Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Selbst der terroristische Wunschtraum, dem Marx bei den conspirateurs begegnet, hat bei Baudelaire sein Gegenstück. »Wenn ich je«, schreibt er am 23. Dezember 1865 an seine Mutter, »die Spannkraft und die Energie wiederfinde, die ich einige Male besessen habe, so werde ich meinem Zorn durch entsetzenerregende Bücher Luft machen. Ich will die ganze Menschenrasse gegen mich aufbringen. Das wäre mir eine Wollust, die mich für alles entschädigen würde.«884 Diese verbissene Wut – la rogne – war die Verfassung, die ein halbes Jahrhundert von Barrikadenkämpfen in pariser Berufsverschwörern genährt hatte.

      »Sie sind es«, sagt Marx von diesen Verschwörern, »die die ersten Barrikaden aufwerfen und kommandiren.«885 In der Tat steht im Fixpunkt der konspirativen Bewegung die Barrikade. Sie hat die revolutionäre Tradition für sich. Über viertausend Barrikaden hatten in der Julirevolution die Stadt durchzogen886. Als Fourier nach einem Beispiel für den »travail non salarié mais passionné« Ausschau hält, findet er keines, das näher liegt als der Barrikadenbau. Eindrucksvoll hat Hugo in den »Misérables« das Netz jener Barrikaden festgehalten, indem er ihre Besatzung im Schatten ließ. »Überall wachte die unsichtbare Polizei der Revolte. Sie hielt die Ordnung aufrecht, daß heißt die Nacht … Ein Auge, das von oben her auf diese aufgetürmten Schatten herabgeblickt hätte, wäre vielleicht an verstreuten Stellen auf einen undeutlichen Schein gestoßen, der gebrochene, willkürlich verlaufende Umrisse zu erkennen gab, Profile merkwürdiger Konstruktionen. In diesen Ruinen bewegte sich etwas, das Lichtern ähnelte. An diesen Stellen waren die Barrikaden.«887 In der Bruchstück verbliebenen Anrede an Paris, die die »Fleurs du mal« abschließen sollte, nimmt Baudelaire von der Stadt nicht Abschied, ohne ihre Barrikaden heraufzurufen; er gedenkt ihrer »magischen Pflastersteine, welche sich zu Festungen in die Höhe türmen«888. ›Magisch‹ sind diese Steine freilich, indem Baudelaires Gedicht die Hände nicht kennt, die sie in Bewegung gesetzt haben. Aber eben dieses Pathos dürfte dem Blanquismus verpflichtet sein. Denn ähnlich ruft der Blanquist Tridon: »O force, reine des barricades, … toi qui brilles dans l’éclair et dans l’émeute … c’est vers toi que les prisonniers tendent leurs mains enchaînées.«889 Am Ende der Kommune tastete sich das Proletariat, wie ein zu Tode getroffenes Tier in seinen Bau, hinter die Barrikade zurück. Daß die Arbeiter, im Barrikadenkampfe geschult, der offenen Schlacht, die Thiers den Weg hätte verlegen müssen, nicht gewogen waren, hat mit Schuld an der Niederlage getragen. Diese Arbeiter zogen, wie einer der jüngsten Historiker der Kommune schreibt, »dem Treffen im freien Felde die Schlacht im eigenen Quartier … und, wenn es sein mußte, den Tod hinter dem zur Barrikade getürmten Pflaster einer Straße von Paris vor«890.

      Der bedeutendste der pariser Barrikadenchefs, Blanqui, saß damals in seinem letzten Gefängnis, dem Fort du Taureau. In ihm und seinen Genossen sah Marx in seinem Rückblick auf die Junirevolution »die wirklichen Führer der proletarischen Partei«891. Man kann sich von dem revolutionären Prestige, das Blanqui damals besessen und bis zu seinem Tode bewahrt hat, schwerlich einen zu hohen Begriff machen. Vor Lenin gab es keinen, der im Proletariat deutlichere Züge gehabt hätte. Sie haben sich auch Baudelaire eingeprägt. Es gibt ein Blatt von ihm, das neben andern improvisierten Zeichnungen den Kopf von Blanqui aufweist. – Die Begriffe, die Marx in seiner Darstellung der konspirativen Milieus in Paris heranzieht, lassen die Zwitterstellung, die Blanqui darin einnahm, erst recht erkennen. Es hat einerseits seine guten Gründe, wenn Blanqui als Putschist in die Überlieferung einging. Ihr stellt er den Typus des Politikers dar, der es, wie Marx sagt, als seine Aufgabe ansieht, »dem revolutionären Entwicklungsprozeß vorzugreifen, ihn künstlich zur Krise zu treiben, eine Revolution aus dem Stegreif, ohne die Bedingungen einer Revolution zu machen«892. Hält man, auf der andern Seite, Beschreibungen, die man über Blanqui besitzt, dagegen, so scheint er vielmehr einem der habits noirs zu gleichen, an denen jene Berufsverschwörer ihre mißliebigen Konkurrenten hatten. Folgendermaßen beschreibt ein Augenzeuge den Blanquischen Klub der Hallen: »Will man einen genauen Begriff von dem Eindruck bekommen, den man vom ersten Augenblick an von Blanquis revolutionärem Klub im Vergleich zu den beiden Klubs hatte, die die Ordnungspartei damals … besaß, so denkt man sich am besten das Publikum der Comédie Française an einem Tage, wo Racine und Corneille gespielt wird, neben der Volksmenge, die einen Zirkus füllt, in dem Akrobaten halsbrecherische Kunststücke vorführen. Man befand sich gleichsam in einer Kapelle, die dem orthodoxen Ritus der Konspiration geweiht war. Die Türen standen jedermann offen, aber man kam nur wieder, wenn man Adept war. Nach dem verdrießlichen Defilee der Unterdrückten … erhob sich der Priester dieser Stätte. Sein Vorwand war, die Beschwerden seines Klienten zu resümieren, des Volks, das von dem halben Dutzend anmaßender und gereizter Dummköpfe, die man eben gehört hatte, repräsentiert wurde. In Wirklichkeit setzte er die Lage auseinander. Sein Äußeres war distinguiert, seine Kleidung tadellos; sein Kopf war feingebildet; sein Ausdruck still; nur ein unheilverkündender, wilder Blitz fuhr manchmal durch seine Augen. Sie waren schmal, klein und durchdringend; für gewöhnlich sahen sie eher wohlwollend darein als hart. Seine Redeweise war maßvoll, väterlich und deutlich; die wenigst deklamatorische Redeweise, die ich neben der von Thiers je gehört habe.«893 Blanqui erscheint hier als Doktrinär. Das Signalement des habit noir bestätigt sich bis in kleine Dinge. Es war bekannt, daß ›der Alte‹ in schwarzen Handschuhen zu dozieren pflegte894. Aber der gemessene Ernst, die Undurchdringlichkeit, welche Blanqui eignen, sehen anders in der Beleuchtung aus, in welche eine Bemerkung von Marx sie stellt. »Sie sind«, schreibt er von diesen Berufsverschwörern, »die Alchymisten der Revolution und theilen ganz die Ideenzerrüttung und die Bornirtheit in fixen Vorstellungen der früheren Alchymisten.«895 Damit stellt sich Baudelaires Bild wie von selber ein: der Rätselkram der Allegorie beim einen, die Geheimniskrämerei des Verschwörers beim anderen.

      Abschätzig, wie es sich nicht anders erwarten läßt, redet Marx von den Kneipwirtschaften, in denen der niedere Konspirateur sich zuhause fühlte. Der Dunst, der sich dort niederschlug, war auch Baudelaire vertraut. In ihm hat sich das große Gedicht entfaltet, das »Le vin des chiffonniers« überschrieben ist. Seine Entstehung wird man in die Jahrhundertmitte verlegen dürfen. Damals wurden Motive, die in diesem Stück anklingen, in der Öffentlichkeit erörtert. Es ging, einmal, um die Weinsteuer. Die konstituierende Versammlung der Republik hatte ihre Abschaffung zugesagt, so wie sie schon 1830 zugesagt worden war. In den »Klassenkämpfen in Frankreich« hat Marx gezeigt, wie sich in der Beseitigung dieser Steuer eine Forderung des städtischen Proletariats mit der Forderung der Bauern begegnete. Die Steuer, die den Konsumwein in gleicher Höhe belastete wie den gepflegtesten, verminderte den Verbrauch, »indem sie an den Thoren aller Städte über 4000 Einwohner Oktrois errichtet und jede Stadt in ein fremdes Land mit Schutzzöllen gegen den französischen Wein verwandelt«896 hatte. »An der Weinsteuer«, sagt Marx, »erprobt der Bauer das Bouquet der Regierung.« Sie schädigte aber den Städter auch und zwang ihn, um billigen Wein zu finden, in die Wirtschaften vor der Stadt zu ziehen. Dort wurde der steuerfreie Wein ausgeschenkt, den man den vin de la barrière nannte. Der Arbeiter stellte seinen Genuß daran, wenn man dem Sektionschef im Polizeipräsidium H.-A. Frégier glauben darf, als den einzig ihm vergönnten, voller Stolz und voll Trotz zur Schau. »Es gibt Frauen, die keinen Anstand nehmen, mit ihren Kindern, die schon arbeiten könnten, ihrem Mann zur barrière zu folgen … Man macht sich danach halb berauscht auf den Heimweg und stellt sich betrunkener als man ist, damit es in aller Augen deutlich sei, daß man getrunken hat, und nicht wenig. Manchmal tun es dabei die Kinder den Eltern nach.«897 »So viel steht fest«, schreibt ein zeitgenössischer Beobachter, »daß der Wein der barrières dem Regierungsgerüst nicht wenige Stöße erspart hat.«898 Der Wein eröffnet den Enterbten Träume von künftiger Rache und künftiger Herrlichkeit. So im »Wein der Lumpensammler«:

      On voit un chiffonnier qui vient, hochant la tête,

      Buttant, et se cognant aux murs comme un poëte,

      Et, sans prendre souci des mouchards, ses sujets,

      Epanche tout son cœur en glorieux projets.

      Il prête des serments, dicte des lois sublimes,

      Terrasse les méchants, relève les victimes,

      Et sous le firmament comme un dais suspendu


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