Fliegen lassen. Hans-Dietrich Reckhaus

Fliegen lassen - Hans-Dietrich Reckhaus


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das Richtige? Mit einfachsten Mitteln und wenig Geld haben sie eine enorme Reichweite erzielt. Ich frage Julianne, als Kunsthistorikerin hat sie viel mehr Ahnung als ich. Ihre Antwort: »Auch wenn sich die Zusammenarbeit mit den Riklins für dein Produkt nicht so richtig auszahlen sollte, sie ist sicherlich für dich persönlich ein Gewinn! Die beiden werden dich auf neue Gedanken bringen!«

      Mai Frank und Patrik öffnen mir die einfache, weiße Holztür des Atelier für Sonderaufgaben, wie sie ihr Unternehmen nennen. Es befindet sich auf der dritten Etage eines alten Lagerhauses aus gelben und roten Backsteinen im Zentrum von St. Gallen. Der circa 100 Quadratmeter große Raum scheint mit seinen nackten weißen, über drei Meter hohen Wänden, den verstaubten Heizkörpern, den großen Holzfenstern und dem alten blau gestrichenen Holzboden in den industriellen 1930er-Jahren stehen geblieben zu sein. Überall Gegenstände aus vergangenen Kunstaktionen: Plakate, Fotos, Kleberollen, Stative. Eine alte orangefarbene Kinobestuhlung, ein schwarzes Ledersofa sowie eine mit künstlichem Kuhfell bezogene Chaiselongue bieten Sitzmöglichkeiten. Gleichzeitig finden sich in diesem abstrakten Chaos auch penibel kontrollierte Orte. Zwei mehrere Meter lange Regale aus dünnem Blech sind vollständig mit einheitlichen, akkurat beschrifteten Aktenordnern bestückt. Zwei aufgeräumte Schreibtische stehen sich mit größtmöglichem Abstand gegenüber.

      Zuerst plaudern wir über diverse Dinge, dann will ich den beiden endlich sagen, warum ich eigentlich hier bin. Noch haben sie nämlich keine Ahnung.

      »Beim Null Stern Hotel habt ihr doch den Auftrag von einer Gemeinde bekommen. Ich meine, die haben euch beauftragt, mit diesem Bunker eine Kunstaktion durchzuführen. Könnt ihr für mich nicht auch eine Kunstaktion machen?«

B
Was sind Biozide?Stoffe, die Algen, Pilze, Bakterien und Tiere anlocken oder abschrecken, unschädlich machen oder gar zerstören.Wie viele Wirkstoffe sind in der Europäischen Union zugelassen?Derzeit gibt es 160 Wirkstoffe, die auf der sogenannten Unionsliste stehen und damit in Biozidprodukten vorkommen dürfen (Stand: 03/2020). Hinzu kommen zahlreiche Altstoffe, die noch auf dem Markt sind und derzeit geprüft werden. Die Wirkstoffe sind unterteilt in drei Produktgruppen und 22 Produktarten: von Desinfektionsmittel für die menschliche Hygiene über Holzschutzmittel bis hin zu Einbalsamierung und Taxidermie von Mensch- und Tierkörpern. Insektizide bilden eine eigene Pro-duktart mit derzeit 45 zugelassenen Wirkstoffen, die in der Regel das Nervensystem von Insekten zerstören oder ihr Exoskelett schädigen. Mittel, die Insekten und Tiere anlocken (Lockstoffe) beziehungsweise fernhalten (Repellentien) bilden ebenfalls eine eigene Produktart.

      »Das kommt auf den Kontext an. Wofür sollen wir eine Aktion machen?«, fragt Patrik.

      »Ihr wisst, ich mache viel schlechte Chemie, aber unser neues Produkt ist insektizidfrei und wirklich gut. Ich habe euch den Prototypen mitgebracht.«

      Zusammen mit unserer Werbeagentur haben wir in den letzten Monaten intensiv am Namen und an der Aufmachung unserer neuen Falle gearbeitet, sodass ich nun ein fertiges Produkt präsentieren kann. Behutsam stelle ich eine farbig gestaltete, 14 mal 14 Zentimeter große Faltschachtel auf den Tisch. Im oberen Teil befindet sich der rote Markenschriftzug FLIPPI. Er trägt ein halbrundes, rotes Dach mit weißen Punkten, unter dem mit schwarzen Buchstaben steht: »Der einzigartige Fliegenschirm.«

      »Flippi steht für Fliegenpilz«, sage ich. »Der sympathische Pilz, der auch giftig ist. Wahrscheinlich ein zu spielerischer Name für ein Insektenbekämpfungsprodukt. Aber wir müssen auffallen. Und wir brauchen eine Geschichte. Mit dem Pilz, das hat schon was.«

      Ich gehe zum Fenster und zeige mit Flippi in der Hand, wie unser Produkt funktioniert.

      »Fliegen werden von Licht und Wärme angezogen. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis die Fliegen ans Fenster kommen. Und dann bleiben sie auf der Scheibe kleben. Flippi fängt die Insekten aber schneller als alle anderen Produkte auf dem Markt. Und der Clou ist die rot-weiße Abdeckung hier, damit man die toten Fliegen nicht sieht. Alles völlig neuartig und bereits zum Patent angemeldet.«

      Ich mache eine Pause, um den beiden die Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen. Keine Reaktion!

      WIE BEKOMME ICH MEIN

      NEUES PRODUKT VERKAUFT?

      »Das Produkt ist super, aber die Frage ist: Wie bekomme ich es in die Regale der großen Händler? Als kleines Unternehmen habe ich kein Geld für Werbung. Und da dachte ich an die Kunst, an euch! Kurz: eine Art Null Stern Hotel für die Fliegenscheibe. Ihr werdet schon auf eine tolle Idee kommen, die die Medien aufgreifen. Damit werden wir bekannt, und die Menschen wollen die Fliegenscheibe haben!«

      Was ist los mit den beiden? Normalerweise sprudeln sie vor Ideen. Jetzt herrscht eisiges Schweigen.

      »Der beste Zeitpunkt für die Kunstaktion wäre der Mai nächsten Jahres. Dann fängt die Fliegensaison richtig an und die Produkte stehen in den Regalen. Budget habe ich auch schon: Mehr als 100 000 Schweizer Franken darf die Realisierung der Idee nicht kosten. Aber das ist ja auch schon viel Geld. Und natürlich euer Honorar für die Idee. Hier habe ich alles auf einer Seite für euch zusammengefasst«, sage ich und übergebe den Künstlern ein Briefing.

      Die beiden schauen sich regungslos die Packung an. Nach einigen Augenblicken sagt Frank:

      »Wir müssen darüber nachdenken. Lass uns ein paar Tage Zeit, wir melden uns.«

      Juni Ich treffe mich mit den beiden Künstlern in ihrem Atelier. Drei Wochen nach meinem letzten Besuch haben sie mir ein ausführliches Vertragsangebot unterbreitet: Projekt Flippi, Idee und Konzeption zur Erleichterung des Markteintrittes. Der Preis schien mir gerechtfertigt, und ich habe die Avantgardisten beauftragt. Nun bin ich auf ihre Gedanken gespannt.

      DEIN PRODUKT IST

      EINFACH NUR SCHLECHT

      »Wir haben lange über Flippi nachgedacht«, beginnt Frank. »Aber schließlich haben wir festgestellt, dass das Produkt einfach nur schlecht ist. Flippi tötet Fliegen! Aus ethischen Gründen können wir Produkte, die töten, nicht unterstützen. Es tut uns leid. Das Honorar musst du natürlich nicht zahlen.«

      Was soll ich darauf sagen? Noch immer sehe ich die Objekte aus den vergangenen Kunstaktionen, die Plakate, Fotos, Kleberollen und Stative. Aber ich begegne ihnen mit einer geistigen Leere. Ich kann nicht denken. Nichts fühlen.

      »Moment! Nicht so schnell!«, sage ich, um Zeit zu gewinnen.

      »Das Fliegenbekämpfungsprodukt ist uns von Anfang an unsympathisch gewesen. Wir wollten dir erst auch kein Angebot unterbreiten«, erklärt Patrik. »Der Auftrag hat uns richtig gequält. Warum müssen die Leute unbedingt so viele Insekten töten? Insekten sind nützliche Tiere. Uns als Künstler interessiert das zwiespältige Verhältnis zwischen Mensch und Insekt. Hans, wie viel Wert hat eine Fliege für Dich als Insektentöter?«

      Ich vernehme Patriks Worte nur im Unterbewusstsein. Die beiden Künstler treffen mich spürbar. Sie haben ja recht! Töten ist nicht gut, nicht richtig. Da ich überhaupt nicht reagiere, fährt Frank fort:

      »Bei der Auseinandersetzung mit Flippi


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