BEUTEZEIT - Manche Legenden sind wahr. Lee Murray

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»Ich stecke bis zum Hals in diesem Projekt.« Mit der Hand deutete sie auf ihren Monitor. »Was ist mit Mal? Kann er nicht mitgehen?«

      »Nein, kann er nicht, Jules. Seine Frau bekommt in zwei Wochen ihr Kind, und ich will Gabby auf keinen Fall in die Quere kommen – die Frau macht mir eine Heidenangst.« Er verzog das Gesicht zu einem unbehaglichen Grinsen.

      »Ich kann auch angsteinflößend sein«, flüsterte Jules.

      Richard lachte.

      Jules ließ ihr Kinn sinken und sah Richard unter ihren langen Wimpern hinweg an. »Und wenn ich dir verspreche, eine Woche lang die Reagenzgläser im Labor zu reinigen? Jeden einzelnen Erlenmeyerkolben?«

      Richard beugte sich nach vorn und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Jules, ich habe mein Bestes getan, um dich von dem Park fernzuhalten, aber es ist jetzt zwei Jahre her.«

      »Ich kann nicht gehen. Ich muss nach Sarah sehen.«

      »Es sind nur ein paar Tage. Und es gibt genügend andere, die sich um Sarah kümmern können.«

      »Ja, aber ich bin ihre beste Freundin.«

      »Sie wird es verstehen.«

      »Und wenn nicht?«

      »Jules …«

      »Richard, ich kann nicht. Es ist noch zu früh.«

      Richards Gesicht blieb ungerührt. »Jules … es gibt sonst niemanden.«

      Jules ließ den zerdrückten Pappbecher in den Mülleimer fallen und rieb sich mit der Hand übers Gesicht, versuchte die Tränen zurückzuhalten. Es war also soweit. Früher oder später musste es passieren. Richard konnte sie nicht ewig beschützen.

      Sie ließ ihre Unterarme auf den Tisch sinken. »Wann soll die Expedition starten?«

      »Du wirst morgen aufbrechen. Von Rotorua.«

      »Morgen schon! Du sagtest, es sei nur ein Vorschlag.«

      »Das ist die offizielle Darstellung.«

      »Aber es ist das Gebirge. Ich werde mir den Hintern abfrieren.«

      Richard strich sich wieder die Haare aus den Augen. »Stimmt, könnte frisch werden«, sagte er und warf seinen Kaffeebecher in den Papierkorb.

       Dinsdale, Hamilton, am selben Tag

      Jules betrat durch die Hintertür die Küche. Eine Frau um die fünfzig trat von einem Haufen geschnittenen Gemüses auf der Küchentheke zurück, und ihr gewaltiger Busen wabbelte dabei.

      »Hallo, Dr. Asher.«

      Jules hob eine Augenbraue und legte den Kopf schief.

      »Ich meine, Jules.«

      Jules schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Hallo, Carol-Ann. Wie lief es heute?«

      Die Pflegerin wischte ihre Hände an einem karierten Geschirrtuch ab. »Nicht übel, insgesamt. Wir hatten ein großartiges Mittagessen. Sind mit dem Wagen durch Rotorua und bis zum Blue Lake gefahren und haben ein Picknick am Strand gemacht.«

      »War es dafür nicht zu kalt?« Jules stellte ihre Handtasche auf einem Stuhl ab.

      »Wir haben uns warm eingepackt. Sarah ist gern dort, nah am Wasser und den Wäldern.« Carol-Ann senkte ihre Stimme zu einem Flüstern herab. »Allerdings ist sie heute Abend ein wenig melancholisch.«

      »Ihre Eltern?«

      Carol-Anne nickte. »Sie sind vor einer halben Stunde gegangen. Haben Sie durcheinandergebracht, wie üblich. Gehen Sie nur zu ihr, Liebes. Sie wird sich freuen, Sie zu sehen. Ich setze schnell das Abendessen auf, dann bringe ich Ihnen eine Tasse Tee.«

      Jules lief ins Wohnzimmer, wo sie der Fernseher begrüßte.

       »… Archie. Chris Tarrant hier. Neben mir im Studio sitzt gerade Phil. Er macht sich richtig gut, aber jetzt benötigt er ihre Hilfe bei der 16.000 Pfund-Frage …«

      Auf dem abgenutzten Sofa sitzend und mit einem Speichelfaden am Kinn, war Sarahs Gesicht das Bild absoluter Konzentration. Jules spürte einen Stich in ihrem Herzen, erinnerte sie ihr Anblick doch an einen anderen Abend, als ihre Freundin auf diesem Sofa saß. Sarah trug damals abgeschnittene Levis, hatte ihre langen Beine unter ihren Körper gezogen und aß indisches Essen aus einer Assiette, während sie mit vollem Mund davon plapperte, wie sie beide in der Karaoke-Nacht ein Team bilden sollten.

      »Hey Süße.« Jules gab Sarah einen Kuss auf die Stirn. Ihre Freundin sah auf, blaue Augen voller Wärme. Als das Rettungsteam sie noch lebend aus der Schlucht bergen konnte, war Jules vor Erleichterung überwältigt gewesen. Sarah, die immer schon eine Kämpfernatur gewesen war, hatte sieben Monate im Burwood-Krankenhaus verbringen müssen, um sich von dem schweren Schädeltrauma an ihrem Frontallappen zu erholen.

      »Kann ich das abschalten?«, fragte Jules und deutete auf den Fernseher.

      Sarah blickte sie verwirrt an, also nahm Jules die Fernbedienung zur Hand und schaltete den Fernseher aus. Arme Sarah. Während sie früher Marathons lief und Touch Rugby spielte, hatte Sarah nun Mühe, selbst die einfachsten alltäglichen Dinge zu verarbeiten: erst die Socken, dann die Schuhe und so weiter. Hin und wieder wurde sie aggressiv, offenbar eine Folge des Traumas, aber jeder wäre frustriert, gedemütigt und verdammt angepisst, wenn man sich nicht einmal mehr die eigenen Zähne putzen konnte.

      Manchmal wachte Jules schweißgebadet auf, weil sie den Unfall erneut in ihren Träumen durchlebte. Um ein Haar hätte sie an diesem Tag das Team durch die Wälder geführt. Es hätte sie sein können, die am Boden des Canyons lag und nun damit zu kämpfen hatte, die Fragen einer dämlichen Quizshow zu beantworten.

      »Carol-Ann sagte, dass ihr beide zum Blue Lake gefahren seid?«, erkundigte sich Jules freundlich.

      »Ha.« Jules versuchte, bei der einsilbigen Antwort nicht zusammenzuzucken. Eine Folge der Broca-Aphasie – das Gefängnis, in dem ihre Freundin gefangen war.

      »Freut mich, dass du etwas unternimmst. Ich werde auch für ein paar Tage weg sein. Ich fahre in die Ureweras.«

      Sarah antwortete ihr nicht.

      »Ich konnte mich dieses Mal nicht mehr drücken, Sarah«, sagte Jules leise. »Ich kann Richard nicht hängen lassen – er hat mich schon oft genug unterstützt.«

      »Charrd.«

      »Hey, fang bloß nicht damit an!«, lachte Jules. »Du bist ja noch schlimmer als meine Eltern. Richard ist ein Freund, das ist alles!« Sie ignorierte Sarahs Stirnrunzeln und fuhr fort. »Wie auch immer, es ist ein Bergbau-Explorationsteam im Naturschutzgebiet, und daher ein wenig geheimnisumwittert. Ich soll die Einhaltung der Vorschriften überwachen und für das Wohl der Ureinwohner sorgen.«

      Sarah verzog das Gesicht. Sie hob eine Hand und wackelte mit ihren Fingern.

      »Wie viele wir sein werden?«, fragte Jules, die versuchte, die Frage hinter Sarahs Geste zu erraten. »Ich weiß nicht. Morgen treffe ich die anderen. Wie stehen die Chancen, dass vielleicht ein toller Hecht darunter ist?«, witzelte sie.

      Sarah aber hatte bereits die Fernbedienung wiedergefunden, hieb auf die Tasten und schaltete den Fernseher wieder an. Chris Tarrants Stimme donnerte: »Oder D – keines davon. Wie lautet Ihre Antwort?«

       Die Kleinstadt Rotorua

      Temera erwachte und setzte sich kerzengerade in seinem Bett auf.

      War das ein Albtraum gewesen! Hatte ihm eine Heidenangst eingejagt. Wieder einmal. In letzter Zeit träumte er beinahe jede Nacht. Schreckliche Träume. Er legte sich wieder hin und zog sich die Bettdecke bis zum Hals hinauf, aber er wusste, dass er wahrscheinlich nicht wieder in den Schlaf finden würde. Er sah auf seinen Wecker. 4:18 Uhr. Dann kann ich auch gleich aufstehen, mir einen Tee machen und etwas fernsehen. Außerdem musste er sowieso auf die Toilette. Temera schlug die Bettdecke zurück und schwang seine Beine aus dem Bett.

      


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