BEUTEZEIT - Manche Legenden sind wahr. Lee Murray

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beinahe eine Stunde lang über ihrer Siedlung und suchte nach einem dämlichen Jäger, der sich von seiner Gruppe getrennt hatte, um einem verwundeten Hirsch nachzujagen. Das war das größte Tamtam gewesen, dass sie in dieser Gegend erlebt hatten, seit sich der alte Kriegshäuptling Murakareke im Schlaf auf die Seite gewälzt und dabei seine Kronjuwelen im Feuer versengt hatte. Temera drückte seine Zigarette in einer alten Muschelschale aus, lehnte sich in seinem Strandkorb zurück und schloss die Augen …

      Der Kuckuckskauz schrie. Der Ruf der Eule drang melancholisch aus der Ferne heran. Aus der dunklen Masse des Waldes tauchte ein Umriss auf, wurde immer größer, als hätte sich der Berg selbst losgerissen und würde nun ins Tal stürzen. Seine wechselhafte Form kam näher, bis sie nur noch wenige Meter von seinem Haus trennten und ihr Schatten über den Garten fiel.

       Ein Taniwha, ein Monster aus den Legenden.

      Temera wusste, dass die Anwesenheit des Taniwha bedeuten musste, dass er träumte. Noch nie zuvor hatte er einen Taniwha gesehen, aber er hatte genug von ihnen gehört, um ihn zu erkennen, wenn er ihn vor sich sah, Dunkelheit hin oder her. Hier in Kupes Wahlheimat kannte jedes Kind die Geschichten über die Taniwha – rachsüchtige Monster, die Krieger abschlachteten, Jungfrauen entführten und Babys mit Haut und Haaren verspeisten. Schauergeschichten, die Großmütter ihren Kindern immer und immer wieder erzählten. Aber Taniwhas waren nicht nur räuberisch – sie konnten auch Beschützer sein, wachten über Flüsse und Berge und bewahrten die Stammesangehörigen vor Schaden, indem sie sie vor drohenden Gefahren warnten.

      Und dieser Taniwha? War er ein Freund oder ein Feind?

      Zumindest erinnerte sich Temera noch, was er zu tun hatte. Leise atmete er aus und murmelte dabei einige Worte der Ehrfurcht. Ein Karakia-Gebet, zu Ehren seines Besuchers.

      Kapitel 3

       Landsafe Laboratories, Hamilton, Anfang Juni

      Das dumpfe Knallen der Türen war zu hören. Jules schob sich von ihrem Computer zurück und sah den Gang des Labors hinunter. Es war Richard, ihr Boss. Die schwere Doppeltür schwang hinter ihm zu, während er mit zwei Kaffeebechern in der Hand auf sie zukam. Graubraune Haare fielen ihm übers Gesicht, er lächelte. Mit seinen Gummisohlen, die über das polierte Linoleum quietschten, hätte man Richard nur schwerlich für den CEO des Crown Research Institutes gehalten. Er war eher der Typ Versicherungsvertreter oder Verwaltungsangestellter, oder vielleicht sogar Comedian, obwohl seine einzigen Stand-ups während wissenschaftlicher Symposien stattfanden, etwa viermal im Jahr. Er war ein wirklich guter Wissenschaftler, mit einem Doktortitel aus Canterbury, Post-Doktorandenstellen an den Universitäten von Texas und Cambridge, Mitgliedschaften in einigen der angesehensten wissenschaftlichen Komitees und ökologischer praktischer Erfahrung auf drei Kontinenten.

      Und er war in sie verliebt.

      Nicht, dass Jules irgendetwas getan hätte, um ihn dazu zu ermutigen – nun, außer den üblichen Neckereien im Büro eben. Sie fühlte nur nicht dasselbe für ihn. Wobei, wenn sie ganz ehrlich zu sich war, hätte sie es bedeutend schlechter treffen können. Er war ein guter Freund. Aber diese Filme mit Jake Gyllenhaal, die Hollywood am laufenden Band produzierte, gaben ihr das Gefühl, dass da noch jemand anderes auf sie wartete. Jemand Besonderes.

      Richard reichte ihr einen Kaffee. »Milch, ohne Zucker, nicht wahr?«

      Jules nahm den Kaffee entgegen und bedachte ihn mit einem Lächeln, von dem sie hoffte, dass es rein professionell wirkte. Sie nahm einen vorsichtigen Schluck. Der Inhalt war noch heiß. Richard musste den ganzen Weg von der Kantine zurückgerannt sein.

      »Okay, was gibt‘s?«, wollte sie wissen, eine Hand in die Hüfte gestemmt.

      Richard strich sich seinen Pony mit den Fingern aus dem Gesicht. »Was es gibt? Wieso sollte es etwas geben?«

      Jules hob vielsagend ihren Kaffeebecher, gefolgt von ihren Augenbrauen.

      »Es ist doch nicht verboten, einem Mitarbeiter einen Kaffee zu bringen, Dr. Asher.«

      Jules trommelte mit ihren Fingern auf den Tisch. »Hast du Mal auch einen gebracht?«

      »Hey, ich habe schließlich nur zwei Hände«, protestierte Richard.

      Jules warf ihm über den Rand ihres Bechers einen durchdringenden Blick zu und nahm einen weiteren Schluck.

      Die Rollen eines Drehstuhls klapperten über das Linoleum, dann setzte sich Richard neben sie, seinen Kaffee in der Hand, die Ellbogen auf den abgewetzten Knien seiner Cordhose. »Okay, um die Wahrheit zu sagen, komme ich gerade von einem Telefonat mit dem Minister für Naturschutz.«

      »Der Minister.« Jules lehnte sich zurück. »Sollte ich jetzt erschrocken oder neugierig sein?«

      »Keine Panik. Soweit ich das sagen kann, gibt es keine Pläne, Landsafe zu verkaufen.« Er warf ihr ein ironisches Lächeln zu. »Zumindest nicht diese Woche. Nein, es geht um das Gold, das man im Te-Urewera-Nationalpark gefunden hat. Hast du die Nachrichtenmeldung gesehen?«

      »Die beiden Aussiee-Geologen, die im Urlaub hier waren?«, fragte Jules.

      Richard nickte.

      »Ich hab online darüber gelesen. Kommt es dir nicht seltsam vor, dass sie diesen Goldklumpen mitten auf dem Wanderweg gefunden haben wollen?«

      Richard verlagerte sein Gewicht und rollte etwas näher heran. »Das ist eigentlich gar nicht so ungewöhnlich. Die Aussies durchquerten ein Flussbett, als sie den Klumpen fanden. In den Flüssen taucht oft Gold auf. Was mir seltsam erscheint, ist, dass sie ihn den Behörden übergeben haben.«

      »Sie durften ihn nicht behalten«, antwortete Jules mit einem Schulterzucken. »Wusstest du, dass eine Silberader, selbst wenn du sie in deinem Gemüsebeet entdeckst, automatisch dem Staat gehört? Wahrscheinlich darf die Regierung dann sogar deine Karotten beschlagnahmen.«

      »Schon, aber der Goldklumpen besaß die Größe eines iPhones; eintausendsechshundert Gramm nahezu puren Goldes. Vierundfünfzig Feinunzen, wie der Minister mir verriet. Beim aktuellen Kurs etwa einhunderttausend US-Dollar wert. Stell dir doch nur mal vor, was man mit so viel Geld alles anfangen könnte.«

      »Für ein Nugget? Wow. Aber ich glaube kaum, dass der Minister dich anrief, um mit uns zu teilen.«

      Richard verzog das Gesicht. »Ich wünschte! Nein. Vielmehr wollte er wissen, ob es dort noch mehr geben könnte.«

      Jules biss auf den Rand des Pappbechers und wartete darauf, dass Richard fortfuhr.

      »Also haben die Minister den Artikel 4 zum Schutz von Naturschutzgebieten für nichtig erklärt und eine spezielle Schürflizenz erteilt. Sie beabsichtigen, eine Spezialeinheit auszusenden, um zu püfen, ob dort möglicherweise Gold abgebaut werden kann. Und wir wurden damit beauftragt, die möglichen Auswirkungen auf die Umwelt abzuschätzen.«

      Jules Puls beschleunigte sich. Natürlich musste Landsafe zurate gezogen werden. Jede mögliche Gewinnung musste mit den Naturschutzbestimmungen in Einklang gebracht werden.

      »Allerdings hat mich die Einstellung der Tūhoe überrascht«, sagte Richard und schnipste die Haarsträhnen weg, die ihm immer wieder ins Gesicht fielen. »Ich hätte gedacht, dass sie als Nebenvormund Einwände erheben würden, wenn plötzlich eine Gruppe von Fremden durch ihr Stammesgebiet latscht und Löcher bohrt. Aber die Stammesältesten gaben ihre Zustimmung.«

      Jules klammerte ihre Finger fester um ihren Becher. »Ich schätze, sie haben die wirtschaftlichen Vorteile erkannt«, antwortete sie und versuchte unbeeindruckt zu klingen.

      »Wahrscheinlich«, stimmte Richard ihr zu. »Da oben gibt es nicht viel Arbeit. Aber wie du schon sagtest – die Regierung müsste die Landeigentümer gar nicht erst um Erlaubnis bitten.«

       Jetzt kommt‘s.

      Jules hielt den Atem an.

      »Diese Spezialeinheit … ich will, dass du sie begleitest, Jules.«

      Das


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