Fliegen lassen. Hans-Dietrich Reckhaus

Fliegen lassen - Hans-Dietrich Reckhaus


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für Fliegen vor.«

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•Wie viel CO2 sparen Sie ein?•Haben Sie keine Photovoltaik-Anlage auf dem Dach?•Auch keine wärmegedämmten Fenster?Es stimmt. Mein Unternehmen hat das alles nicht. Und die Antwort auf die Frage »Warum« ist eigentlich ganz einfach:So lange unsere Produkte einen solch negativen Impact auf die Natur und unser aller Leben haben, werden wir uns vor allem darauf fokussieren, unsere Produkte zu ökologisieren, zu kompensieren, zu reduzieren oder gleich ganz vom Markt zu nehmen.Nur sinnvolle Angebote führen zu einer wirklich ausgeglichenen ökologischen Bilanz. (R)

      Patrik rollt ein großes Blatt aus, das eine millimetergenaue Darstellung ihrer Idee zeigt: ein Fenster, in das eine Art Lebendfalle eingebaut ist. Die Fliegen werden durch meinen Lockschirm angezogen und in einem dahinterliegenden kleinen Kasten aus Holz oder Metall gefangen. Dieser wird dann anschließend durchs Fenster nach draußen geschoben.

      »Wow! Sagenhaft. Sensationell. Gekauft«, sage ich. »Aber für meine Absatzkanäle viel zu teuer! Das ist etwas für die Fensterbranche.«

      Ich brauche dringend eine Pause. Ich stehe auf, gehe ein wenig durch die riklinsche Ideenschmiede und bitte Frank um einen Kaffee.

      Nach wenigen Minuten, in denen wir kaum sprechen, sitzen wir uns wieder am acht Meter langen, schmalen Holztisch gegenüber.

      »Euer Fensterprodukt ist super. Respekt. Das wäre etwas für die Zukunft, wenn wir mit Fensterherstellern zusammenarbeiten würden. Aber habt ihr nicht vielleicht doch eine Idee für Flippi?«

      »Wenn du unbedingt eine Kunstaktion haben möchtest«, sagt Frank, »dann empfehlen wir dir, die Welt umzudrehen: Du als Insektizidhersteller rettest Fliegen!«

      »Bitte? Was meinst du?«, frage ich.

      »In Zusammenarbeit mit einem Handelsunternehmen veranstalten wir in dessen Verkaufsfilialen einen Wettbewerb, bei dem die Kunden uns lebende Fliegen bringen und damit die Tiere retten. Als Belohnung für die Teilnehmenden gibt es einen Flug in die Sonne nach Spanien. Natürlich mit einer Fliege, versteht sich. Die Fliege bekommt ihr eigenes Ticket und damit ihren eigenen Sitzplatz. Denn nur wenn das Insekt genauso wie ein Mensch behandelt wird, entsteht eine neue Art der Beziehung, etwas Besonderes. Das Ganze nennen wir: Flippi – die größte Fliegenrettungsaktion der Welt.«

      Patrik hält ein eigens kreiertes Plakat hoch, das eine Lufthansa-Düsenmaschine zusammen mit dem Slogan zeigt:

      Rette 3 Fliegen und du fliegst mit einer Fliege für 1 Woche an den Strand! FlippiAirLine – ein ausgeflippter Reisewettbewerb zwischen Mensch und Insekt.

      »Wir könnten die Menschen mit der Frage konfrontieren: Wie viel Wert hat eigentlich eine Fliege? Mit der Aktion machen wir auf den ökologischen Nutzen von Insekten aufmerksam – und du wirst bekannt, weil die Polarisierung mit dir als Retter für die Medien interessant ist.«

      Vier Augen schauen mich an. Ich kann meine Gedanken und Gefühle nicht verstehen und erst recht nicht kontrollieren. Mein Kopf nickt. Ihre Arbeit ist großartige Konzeptkunst. Und sie würde von mir nicht nur in Auftrag gegeben. Ich würde in dem Werk sogar eine entscheidende Rolle spielen.

      Zehn Sekunden später lande ich zurück in der Realität. Meine Stimme klingt hart. Aber auch irgendwie bedrückt. »Ich verstehe eure Arbeit und bin beeindruckt. Ihr habt es tatsächlich geschafft, eine Kunstidee für Flippi zu entwickeln. Aber es ist verrückt, Fliegen zu retten, die Idee richtet sich direkt gegen meine Produkte.«

      »Wir haben geahnt, dass du die Rettungsaktion nicht veranstalten möchtest und haben völliges Verständnis für dich«, sagt Frank und weist trotzdem noch einmal auf die evident notwendige Umkehr hin, Fliegen zu retten anstatt sie zu töten. Ich fühle mich als spießbürgerlicher Spielverderber und verabschiede mich.

      Auf der Autofahrt nach Hause denke über Fliegenretten nach. Frank und Patrik haben mich tief getroffen, sehr tief. Und die beiden müssen in den letzten Wochen in einem Dilemma gewesen sein. Auf der einen Seite suchten sie nach einer gefälligen und leicht zugänglichen Idee, die von mir als konservativem Geschäftsmann umgesetzt werden kann. Auf der anderen Seite wollten sie sich als Künstler nicht beeinflussen lassen. Es durfte nicht darum gehen, was ein Unternehmer als schön und stimmig empfindet. Die beiden blieben sich selbst treu. Und nahmen in Kauf, dass ich ihren Vorschlag nicht realisieren würde.

      Aber ist ihre Idee nicht genau das, was ich will? Will ich nicht endlich etwas Sinnvolles, das noch keiner vorher gedacht und gemacht hat? Fängt die Kunst nicht exakt dort an, wo das Wohlgefühl aufhört? Habe ich nicht von den Künstlern genau das erwartet, wozu andere keinen Mut haben? Kunst und Wirtschaft sind eben nicht zwei Welten, die sich nie begegnen dürfen. Nein, Kunst kann Wirtschaft Türen öffnen zu Veränderungsprozessen, die die Unternehmen selbst gar nicht denken, geschweige denn umsetzen können. Bis hierher.

      FLIEGE INS FLUGZEUG SETZEN.

      ABSURD.

      Es folgt eine lange Diskussion mit meiner Frau, eine schlaflose Nacht, ein unruhiger Tag im Büro und noch eine Auseinandersetzung mit meiner Frau. Sie teilt meine Meinung. Vermutlich würde kein Mensch verstehen, dass ausgerechnet ich Fliegen retten will. Und dann noch eine Fliege ins Flugzeug setzen! Absurd! Trotzdem geht es in meinem Kopf hin und her.

      Denk an die Finanzen! Die Medien werden bestimmt aufgrund der ungewohnten Polarisierung mit mir als Fliegenretter bundesweit berichten. Unser Produkt wird bekannt und daher mit großem Interesse vom Handel und später vom Konsumenten gekauft werden. Die notwendige Investition von 100 000 Franken ist ein Schnäppchen.

      Denk an die Mitarbeiter! Was werden sie zu der Rettungsaktion sagen? Und was werden Kunden, Lieferanten, Banken, Behörden, Nachbarn über uns denken? Wie deuten mein Bruder und seine Familie und meine Eltern die Aktion? Ist es ein Widerspruch: Hersteller von Insektenbekämpfungsprodukten zu sein und Fliegen zu retten? Stelle ich damit nicht mein Geschäft komplett infrage?

      Denk an die Insekten! Wie viele Fliegen, Mücken, Motten und Ameisen habe ich inzwischen auf dem Gewissen! Nicht ich persönlich, aber meine Produkte töten. Das ist ethisch nicht korrekt. Woher nehme ich mir das Recht dazu? Ich muss zurückgeben! Gerade ich, dessen seriell hergestellte Produkte massenweise Insekten bekämpfen, muss mich endlich für Insekten einsetzen! Wenigstens einmal?

      Fliegenretten fühlt sich auf einmal so verdammt gut und richtig an.

      Nach einer zweiten schlaflosen Nacht rufe ich am Morgen im Atelier an und sage nur zwei Worte:

      »Wir realisieren!«

      Frank und Patrik sind sprachlos.

      August Ich besuche die Schweizer Oase für Sonderaufgaben, um die ersten Schritte der Aktion »Fliegen retten« zu besprechen. Patrik begrüßt mich fast schon kameradschaftlich. Als Erstes will er wissen, wie meine Mitarbeitenden auf die Idee der Rettungsaktion reagiert haben.

      »Katastrophe! Ich habe eine Stunde lang alles gegeben! Eine Superpräsentation vor allen Verwaltungsmitarbeitenden, dem neuen Flippiverkäufer Herrn Paul und vor meinem Bruder. Keiner hat nur ein Wort rausbekommen. Alle finden die Idee verrückt. Leider auch mein Bruder. Er hat mir später gesagt, dass er ja vieles mitmache. Aber das gehe ihm zu weit. Und Herr Paul hat jetzt ein Problem! Als wir ihn einstellten, war eure Idee ja noch gar nicht existent. Nun macht er sich Gedanken, ob er nicht im falschen Film gelandet sei. Wir haben noch eine Menge Überzeugungsarbeit zu leisten.« »Solche Reaktionen sind wir gewohnt. Das ist ganz natürlich«, sagt Patrik gelassen und fängt an, über die Aktion zu reden.

      GELEBTER

      KAFKA

      »Man wird dir Zynismus vorwerfen, wenn die Aktion nicht weitergeht: Wenn du nicht gleich weitere Rettungen planst und nicht das Fensterprodukt präsentierst, das keine Fliegen mehr tötet. Die Fliegenrettungsaktion darf nur als Scharnier hin zu sinnvollen Produkten und einem echten Umdenken bei euch verstanden werden. Literarisch


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