Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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in Cafés oder in Lesezirkel. Es traf sich, daß er zwei Domizile zugleich bewohnte – aber an Tagen, an denen die Miete fällig wurde, nächtigte er oft bei Freunden in einem dritten. So trieb er sich in der Stadt herum, welche dem Flaneur längst nicht mehr Heimat war. Jedes Bett, in das er sich legte, war für ihn zu einem »lit hasardeux«967 geworden. Crépet zählt zwischen 1842 und 1858 vierzehn pariser Adressen von Baudelaire.

      Technische Maßnahmen mußten dem administrativen Kontrollprozeß zu Hilfe kommen. Am Anfang des Identifikationsverfahrens, dessen derzeitiger Standard durch die Bertillonsche Methode gegeben ist, steht die Personalbestimmung durch Unterschrift. In der Geschichte dieses Verfahrens stellt die Erfindung der Photographie einen Einschnitt dar. Sie bedeutet für die Kriminalistik nicht weniger als die des Buchdrucks für das Schrifttum bedeutet hat. Die Photographie ermöglicht zum ersten Mal, für die Dauer und eindeutig Spuren von einem Menschen festzuhalten. Die Detektivgeschichte entsteht in dem Augenblick, da diese einschneidendste aller Eroberungen über das Inkognito des Menschen gesichert war. Seither ist kein Ende der Bemühungen abzusehen, ihn dingfest im Reden und Tun zu machen.

      Poes berühmte Novelle »Der Mann der Menge« ist etwas wie das Röntgenbild einer Detektivgeschichte. Der umkleidende Stoff, den das Verbrechen darstellt, ist in ihr weggefallen. Die bloße Armatur ist geblieben: der Verfolger, die Menge, ein Unbekannter, der seinen Weg durch London so einrichtet, daß er immer in deren Mitte bleibt. Dieser Unbekannte ist der Flaneur. So ist er von Baudelaire auch verstanden worden, als er in seinem Guys-Essay den Flaneur »l’homme des foules« genannt hat. Aber Poes Beschreibung dieser Figur ist frei von der Konnivenz, die Baudelaire ihr entgegenbrachte. Der Flaneur ist für Poe vor allem einer, dem es in seiner eigenen Gesellschaft nicht geheuer ist. Darum sucht er die Menge; nicht weit davon wird der Grund, aus dem er sich in ihr verbirgt, zu suchen sein. Den Unterschied zwischen dem Asozialen und dem Flaneur verwischt Poe vorsätzlich. Ein Mann wird in dem Maße verdächtiger als er schwerer aufzutreiben ist. Von längerer Verfolgung abstehend, faßt im stillen der Erzähler seine Erkenntnis so zusammen: »›Dieser alte Mann ist die Verkörperung, ist der Geist des Verbrechens‹, sagte ich zu mir. ›Er kann nicht allein sein; er ist der Mann der Menge.‹«968

      Das Interesse des Lesers wird vom Verfasser nicht für diesen Mann allein beansprucht; es wird sich mindestens gleich sehr an die Schilderung der Menge heften. Dies aus dokumentarischen Gründen ebenso wie aus künstlerischen. In beiden Hinsichten ragt sie hervor. Was zuerst frappiert, ist, wie hingerissen der Erzähler dem Schauspiel der Menge folgt. Dem folgt auch, in einer bekannten Erzählung E. T. A. Hoffmanns, der Vetter an seinem Eckfenster. Aber wie befangen geht der Blick dessen über die Menge hin, der in seinem Hauswesen installiert ist. Und wie durchdringend ist der des Mannes, der durch die Scheiben des Kaffeehauses starrt. In dem Unterschied der Beobachtungsposten steckt der Unterschied zwischen Berlin und London. Auf der einen Seite der Privatier; er sitzt im Erker wie in einer Rangloge; wenn er auf dem Markt sich deutlicher umsehen will, so hat er einen Operngucker zur Hand. Auf der andern Seite der Konsument, der namenlose, der ins Kaffeehaus eintritt und es in kurzem, angezogen von dem Magneten der Masse, von dem er unablässig bestrichen wird, wieder verlassen wird. Auf der einen Seite ein Vielerlei kleiner Genrebilder, die insgesamt ein Album von kolorierten Stichen bilden; auf der andern Seite ein Aufriß, der einen großen Radierer zu inspirieren imstande wäre; eine unabsehbare Menge, in welcher keiner dem andern ganz deutlich und keiner dem andern ganz undurchschaubar ist. Dem deutschen Kleinbürger sind seine Grenzen eng gesteckt. Und doch war Hoffmann nach seiner Veranlagung von der Familie der Poe und der Baudelaire. In den biographischen Bemerkungen zu der Originalausgabe seiner letzten Schriften wird angemerkt: »Von der freien Natur war Hoffmann nie ein besonderer Freund. Der Mensch, Mittheilung mit, Beobachtungen über, das blose Sehen von Menschen, galt ihm mehr als Alles. Ging er im Sommer spazieren, was bei schönem Wetter täglich gegen Abend geschah, so … fand sich nicht leicht ein Weinhaus, ein Conditorladen, wo er nicht eingesprochen, um zu sehen, ob und welche Menschen da seyen.«969 Später klagte ein Dickens, wenn er auf Reisen war, immer wieder über den Mangel an Straßenlärm, der ihm für seine Produktion unerläßlich sei. »Ich kann nicht sagen, wie sehr die Straßen mir fehlen«, schrieb er 1846 aus Lausanne, in der Arbeit an »Dombey und Sohn« begriffen. »Es ist, als ob sie meinem Gehirn etwas gäben, dessen es, wenn es arbeiten soll, nicht entbehren kann. Eine Woche, vierzehn Tage kann ich wunderbar schreiben an einem entlegenen Orte; ein Tag in London genügt dann, mich wieder aufzuziehen … Aber die Mühe und Arbeit, zu schreiben, Tag für Tag, ohne diese magische Laterne, ist ungeheuer … Meine Figuren scheinen stillstehen zu wollen, wenn sie keine Menge um sich haben.«970 Unter dem vielen, was Baudelaire an dem verhaßten Brüssel aussetzt, erfüllt eines ihn mit besonderem Groll: »Keine Schaufenster. Die Flanerie, die von Völkern mit Phantasie geliebt wird, ist in Brüssel nicht möglich. Es gibt nichts zu sehen, und die Straßen sind unbenutzbar.«971 Baudelaire liebte die Einsamkeit; aber er wollte sie in der Menge.

      Im Verlaufe seiner Erzählung läßt Poe es dunkel werden. Er verweilt bei der Stadt im Gaslicht. Die Erscheinung der Straße als Interieur, in der die Phantasmagorie des Flaneurs sich zusammenfaßt, ist von der Gasbeleuchtung nur schwer zu trennen. Das erste Gaslicht brannte in den Passagen. In Baudelaires Kindheit fällt der Versuch, unter freiem Himmel es zu verwerten; man stellte auf der Place Vendôme Kandelaber auf. Unter Napoleon III. wächst die Zahl der pariser Gaslaternen in schneller Folge972. Das erhöhte die Sicherheit in der Stadt; es machte die Menge auf offener Straße auch des Nachts bei sich selber heimisch; es verdrängte den Sternenhimmel aus dem Bilde der großen Stadt zuverlässiger als das durch ihre hohen Häuser geschah. »Ich ziehe den Vorhang hinter der Sonne zu; nun ist sie zu Bett gebracht wie es sich gehört; ich sehe fortan kein anderes Licht als das der Gasflamme.«973974 Mond und Sterne sind nicht mehr erwähnenswert.

      In der Blütezeit des Second Empire schlossen die Läden in den Hauptstraßen nicht vor zehn Uhr abends. Es war die große Zeit des noctambulisme. »Der Mensch«, schrieb damals Delvau in dem der zweiten Stunde nach Mitternacht gewidmeten Kapitel seiner »Heures parisiennes«, »darf sich von Zeit zu Zeit ausruhen; Haltepunkte und Stationen sind ihm erlaubt; aber er hat nicht das Recht zu schlafen.«975 Am genfer See gedenkt Dickens wehmütig Genuas, wo er zwei Meilen Straße hatte, in deren Beleuchtung er in den Nächten herumirren konnte. Später als mit dem Aussterben der Passagen die Flanerie aus der Mode kam und auch Gaslicht nicht mehr für vornehm galt, schien einem letzten Flaneur, der traurig durch die leere Passage Colbert schlenderte, das Flackern der Kandelaber nur noch die Angst ihrer Flamme zur Schau zu tragen, am Monatsende nicht mehr bezahlt zu werden976. Damals schrieb Stevenson seine Klage auf das Verschwinden der Gaslaternen. Sie hängt vor allem dem Rhythmus nach, in dem Laternenanzünder durch die Straßen hin eine nach der andern die Laternen entzünden. Erst hebt sich dieser Rhythmus vom Gleichmaß der Dämmerung ab, nun aber von einem brutalen Chock, mit dem ganze Städte auf einen Schlag im Schein des elektrischen Lichts daliegen. »Dieses Licht sollte nur auf Mörder oder auf Staatsverbrecher fallen oder in Irrenanstalten den Gang erleuchten – Grauen, Grauen zu steigern angetan.«977 Manches spricht dafür, daß Gaslicht erst spät so idyllisch empfunden wurde wie von Stevenson, der ihm den Nachruf schreibt. Vor allem bezeugt das der fragliche Poesche Text. Unheimlicher ist die Wirkung dieses Lichts kaum zu schildern: »Die Strahlen der Gaslaternen waren zuerst schwach gewesen als sie noch mit der Abenddämmerung in Streit gelegen hatten. Nun hatten sie gesiegt und warfen ein flackerndes und grelles Licht ringsumher. Alles sah schwarz aus, funkelte aber wie das Ebenholz, mit dem man den Stil Tertullians verglichen hat.«978 »Im Innern des Hauses«, heißt es bei Poe an anderer Stelle, »ist Gas durchaus unstatthaft. Sein flackerndes, hartes Licht beleidigt das Auge.«979

      Düster und zerfahren wie das Licht, in welchem sie sich bewegt, erscheint die londoner Menge selbst. Das gilt nicht nur von dem Gesindel, das mit der Nacht »aus den Höhlen«980 kriecht. Die Klasse der höheren Angestellten wird von Poe folgendermaßen beschrieben: »Ihr Haar war zumeist bereits ziemlich gelichtet, ihr rechtes Ohr stand infolge seiner Verwendung als Träger des Federhalters gewöhnlich etwas vom Kopfe ab. Alle rückten gewohnheitsmäßig mit beiden Händen an ihren Hüten und alle trugen kurze goldene Uhrketten von altmodischer Form.«981 Auf den unmittelbaren Augenschein ist Poe in seiner Schilderung nicht aus gewesen. Die Gleichförmigkeiten,


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