Fliegen lassen. Hans-Dietrich Reckhaus

Fliegen lassen - Hans-Dietrich Reckhaus


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die Aktion eine Verlegenheitslösung, weil Sie nicht auf eine bessere Idee gekommen sind?

      Worum geht es Ihnen? Ums Geld? Ums Tier? Ums Image?

      Der CO2-Ausstoß ist bei Flugzeugen extrem hoch, wie viel Lebensraum für Insekten wird dabei zerstört?

      Wie kann man diesen Aufwand rechtfertigen, wenn in Afrika Kinder verhungern und diese dort, gerade mit der Stubenfliege, echte Probleme haben?

      Insgesamt 30 Fragen haben die Zwillingsbrüder formuliert. Wir alle wissen: Das ist nur die Spitze des Eisberges, auf den wir zusteuern.

      September Wir treffen uns wieder im Atelier. Herr Paul hat kurzfristig per Mail abgesagt. Ich fühle mich irgendwie freier und eröffne das Treffen philosophisch:

      »Unsere Aktion wird als absurd wahrgenommen werden. Ich habe deswegen das Wort absurd im Duden nachgeschlagen. Absurd steht für sinnlos und widersinnig. Diese Deutung gefällt mir nicht. Es geht ja bei unserer Idee nicht um sinnlose Dinge. Es geht darum, Dinge umzudrehen, ins Gegenteil zu verkehren. Das schafft Bewusstsein, besonders für die eigene, nächste Umgebung. Das ist ein äußerst sinnvoller Beitrag.«

      ES IST NICHT MÖGLICH,

      FLIEGEN ZU RETTEN

      Herr Bucher berichtet zuerst, wie Fliegen gerettet werden können.

      »Fliegen sind ein wichtiges Glied der Nahrungskette«, führt der Experte aus. »Das bedeutet, dass die Tiere überall Feinde haben. Überall. Es gibt in der Natur keine Wellnessoase für Fliegen, zu der wir sie bringen könnten. Es ist gar nicht möglich, Fliegen zu retten.«

      Schockiert schauen Frank, Patrik und ich den Insektenversteher an. Er setzt seine Ausführungen emotionslos fort.

      »Aber es gibt einen Ausweg. Wenn ihr den Fliegen etwas Gutes tun wollt, müsst ihr sie einsperren. Ihr könnt doch die Idee des Wellnesshotels weiterspinnen.«

      Ich brauche eine Kaffeepause. Was für ein Irrsinn. Einsperren, um zu retten! Nachdem wir den frappanten Umkehrschluss ein wenig verdaut haben, sprechen wir über das geplante Wellnesshotel für Fliegen.

      »Die Kunden bringen uns die Fliegen in die Filiale des Flippi-Händlers«, sagt Patrik. »Wir nehmen sie entgegen und müssen sie in eine Box einsperren. Abends bringen wir sie dann in eine größere Unterkunft, in der alle Fliegen sind, die wir in den vorangegangenen Tagen gerettet haben. Das Fliegenhotel müsste mobil sein und mehrere Wochen halten. Ich sehe eine große, hölzerne Box, die wir mit einem Kastenwagen transportieren.«

      »In der tourfreien Zeit können wir dann die Box in eine Scheune stellen«, meint Frank weiter. »Im Wagen sind die Fliegen doch sehr der Sonne und starken Temperaturschwankungen ausgesetzt. Eine Scheune bietet ihnen besseren Schutz. Das ist dann unser Fliegenresort.«

      Unser Sachverständiger erinnert uns daran, dass sich die geretteten Fliegen paaren werden und ein Weibchen im Laufe ihres Lebens unter optimalen Bedingungen bis zu 2000 Eier legen kann.

      »Das ist ja wunderbar«, sagt Patrik.

      »Das wird mir zu viel«, sage ich. »Herr Bucher, wie lange leben Fliegen?«

      »In der Regel vier Wochen.«

E
Sich als Unternehmer ETHISCH korrekt zu verhalten, hat für mich bislang bedeutet: seinen Handelspartnern keine relevanten Informationen vorzuenthalten. Ihnen offen zu sagen, ob die eigenen Produkte zum Sortiment passen und ihnen gegebenenfalls davon abzuraten, weil Konkurrenten sie besser, preiswerter oder schneller liefern können. Kurz: ehrlich, transparent und verlässlich zu sein.Seit 2011 ist für mich eine neue Dimension hinzugekommen. Es geht um die simple und gleichzeitig doch so essenzielle Frage: Darf ich Insekten töten? Und welche Konsequenzen ergeben sich, wenn die Antwort lautet: Nein, nur in absoluten Ausnahmefällen, wenn es nicht anders geht.Was wir brauchen, ist einfache, ethische Logik, mit der jeder für sich sein alltägliches Tun hinterfragen kann. Aus den Antworten erwachsen die richtigen Dinge dann von selbst. (V)

      »Dann öffnen wir vier Wochen nach Tourende bei einem großen Abschlusshappening die Rettungsbox und lassen alle Fliegen fliegen, die noch leben«, sage ich.

      »Was machen wir mit den Fliegen in Spanien?«, fragt Frank. »Es werden ja mehrere Retter mit ihren Fliegen an den Strand fliegen.«

      Schnell einigen wir uns darauf, dass wir in Spanien ein weiteres Fliegenhotel errichten müssen, das wir dann zum Abschluss nach Deutschland zurückholen.

      »Wir haben noch viel zu tun. Aber: Entscheidend ist der Verkauf. Wenn Herr Paul bis Mitte November keinen Kunden hat, brechen wir ab.«

      Oktober »Nichts«, sagt Herr Paul. »Einfach nichts. Ich bin in den letzten drei Monaten 20 Zielkunden angegangen. 19 haben sofort am Telefon abgewunken. Und der eine, der mir immerhin einen Termin angeboten hat, hat mir dann beim persönlichen Treffen gesagt, dass die Aktion zu verrückt sei. Auch er möchte mit der Aktion nichts zu tun haben.«

      Ich erzähle, dass ich nicht erfolgreicher war. Während Herr Paul neue Kunden angeht, betreue ich die bestehenden. Viele kenne ich schon seit Jahren, wie den Chefeinkäufer eines großen Drogeriemarktes, dessen Handelsmarke wir produzieren. Für ihn ist unsere Rettungsidee die originellste, die er in den letzten 20 Jahren gehört hat. Aber das Risiko, dass die Medien negativ darüber berichteten, ist ihm viel zu hoch.

      »Daran haben wir nicht gedacht«, sage ich. »Eine kritische Berichterstattung könnte auch den Handel treffen. Der deswegen natürlich nicht mitmachen möchte.«

      Es wird still im Atelier. Patrik bricht das Schweigen.

      »Hans, es ist deine Entscheidung, ob es weitergeht.«

      »Wir werden nicht warten, bis wir einen Kunden finden«, sage ich entschlossen. »Ich will Fliegen retten! Wir brauchen ein Konzept, das unabhängig vom Handel funktioniert.«

      »Wie soll das gehen, Herr Reckhaus?«, fragt Herr Paul überrascht.

      »Der Handel hatte für uns zwei Funktionen in diesem Projekt: Ort und Aufmerksamkeit. Diese zwei Funktionen müssen wir ersetzen.«

      »Wir können mit Lokalradios zusammenarbeiten«, sagt Herr Paul. »Für die ist das eine coole Geschichte.«

      »Ja, das ist eine gute Idee. Die Fliegenrettung kann dann in einen Radiowettbewerb eingebunden werden, bei dem die Zuhörer die Fliegen zur Sendestation bringen«, sagt Frank.

      »Flippi wird prominent«, freut sich Patrik, »alle reden über Flippi. Flippi ist aber nirgends zu kaufen!«

      An diesem Nachmittag kommen keine weiteren guten Ideen. Wir erkennen, dass eine kundenunabhängige Fliegenrettung eine Sonderaufgabe ist, die nur Frank und Patrik lösen können. Die beiden versprechen, in zwei Wochen ein neues Konzept zur größten Fliegenrettungsaktion der Welt vorzulegen.

      November Frank und Patrik präsentieren Herrn Paul, Herrn Bucher und mir gleich mehrere handelsunabhängige Rettungswerke, samt akribischen Kostenaufstellungen. Die wertvollen Insekten sollen nun mit ihren glücklichen Rettern nur innerhalb Deutschlands umherschwirren. Das würde Kosten sparen. Allerdings weiterhin mit dem Flugzeug, auch wenn die geplante Partnerschaft mit einer Airline nicht zustande gekommen ist. Weder Lufthansa noch AirBerlin haben unsere telefonischen Anfragen ernst genommen. Sie glauben an einen Scherz. Außerdem haben sich die behördlichen Abklärungen mit dem Export und Import von Fliegen in den letzten Wochen als schwierig erwiesen.

      SICH LOSLÖSEN

      VON DER ÖKONOMIE

      MACHT FREI

      Wir einigen uns auf die alte Idee mit den Lokalradios, und ich gebe aufgrund des schwindenden Geldes noch einmal die Richtung vor:

      »Von den budgetierten 100 000 Franken haben wir bereits 30 000 für die Arbeitsstunden von Frank, Patrik und Herrn Bucher


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