Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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traten in größerer Zahl in den Städten auf, seitdem durch die neuen industriellen Verfahren der Abfall einen gewissen Wert bekommen hatte. Sie arbeiteten für Zwischenmeister und stellten eine Art Heimindustrie dar, die auf der Straße lag. Der Lumpensammler faszinierte seine Epoche. Die Blicke der ersten Erforscher des Pauperismus hingen an ihm wie gebannt mit der stummen Frage, wo die Grenze des menschlichen Elends erreicht sei. Frégier widmet ihm in seinem Buche »Des classes dangereuses de la population« sechs Seiten. Le Play gibt für die Zeit zwischen 1849 und 1850, mutmaßlich die, in der Baudelaires Gedicht entstanden ist, das Budget eines pariser Lumpensammlers und seiner Angehörigen900.

      Der Lumpensammler kann natürlich nicht zur Bohème zählen. Aber vom Literaten bis zum Berufsverschwörer konnte jeder, der zur Bohème gehörte, im Lumpensammler ein Stück von sich wiederfinden. Jeder stand, in mehr oder minder dumpfem Aufbegehren gegen die Gesellschaft, vor einem mehr oder minder prekären Morgen. Er konnte zu seiner Stunde mit denen fühlen, die an den Grundfesten dieser Gesellschaft rüttelten. Der Lumpensammler ist in seinem Traum nicht allein. Es begleiten ihn Kameraden; auch um sie ist der Duft von Fässern, und auch sie sind ergraut in Schlachten. Sein Schnurrbart hängt herunter wie eine alte Fahne. Auf seiner Runde begegnen ihm die mouchards, die Spitzel, über die ihm seine Träume die Herrschaft geben901. Soziale Motive aus dem pariser Alltag begegnen schon bei Sainte-Beuve. Sie waren dort eine Eroberung der lyrischen Poesie; eine der Einsicht aber darum noch nicht. Elend und Alkohol gehen im Geiste des gebildeten Privatiers eine wesentlich andere Verbindung ein als in dem eines Baudelaire.

      Dans ce cabriolet de place j’examine

      L’homme qui me conduit, qui n’est plus que machine,

      Hideux, à barbe épaisse, à longs cheveux collés:

      Vice et vin et sommeil chargent ses yeux soûlés.

      Comment l’homme peut-il ainsi tomber? pensais-je,

       Et je me reculais à l’autre coin du siège. 902

      Soweit der Anfang des Stücks; was folgt, ist die erbauliche Auslegung. Sainte-Beuve stellt sich die Frage, ob seine Seele nicht ähnlich verwahrlost sei wie die des Mietkutschers.

      Auf welchem Untergrunde der freiere und verständigere Begriff beruht, welchen Baudelaire von den Enterbten hatte, zeigt die »Abel et Caïn« überschriebene Litanei. Sie macht aus dem Widerstreit der biblischen Brüder den zweier auf ewig unversöhnlicher Rassen.

      Race d’Abel, dors, bois et mange;

      Dieu te sourit complaisamment.

      Race de Caïn, dans la fange

      Rampe et meurs misérablement.903

      Das Gedicht besteht aus sechzehn Zweizeilern, deren Beginn, alternierend, der gleiche ist wie der der vorstehenden. Kain, der Ahnherr der Enterbten, erscheint darin als Begründer einer Rasse, und diese kann keine andere sein als die proletarische. Im Jahre 1838 veröffentlichte Granier de Cassagnac seine »Histoire des classes ouvrières et des classes bourgeoises«. Dieses Werk wußte den Ursprung der Proletarier bekanntzugeben; sie formieren eine Klasse von Untermenschen, die aus einer Kreuzung von Räubern und Prostituierten entstanden ist. Hat Baudelaire diese Spekulationen gekannt? Es ist leicht möglich. Gewiß ist, daß sie Marx, der in Granier de Cassagnac »den Denker« der bonapartistischen Reaktion grüßte, begegnet waren. Dessen Rassentheorie parierte das »Kapital« im Begriff einer »Rasse eigentümlicher Warenbesitzer«904, unter der es das Proletariat versteht. Genau in diesem Sinne erscheint die Rasse, die von Kain herkommt, bei Baudelaire. Er hätte ihn freilich nicht definieren können. Es ist die Rasse derer, die keine andere Ware besitzen als ihre Arbeitskraft.

      Baudelaires Gedicht steht in dem »Revolte« überschriebenen Zyklus905. Die drei Stücke, die ihn zusammensetzen, halten einen blasphemischen Grundton fest. Der Satanismus von Baudelaire darf nicht allzu schwer genommen werden. Wenn er von einiger Bedeutung ist, so als die einzige Attitude, in der Baudelaire eine nonkonformistische Position auf die Dauer zu halten imstande war. Das letzte Stück des Zyklus, »Les litanies de Satan«, ist, seinem theologischen Inhalt nach, das miserere einer ophitischen Liturgie. Satan erscheint in seinem luziferischen Strahlenkranz: als Verwahrer des tiefen Wissens, als Unterweiser in den prometheischen Fertigkeiten, als Schutzpatron der Verstockten und Unbeugsamen. Zwischen den Zeilen blitzt das finstere Haupt Blanquis auf.

      Toi qui fais au proscrit ce regard calme et haut

       Qui damne tout un peuple autour d’un échafaud. 906

      Dieser Satan, den die Kette der Anrufungen auch als den »Beichtvater … der Verschwörer« kennt, ist ein anderer als der höllische Intrigant, den die Gedichte mit dem Namen des Satan trismegistos, des Dämon, die Prosastücke mit dem Ihrer Hoheit nennen, die ihre unterirdische Wohnung in der Nähe des Boulevards hat. Lemaître hat auf den Zwiespalt hingewiesen, der aus dem Teufel hier »einmal den Urheber alles Bösen, dann wieder den großen Besiegten, das große Opfer«907 macht. Es heißt das Problem nur anders wenden, wenn man die Frage aufwirft, was Baudelaire nötigte, der radikalen Absage an die Herrschenden eine radikal-theologische Form zu geben.

      Der Protest gegen die bürgerlichen Begriffe von Ordnung und Ehrbarkeit war nach der Niederlage des Proletariats im Junikampf bei den Herrschenden besser aufgehoben als bei den Unterdrückten. Die, welche sich zu Freiheit und Recht bekannten, erblickten in Napoleon III. nicht den Soldatenkaiser, der er in Nachfolge seines Oheims sein wollte, sondern den vom Glück begünstigten Hochstapler. So haben die »Châtiments« seine Figur festgehalten. Die Bohème dorée ihrerseits sah in seinen rauschenden Festlichkeiten, in dem Hofstaat, mit welchem er sich umgab, ihre Träume von einem ›freien‹ Leben in der Wirklichkeit angesiedelt. Die Memoiren, in denen der Graf Viel-Castel die Umgebung des Kaisers schildert, lassen eine Mimi und einen Schaunard als recht ehrbar und spießbürgerlich erscheinen. In der oberen Schicht gehörte der Zynismus zum guten Ton, das rebellische Räsonnement in der unteren. Vigny hatte in seinem »Eloa« dem gefallenen Engel, dem Luzifer, auf Byrons Spur im gnostischen Sinn gehuldigt. Barthélemy, auf der anderen Seite, hatte in seiner »Némésis« den Satanismus den Herrschenden zugesellt; er ließ eine Messe des agios sagen und einen Psalm von der Rente absingen908. Dieses Doppelgesicht des Satans ist Baudelaire durch und durch vertraut. Ihm spricht der Satan nicht nur für die Unteren sondern auch für die Oberen. Marx hätte sich kaum einen besseren Leser für die folgenden Zeilen wünschen können. »Als die Puritaner«, so heißt es im »Achtzehnten Brumaire«, »auf dem Konzil von Konstanz über das lasterhafte Leben der Päpste klagten …, donnerte der Kardinal Pierre d’Ailly ihnen zu: ›Nur noch der Teufel in eigener Person kann die katholische Kirche retten, und ihr verlangt Engel.‹ So rief die französische Bourgeoisie nach dem Staatsstreich: Nur noch der Chef der Gesellschaft vom 10. Dezember kann die bürgerliche Gesellschaft retten! Nur noch der Diebstahl das Eigentum, der Meineid die Religion, das Bastardtum die Familie, die Unordnung die Ordnung.«909 Baudelaire, der Bewunderer der Jesuiten, wollte, auch in seinen rebellischen Stunden, diesem Retter nicht ganz aufsagen und nicht für immer. Seine Verse behielten sich vor, was seine Prosa sich nicht verboten hatte. Darum stellt sich der Satan in ihnen ein. Ihm danken sie die subtile Kraft, noch im verzweifelten Aufbegehren dem die Gefolgschaft nicht ganz zu kündigen, wogegen Einsicht und Menschlichkeit sich empörten. Fast immer dringt das Bekenntnis der Frömmigkeit wie ein Streitruf aus Baudelaire. Er will sich seinen Satan nicht nehmen lassen. Der ist der wahre Einsatz in dem Konflikt, den Baudelaire mit seinem Unglauben zu bestehen hatte. Es geht nicht um Sakramente und um Gebet; es geht um den luziferischen Vorbehalt, den Satan zu lästern, dem man verfallen ist.

      Mit seiner Freundschaft zu Pierre Dupont hat sich Baudelaire als sozialer Dichter bekennen wollen. Die kritischen Schriften von d’Aurevilly geben von diesem Autor eine Skizze: »In diesem Talent und in diesem Kopfe hat Kain über den sanften Abel die Oberhand – der rohe, ausgehungerte, neiderfüllte und wilde Kain, der in die Städte gegangen ist, um die Hefe des Grolls zu schlürfen, die sich dort ansammelt, und Teil an den falschen Ideen zu haben, die dort ihren Triumph erleben.«910 Diese Charakteristik sagt recht genau, was Baudelaire mit Dupont


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