Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Kraftquellen nach einer unnatürlichen. Sie findet sie im Kriege, der mit seinen Zerstörungen den Beweis dafür antritt, daß die Gesellschaft nicht reif genug war, sich die Technik zu ihrem Organ zu machen, daß die Technik nicht ausgebildet genug war, die gesellschaftlichen Elementarkräfte zu bewältigen. Der imperialistische Krieg ist in seinen grauenhaftesten Zügen bestimmt durch die Diskrepanz zwischen den gewaltigen Produktionsmitteln und ihrer unzulänglichen Verwertung im Produktionsprozeß (mit anderen Worten, durch die Arbeitslosigkeit und den Mangel an Absatzmärkten). Der imperialistische Krieg ist ein Aufstand der Technik, die am »Menschenmaterial« die Ansprüche eintreibt, denen die Gesellschaft ihr natürliches Material entzogen hat. Anstatt Flüsse zu kanalisieren, lenkt sie den Menschenstrom in das Bett ihrer Schützengräben, anstatt Saaten aus ihren Aeroplanen zu streuen, streut sie Brandbomben über die Städte hin, und im Gaskrieg hat sie ein Mittel gefunden, die Aura auf neue Art abzuschaffen.

      »Fiat ars – pereat mundus« sagt der Faschismus und erwartet die künstlerische Befriedigung der von der Technik veränderten Sinneswahrnehmung, wie Marinetti bekennt, vom Kriege. Das ist offenbar die Vollendung des l’art pour l’art Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die Olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben läßt. So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.

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       Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus

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      1938–39

      Une capitale n’est pas absolument nécessaire à l’homme.

      Senancour

      In aufschlußreichem Zusammenhang kommt die Boheme bei Marx vor. Er rechnet ihr die Verschwörer von Beruf zu, mit denen er sich in der ausführlichen Anzeige der Memoiren des Polizeiagenten de la Hodde beschäftigt, die 1850 in der »Neuen Rheinischen Zeitung« erschienen ist. Die Physiognomie Baudelaires vergegenwärtigen, heißt von der Ähnlichkeit sprechen, die er mit diesem politischen Typus aufweist. Ihn umreißt Marx wie folgt: »Mit der Ausbildung der proletarischen Konspirationen trat das Bedürfniß der Theilung der Arbeit ein; die Mitglieder theilten sich in Gelegenheitsverschwörer, conspirateurs d’occasion, d. h. Arbeiter, die die Verschwörung nur neben ihrer sonstigen Beschäftigung betrieben, nur die Zusammenkünfte besuchten und sich bereit hielten, auf den Befehl der Chefs am Sammelplatz zu erscheinen, und in Konspirateure von Profession, die ihre ganze Thätigkeit der Verschwörung widmeten und von ihr lebten … Die Lebensstellung dieser Klasse bedingt schon von vornherein ihren ganzen Karakter … Ihre schwankende, im Einzelnen mehr vom Zufall als von ihrer Thätigkeit abhängige Existenz, ihr regelloses Leben, dessen einzig fixe Stationen die Kneipen der Weinhändler sind – die Rendezvoushäuser der Verschworenen – ihre unvermeidlichen Bekanntschaften mit allerlei zweideutigen Leuten rangiren sie in jenen Lebenskreis, den man in Paris la bohème nennt.«874875

      Im Vorbeigehen ist anzumerken, daß Napoleon III. selbst seinen Aufstieg in einem Milieu begonnen hatte, das mit dem geschilderten kommuniziert. Bekanntlich ist eines der Werkzeuge seiner Präsidialzeit die Gesellschaft vom 10. Dezember gewesen, deren Kaders nach Marx »die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin und her geworfene Masse, die die Franzosen la Bohème nennen«876, gestellt hatte. Während seines Kaisertums hat Napoleon konspirative Gepflogenheiten fortgebildet. Überraschende Proklamationen und Geheimniskrämerei, sprunghafte Ausfälle und undurchdringliche Ironie gehören zur Staatsraison des Second Empire. Dieselben Züge findet man in Baudelaires theoretischen Schriften wieder. Er trägt seine Ansichten meist apodiktisch vor. Diskussion ist seine Sache nicht. Er geht ihr auch dann aus dem Wege, wenn die schroffen Widersprüche in Thesen, die er sich nacheinander zu eigen macht, eine Auseinandersetzung erfordern würden. Den »Salon von 1846« hat er »den Bourgeois« gewidmet; er tritt als ihr Fürsprecher auf, und seine Geste ist nicht die des advocatus diaboli. Späterhin, zum Beispiel in seiner Invektive gegen die Schule des bon sens findet er für die »›honnête‹ bourgeoise« und den Notar, ihre Respektsperson, die Akzente des rabiatesten Bohémien877. Um 1850 proklamiert er, Kunst sei von Nützlichkeit nicht zu trennen; wenige Jahre später vertritt er das l’art pour l’art. In alledem bemüht er sich vor seinem Publikum so wenig um eine Vermittlung wie Napoleon III., wenn er fast über Nacht und hinter dem Rücken des französischen Parlaments vom Schutzzoll zum Freihandel übergeht. Diese Züge machen es immerhin verständlich, daß die offizielle Kritik – Jules Lemaître voran – von den theoretischen Energien, die in Baudelaires Prosa stecken, so wenig spürte.

      Marx fährt in seiner Schilderung der conspirateurs de profession folgendermaßen fort: »Die einzige Bedingung der Revolution ist für sie die hinreichende Organisation ihrer Verschwörung … Sie werfen sich auf Erfindungen, die revolutionäre Wunder verrichten sollen; Brandbomben, Zerstörungsmaschinen von magischer Wirkung, Emeuten, die um so wunderthätiger und überraschender wirken sollen, je weniger sie einen rationellen Grund haben. Mit solcher Projektenmacherei beschäftigt, haben sie keinen andern Zweck als den nächsten des Umsturzes der bestehenden Regierung und verachten auf’s tiefste die mehr theoretische Aufklärung der Arbeiter über ihre Klasseninteressen. Daher ihr nicht proletarischer, sondern plebejischer Ärger über die habits noirs (schwarzen Röcke), die mehr oder minder gebildeten Leute, die diese Seite der Bewegung vertreten, von denen sie aber, als von den offiziellen Repräsentanten der Partei, sich nie ganz unabhängig machen können.«878 Die politischen Einsichten Baudelaires gehen grundsätzlich nicht über die dieser Berufsverschwörer hinaus. Ob er seine Sympathien dem klerikalen Rückschritt zuwendet oder sie dem Aufstand von 48 schenkt – ihr Ausdruck bleibt unvermittelt und ihr Fundament brüchig. Das Bild, das er in den Februartagen geboten hat – an irgendeiner pariser Straßenecke ein Gewehr mit den Worten schwingend »Nieder mit General Aupick«879 – ist beweiskräftig. Allenfalls hätte er Flauberts Wort »Von der ganzen Politik verstehe ich nur ein Ding: die Revolte« zu seinem eigenen machen können. Das wäre dann so zu verstehen gewesen wie es der Schlußpassus einer mit seinen Entwürfen über Belgien überlieferten Notiz ergibt: »Ich sage ›es lebe die Revolution!‹ wie ich sagen würde ›es lebe die Zerstörung! es lebe die Buße! es lebe die Züchtigung! es lebe der Tod!‹ Ich würde nicht nur als Opfer glücklich sein; auch den Henker zu spielen, würde mir nicht mißfallen – um die Revolution von beiden Seiten zu fühlen! Wir haben alle republikanischen Geist im Blut wie wir die Syphilis in den Knochen haben; wir sind demokratisch infiziert und syphilitisch.«880

      Was Baudelaire so niederlegt, könnte man als die Metaphysik des Provokateurs bezeichnen. In Belgien, wo diese Notiz geschrieben ist, hat er eine Weile als Spitzel der französischen Polizei gegolten. An sich hatten derartige Arrangements so wenig Befremdendes, daß Baudelaire am 20. Dezember 1854 seiner Mutter mit Bezug auf die literarischen Stipendiaten der Polizei schreiben konnte: »Niemals wird mein Name in ihren Schandregistern erscheinen.«881 Was Baudelaire in Belgien den Ruf eintrug, war schwerlich allein die Feindschaft, die er gegen den dort gefeierten proskribierten Hugo an den Tag legte. Anteil an der Entstehung dieses Gerüchts hat seine verwüstende Ironie gehabt; er könnte sich leicht darin gefallen haben, es zu verbreiten. Der culte de la blague, den man bei Georges Sorel wiederfindet und der ein unveräußerliches Bestandstück der faschistischen Propaganda geworden ist, bildet bei Baudelaire seine ersten Fruchtknoten. Der Titel unter, der Geist in dem Céline seine »Bagatelles pour un massacre« geschrieben hat, führt unmittelbar auf eine Baudelairesche Tagebucheintragung zurück: »Eine schöne Konspiration ließe sich zwecks Ausrottung der jüdischen Rasse organisieren.«882 Der Blanquist Rigault, der seine konspirative Laufbahn als Polizeipräsident der pariser Kommune beschloß, scheint den gleichen makabren Humor gehabt zu haben, von dem in Zeugnissen über Baudelaire viel die


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