Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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konnte. Sie geht auf die Physiognomiker des achtzehnten Jahrhunderts zurück. Mit deren solideren Bemühungen hat sie allerdings wenig zu tun. Bei Lavater oder bei Gall war neben der Spekulation und Schwärmerei echte Empirie mit im Spiel. Die Physiologien zehrten von deren Kredit, ohne aus Eigenem dazuzugeben. Sie versicherten, jedermann sei, von Sachkenntnis ungetrübt, imstande, Beruf, Charakter, Herkunft und Lebensweise der Passanten abzulesen. Bei ihnen erscheint diese Gabe als eine Fähigkeit, die die Feen dem Großstädter in die Wiege legen. Mit solchen Gewißheiten war vor allen andern Balzac in seinem Element. Seine Vorliebe für uneingeschränkte Aussagen fuhr gut mit ihnen. »Das Genie«, schreibt er beispielsweise, »ist im Menschen so sichtbar, daß der Ungebildetste, wenn er sich in Paris ergeht und dabei einen großen Künstler kreuzt, sofort wissen wird, woran er ist.«950 Delvau, Baudelaires Freund und der interessanteste unter den kleinen Meistern des Feuilletons, will das Publikum von Paris nach seinen verschiedenen Schichten so leicht auseinanderhalten wie ein Geologe die Schichtungen im Gestein. Ließ sich dergleichen tun, dann war allerdings das Leben in der Großstadt nicht entfernt so beunruhigend, wie es den Menschen wahrscheinlich vorkam. Dann war es nur eine Floskel, wenn Baudelaire fragt, »was sind die Gefahren des Waldes und der Prärie mit den täglichen Chocks und Konflikten in der zivilisierten Welt verglichen? Ob der Mensch auf dem Boulevard sein Opfer unterfaßt oder in unbekannten Wäldern seine Beute durchbohrt – bleibt er nicht hier und dort das vollkommenste aller Raubtiere?«951

      Baudelaire gebraucht für dieses Opfer den Audruck ›dupe‹; das Wort bezeichnet den Betrogenen, Genasführten; zu ihm steht der Menschenkenner im Gegensatz. Je weniger geheuer die Großstadt wird, desto mehr Menschenkenntnis, so dachte man, gehört dazu, in ihr zu operieren. In Wahrheit führt der verschärfte Konkurrenzkampf den Einzelnen vor allem dahin, seine Interessen gebieterisch anzumelden. Deren präzise Kenntnis wird, wenn es gilt, das Verhalten eines Menschen abzuschätzen, oft viel dienlicher als die seines Wesens sein. Die Gabe, deren der Flaneur sich so gerne rühmt, ist darum eher eines der Idole, die schon Baco auf dem Markte ansiedelt. Baudelaire hat diesem Idol kaum gehuldigt. Der Glaube an die Erbsünde feite ihn gegen den Glauben an Menschenkenntnis. Er hielt es mit de Maistre, der seinerseits das Studium des Dogmas mit dem des Baco vereinigt hatte.

      Die beruhigenden Mittelchen, welche die Physiologisten feilhielten, waren bald abgetan. Der Literatur dagegen, die sich an die beunruhigenden und bedrohlichen Seiten des städtischen Lebens gehalten hat, sollte eine große Zukunft beschieden sein. Auch diese Literatur hat es mit der Masse zu tun. Sie verfährt aber anders als die Physiologien. Ihr liegt an der Bestimmung von Typen wenig; sie geht vielmehr den Funktionen nach, welche der Masse in der großen Stadt eigen sind. Unter ihnen drängte eine sich auf, die schon ein Polizeibericht um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts hervorhebt. »Es ist fast unmöglich«, schreibt ein pariser Geheimagent im Jahre 1798, »gute Lebensart in einer dicht massierten Bevölkerung aufrecht zu erhalten, wo jeder einzelne allen andern sozusagen unbekannt ist und daher vor niemandem zu erröten braucht.«952 Hier erscheint die Masse als das Asyl, das den Asozialen vor seinen Verfolgern schützt. Unter ihren bedrohlichen Seiten hat sich diese am zeitigsten angekündigt. Sie steht im Ursprung der Detektivgeschichte.

      In Zeiten des Terrors, wo jedermann etwas vom Konspirateur an sich hat, wird auch jedermann in die Lage kommen, den Detektiv zu spielen. Die Flanerie gibt ihm darauf die beste Anwartschaft. »Der Beobachter«, sagt Baudelaire, »ist ein Fürst, der überall im Besitze seines Inkognitos ist.«953 Wenn der Flaneur dergestalt zu einem Detektiv wider Willen wird, so kommt ihm das gesellschaftlich sehr zupaß. Es legitimiert seinen Müßiggang. Seine Indolenz ist eine nur scheinbare. Hinter ihr verbirgt sich die Wachsamkeit eines Beobachters, der den Missetäter nicht aus den Augen läßt. So sieht der Detektiv ziemlich weite Gefilde seinem Selbstgefühl aufgetan. Er bildet Formen des Reagierens aus, wie sie dem Tempo der Großstadt anstehen. Er erhascht die Dinge im Flug; er kann sich damit in die Nähe des Künstlers träumen. Den geschwinden Stift des Zeichners lobt jedermann. Balzac will Künstlerschaft überhaupt an geschwindes Erfassen gebunden wissen954. – Kriminalistischer Spürsinn mit der gefälligen Nonchalance des Flaneurs vereinigt gibt den Aufriß von Dumas’ »Mohicans de Paris«. Ihr Held entschließt sich, auf Abenteuer auszuziehen, indem er einem Fetzen Papier nachgeht, den er den Winden zum Spiel überlassen hat. Welche Spur der Flaneur auch verfolgen mag, jede wird ihn auf ein Verbrechen führen. Damit ist angedeutet, wie auch die Detektivgeschichte, ihres nüchternen Kalküls ungeachtet, an der Phantasmagorie des pariser Lebens mitwirkt. Noch verklärt sie nicht den Verbrecher; aber sie verklärt seine Gegenspieler und vor allem die Jagdgründe, in denen sie ihn verfolgen. Messac hat gezeigt, wie man sich bemüht, dabei Reminiszenzen an Cooper heranzuziehen955. Das Interessante an Coopers Einfluß ist: man verbirgt ihn nicht, man stellt ihn vielmehr zur Schau. In den erwähnten »Mohicans de Paris« liegt die Schaustellung schon im Titel; der Autor macht dem Leser die Aussicht, ihm in Paris einen Urwald und eine Prärie zu öffnen. Das holzgeschnittene Frontispice zum dritten Band zeigt eine bebuschte, damals wenig begangene Straße; die Beschriftung der Ansicht lautet: »Der Urwald in der d’Enfer-Straße«. Der Verlagsprospekt dieses Werkes umreißt den Zusammenhang mit einer großartigen Floskel, in der man die Hand des von sich begeisterten Verfassers vermuten darf: »Paris – die Mohikaner … diese beiden Namen prallen aufeinander wie das Qui vive zweier gigantischer Unbekannter. Es trennt die beiden ein Abgrund; er ist von den Funken jenes elektrischen Lichtes durchzuckt, das seinen Herd in Alexandre Dumas hat.« Féval versetzte schon früher eine Rothaut in weltstädtische Abenteuer. Sie heißt Tovah und bringt es fertig, auf einer Ausfahrt in einem Fiaker ihre vier weißen Begleiter so zu skalpieren, daß der Kutscher nichts davon merkt. Die »Mystères de Paris« weisen gleich zu Beginn auf Cooper, um zu versprechen, daß ihre Helden aus der pariser Unterwelt »nicht minder der Zivilisation entrückt sind als die Wilden, die Cooper so trefflich darstellt«. Besonders ist aber Balzac nicht müde geworden, auf Cooper als auf sein Vorbild hinzuweisen. »Die Poesie des Schreckens, von der die amerikanischen Wälder, in denen feindliche Stämme auf dem Kriegspfad einander begegnen, voll sind – diese Poesie, die Cooper so zustatten gekommen ist, eignet genau so den kleinsten Details des pariser Lebens. Die Passanten, die Läden, die Mietkutschen oder ein Mann, der gegen ein Fenster lehnt, all das interessierte die Leute von Peyrades Leibwache ebenso brennend wie ein Baumstumpf, ein Biberbau, ein Felsen, eine Büffelhaut, ein unbewegliches Canoe oder ein treibendes Blatt den Leser eines Romans von Cooper.« Balzacs Intrige ist reich an Spielformen zwischen Indianer- und Detektivgeschichte. Früh hat man seine »Mohicaner im Spencer« und »Huronen im Gehrock« beanstandet956. Andererseits schreibt Hippolyte Babou, der Baudelaire nahestand, rückblickend im Jahre 1857: »Wenn Balzac … die Mauern durchbricht, um der Beobachtung freie Bahn zu geben …, so horcht man an den Türen …, man verhält sich mit einem Wort … wie unsre Nachbarn, die Engländer, in ihrer Prüderie sagen, als police détective.«957

      Die Detektivgeschichte, deren Interesse in einer logischen Konstruktion liegt, die als solche der Kriminalnovelle nicht eignen muß, erscheint für Frankreich zum ersten Male mit den Übersetzungen der Poeschen Erzählungen: »Das Geheimnis der Marie Roget«, »Der Doppelmord in der rue Morgue«, »Der entwendete Brief«. Mit der Übertragung dieser Modelle hat Baudelaire die Gattung adoptiert. Poes Werk ging durchaus in sein eigenes ein; und Baudelaire betont diesen Sachverhalt, indem er sich solidarisch mit der Methode macht, in der die einzelnen Gattungen, denen Poe sich zuwandte, übereinkommen. Poe ist einer der größten Techniker der neueren Literatur gewesen. Er als erster hat es, wie Valéry bemerkt958, mit der wissenschaftlichen Erzählung, mit der modernen Kosmogonie, mit der Darstellung pathologischer Erscheinungen versucht. Diese Gattungen galten ihm als exakte Hervorbringungen einer Methode, für die er allgemeine Geltung beanspruchte. Genau darin trat ihm Baudelaire zur Seite und im Sinne von Poe schreibt er: »Die Zeit ist nicht fern, da man verstehen wird, daß eine Literatur, die sich weigert, brüderlich vereint mit der Wissenschaft und mit der Philosophie ihren Weg zu machen, eine mörderische und selbstmörderische Literatur ist.«959 Die Detektivgeschichte, die folgenreichste unter den technischen Errungenschaften von Poe, gehörte einem Schrifttum an, das dem Baudelaireschen Postulat Genüge tat. Ihre Analyse macht einen Teil der Analyse von Baudelaires eigenem Werk, unbeschadet der Tatsache, daß von ihm keine solchen Geschichten verfaßt worden sind. Als disiecta membra kennen die »Fleurs du mal« drei von ihren entscheidenden Elementen:


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