Kopf voran in einem schwammigen Farngestrüpp. Benommen und verwirrt rappelte er sich wieder auf und tastete im Dunkeln nach dem Hindernis, um nicht ein zweites Mal darüberzufallen. Seine Finger berührten einen Stiefel. Terry spürte einen Anfall von Erleichterung. Cam war offenbar über den gleichen Stamm gestolpert.

      »Cam«, rief er erleichtert. »Is‘ schon okay, Kumpel, ich hab dich gefunden. Alles wird gut.«

      Cam antwortete ihm nicht und bestätigte damit Terrys Vermutung. Der Trottel war herumgelaufen und hatte sich selbst an einem Felsbrocken oder einem Baumstumpf oder so die Lichter ausgeschossen, eine Gehirnerschütterung geholt. Terry tastete Cams Beine nach oben ab und stellte dabei erleichtert fest, dass zumindest keine Knochen gebrochen waren.

       Was zum Teufel?

      Terry begann zu schlottern, als sein Körper bereits erkannte, was sein Geist noch zu verstehen versuchte. Er hob seine Finger an sein Gesicht und schnüffelte an dem feuchten Film, der dort kleben geblieben war. Metallisch. Das war kein Tau. Entsetzt riss Terry seine Hände zurück. Cams Oberkörper fehlte.

      »Heilige Jungfrau Maria!«

      Cam war in der Mitte halbiert worden. Terry, der nach Luft rang, sprang auf die Füße, taumelte zurück, taste mit seinen blutigen Händen um sich, während ein leises Wimmern in ihm aufstieg. Wie konnte das passieren? Aber er würde nicht darauf warten, es herauszufinden. Er musste so schnell wie möglich von hier verschwinden.

      Terry kehrte dem Rest von dem, was von Cam noch übrig war, den Rücken zu und stürmte zu dem Zelt zurück, stürzte sich kopfüber in die Dunkelheit und ignorierte dabei die Zweige, die ihm ins Gesicht und gegen seine Arme stachen. Er hatte die Hälfte der Lichtung überquert, als der Mond durch das Laubdach des Waldes lugte, den Zeltplatz erhellte und Terry klar wurde, dass der Weg aus dem Urwald seine geringste Sorge sein würde.

      Kapitel 2

       Maungapōhatu, Te Urewera, Ende März

      Rawiri Temera saß in einem zusammenklappbaren Strandkorb auf der hinteren Veranda des Farmhauses, rauchte eine Zigarette und lauschte dem vertrauten Geschnatter der Kuckuckskäuze und der Wekarallen. In manchen Nächten konnte Temera von diesem Punkt aus die zerklüftete Silhouette des Te Maunga vor dem dunklen Nachthimmel erkennen, den äußersten Gipfel der Huiarau-Gebirgskette der Urewera-Region. Heute Nacht aber hatte Hinepūkohurangi, die Jungfrau des Nebels, das Bergmassiv mit ihrem grauen Schleier eingehüllt, und der Geruch von Temeras Tabak überdeckte ihr erdiges Parfüm.

      Wie viele Nächte er wohl noch auf dieser Veranda verbringen würde? Nicht mehr viele – so die Überzeugung seines Großneffen Wayne – wenn Temera nicht mit dem Rauchen aufhören würde. Er aber ignorierte den Rat seines Neffen. Zumindest ein Laster sollte einem Mann vergönnt sein. Und mit dreiundachtzig Jahren waren ihm nicht mehr sehr viele Freuden im Leben geblieben. Selbst die Fahrt ins Tal und zurück erschien ihm mittlerweile als eine Qual, denn das Holpern des Lasters rüttelte ihn stets bis auf die Knochen durch und ließ ihn mit den Zähnen klappern. Vielleicht würde dies der letzte Besuch seines kāinga tipu sein, des abgeschiedenen Familiensitzes.

      Temera schnippte etwas Asche in den Garten, schürzte die Lippen wie ein Klarinettenspieler, atmete geräuschvoll aus und streckte dabei seine Beine. In der Ferne hörte er etwas, das sich nach einem Motorengeräusch anhörte, aber er erwartete niemanden. Maungapōhatu lag viel zu weit abseits der ausgetretenen Touristenpfade, als dass hier Besucher für eine Tasse Tee und Ingwerplätzchen aufgetaucht wären. Es war alles andere als eine Touristenattraktion,


Скачать книгу