BEUTEZEIT - Manche Legenden sind wahr. Lee Murray

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verschwand, war ein Farmer namens Samuel Waaka. Ihm gehört ein kleiner Laden im Park. Seine Frau meldete ihn als vermisst.«

      »Wieso hört man davon nichts in den Nachrichten?«

      »Die Stimmung unter den Einheimischen ist noch etwas angespannt, seit die Polizei vor einigen Jahren in den Ureweras Durchsuchungen im Zusammenhang mit Terroristen durchführte. Das ist Stammesgebiet der Tūhoe. Die Behörden halten die Informationen vorerst lieber geheim, besonders diese Vermisstenfälle, falls es sich dabei um das Werk separatistischer Tūhoes handeln sollte.«

      McKenna nickte. »Ich zählte neun Vermisste, Sir, aber ich glaube, sie sprachen von vierzehn.«

      »Der Rest sind Ihre Jungs. Im Einsatz vermisst.« James wischte sich mit den Händen über sein Gesicht. McKenna sagte nichts. »Wir haben sie vor zehn Tagen ausgesandt, nachdem der Job von der Polizei auf die Armee überging. Unsere Jungs folgten einer Spur des Ministeriums für Naturschutz – ein blutiger Handschuh, der einem der vermissten Wanderer gehörte. Am sechsten Tag ihres Einsatzes meldete Corporal Gavin Masterton, dass sie die Überreste einer etwa fünfundvierzig Jahre alten Frau gefunden hatten. Mastertons Beschreibung nach könnte es sich dabei um eine Frau aus der Otago-Gruppe gehandelt haben. Die Funkoffizierin, die den Ruf entgegennahm, sagte aus, dass Masterton sich aufgewühlt anhörte. Sie sagte … hier, lesen Sie selbst.« James schob McKenna die Akte über den Tisch zu und tippte auf die entsprechende Seite. »Das hier ist die Mitschrift.«

      McKenna nahm die Akte zur Hand und las.

      Masterton: 12. Mai, 17.00 Uhr. Hier spricht Corporal Gavin Masterton. Unsere gegenwärtige Position beträgt XXXX, etwa einen halben Tagesmarsch von der Mangatoatoa-Hütte entfernt, in einem dicht bewaldeten Gebiet. {bis zu diesem Zeitpunkt wirkt der Offizier gefasst}. Wir haben eine Leiche entdeckt … eine Frau. {die Stimme des Offiziers beginnt zu beben} Um die vierzig, fünfundvierzig vielleicht. Wir glauben, dass sie zu der Otago-Wandergruppe gehört, obwohl wir die restlichen ihrer Gefährten noch nicht lokalisieren konnten. Ihr Körper ist ausgezehrt und ihre Extremitäten weisen eine Vielzahl verheilter Kratzer und einige abgebrochene Nägel auf, was typisch dafür ist, wenn man wie sie für einige Zeit im Wald umherirrte. {seufzt schwer} Sie … ihr Körper … er ist … {unverständlich}

      Funkerin: Könnten Sie den letzten Satz noch einmal wiederholen, Corporal?

      Masterton: Sie wurde verstümmelt. Ermordet. Ihr Mageninhalt … {der Offizier bricht ab}

      Funkerin: Corporal Masterton?

      Masterton: Wer immer das getan hat … muss sie offenbar gefoltert haben. Wir glauben, dass das Opfer noch am Leben war, als das geschah. Ihre Augen … {es folgt eine fünfsekündige Pause. Ringt der Offizier nach Fassung?} Wir glauben nicht, dass sie schon lange tot ist. Einen Tag, vielleicht zwei, was bedeutet, dass wer immer dafür verantwortlich ist, sich noch in der Gegend befinden muss. Wir werden die Leiche vorerst hier zurücklassen – Pollock packt sie gerade in einen Leichensack – und unsere Suche ausweiten. Vor wenigen Tagen war diese Frau noch am Leben, also gibt es vielleicht noch weitere Überlebende.

      Mit besorgter Miene blickte McKenna von der Mitschrift auf. »Das war kein Unfall.«

      James atmete langsam aus. »Ich habe mir Mastertons Dienstakte angesehen, seine Versetzungen. Er war in einigen Gefechten und hat schon einiges an Gräueltaten erlebt. Wenn er also auf diese Weise reagiert …«

      James stand auf, kehrte zu seinem Wachposten an dem Fenster zurück und nahm sich einen Moment Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Sein warmer Atem ließ das kalte Glas anlaufen, wo die Feuchtigkeit sich wie der Inhalt einer Lavalampe verformte und schließlich verschwand. Draußen vor dem Fenster ragte der schneebedeckte Gipfel des Ruahepus über dem Ozean aus Graslandschaft auf. »Mastertons Einheit hätte sich am darauffolgenden Morgen wieder über Funk melden sollen. Seither haben wir nichts mehr von ihnen gehört.«

      Er drehte sich um, stemmte seine Hände auf die Tischplatte und musterte McKenna mit starrem Blick. »Das Problem ist, dass wir sie auch nicht lokalisieren können. Der Urwald in den Ureweras ist so dicht, dass man eine Kleinstadt darin verbergen könnte und niemand sie je zu Gesicht bekäme – und der verdammte Nebel, der über die Region zieht, stört unsere Satellitenüberwachung …«

      »Wie lautet unser Auftrag, Boss?«, fragte McKenna rundheraus.

      »Ich will, dass Sie herausfinden, was verdammt noch mal dort draußen vor sich geht! Das Forschungsteam sorgt für Ihre Tarnung, und im Gegenzug werden Sie und Ihre Jungs für die Sicherheit der Zivilisten sorgen.«

      »Sir.« Das Stirnrunzeln des Sergeants war kaum wahrnehmbar.

      James, der plötzlich eine enorme Last auf sich spürte, ließ sich auf seinen Stuhl sinken. Er konnte dem Jungen nichts vormachen. Sie beide wussten nur zu gut, dass es nicht den Regularien der Armee entsprach, ein zweites Team auszusenden, wo ein erstes bereits gescheitert war.

      James fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Die Entsendung der ersten Einheit wurde genehmigt. Soweit es die da oben betrifft, sind die Jungs noch immer da draußen und suchen nach den vermissten neun Personen, während Ihr Team die Eskorte für die Sondereinheit bildet. Aber sollten Sie und Ihre Jungs irgendetwas Ungewöhnliches in diesem gottverdammten Wald finden, irgendetwas, das die Sicherheit der Neuseeländer gefährdet, zu deren Schutz wir verpflichtet sind, dann wird die Sache zu einer Angelegenheit für das Militär. Und wenn das passieren sollte, dann befinden Sie sich rein zufällig bereits dort draußen, als Eskorte des Forschungsteams.«

      »Verstanden, Sir«, sagte McKenna, schloss die Akte und erhob sich. »Und da der Platoon Lieutenant nicht hier ist …«

      James warf ihm ein grimmiges Lächeln zu. Er hatte sich also den richtigen Mann ausgesucht. Als Veteran in Timor-Leste, Afghanistan und Ägypten wusste McKenna das eine oder andere über Geheimmissionen.

      »Oh, und noch eine Sache, Sergeant«, sagte James leise.

      »Boss?«

      »Mein Großneffe Kevin gehörte der vermissten Einheit an.«

      ***

      Vor dem Bürogebäude fand Taine seinen Corporal, einen in Neuseeland geborenen Chinesen namens Jack Liu, in einem der Pinzgauer, mit dem sie aus Linton gekommen waren, zusammen mit Private Matt Read, einem der zwei neunzehnjährigen Grünschnäbel in McKennas Zug. Liu, der auf dem Beifahrersitz saß, hatte seinen rechten Stiefel lässig auf den offenen Türrahmen gelegt, während sein linkes Bein aus dem Fahrzeug hing und er sich mit einem kleinen Messer die Fingernägel säuberte. Seinen Spitznamen Coolie trug er nicht etwa wegen seiner chinesischen Abstammung, sondern weil er in Krisensituationen einen kühlen Kopf zu bewahren wusste. Der Soldat wirkte ansonsten beinahe weibisch, und normalerweise hätte ihn das in der Armee zu einem leichten Opfer für Spott gemacht, aber Coolies Vorsicht und seine schnelle Reaktionsfähigkeit hatten ihm den Ruf eines lautlosen kleinen Bastards eingebracht. Kein Soldat mit Verstand hätte es gewagt, sich von hinten an Coolie heranzuschleichen, nicht einmal im Spaß. Es sei denn, man wollte sich unbedingt den Schädel wegpusten lassen.

      Coolie nahm seinen Fuß von der Tür, als Taine sich näherte.

      »Haben Sie Ihren Auftrag erhalten?«, erkundigte sich Read. Der Neuling hatte an dem Fahrzeug gelehnt und sich gesonnt. Jetzt trat er vor und nahm die Ohrstöpsel aus seinen Ohren. »Dann starten wir jetzt?«

      »Trommeln Sie die anderen zusammen, Read. Wir brechen um 0800 auf. Es geht aufs Land, in die Urewera-Region.«

      Der Junge stopfte sich das Kopfhörerkabel in seine Tasche. »Wow! Wir springen über den Wäldern ab, Boss?« Taine musste über den Enthusiasmus des Jungen lächeln. Für Read glich jeder Tag einer Episode aus einem Marvel-Comic.

      »Keine Hubschrauber diesmal, Private.«

      »Aber das ist doch keine Trainingsübung, oder? Es ist ein richtiger Einsatz. Suchen wir nach einer Separatistenzelle oder so was?« Read blickte ihn hoffnungsfroh an.

      »Wir fahren so weit hinein, wie es möglich ist, und durchqueren den Wald dann zu Fuß. Es ist eine richtige


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