Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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dieses Geschöpf unbekümmert in die Bruderschaft der Bohème ein. Baudelaire wußte, wie es um den Literaten in Wahrheit stand: als Flaneur begibt er sich auf den Markt; wie er meint, um ihn anzusehen, und in Wahrheit doch schon, um einen Käufer zu finden.

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      Der Schriftsteller, der den Markt einmal betreten hatte, sah sich dort um wie in einem Panorama. Eine eigene Literaturgattung hat seine ersten Orientierungsversuche aufbehalten. Es ist eine panoramatische Literatur. »Le livre des Cent-et-un«, »Les Français peints par eux-mêmes«, »Le diable à Paris«, »La grande ville« genossen nicht zufällig um die gleiche Zeit wie die Panoramen die Gunst der Hauptstadt. Diese Bücher bestehen aus einzelnen Skizzen, die mit ihrer anekdotischen Einkleidung den plastischen Vordergrund jener Panoramen und mit ihrem informatorischen Fundus deren weitgespannten Hintergrund gleichsam nachbilden. Zahlreiche Autoren leisteten Beisteuer zu ihnen. So sind diese Sammelwerke ein Niederschlag der gleichen belletristischen Kollektivarbeit, der Girardin im Feuilleton eine Stätte eröffnet hatte. Sie waren das Salongewand eines Schrifttums, das von Hause aus dem Straßenverschleiß bestimmt war. In diesem Schrifttum nahmen die unscheinbaren Hefte in Taschenformat, die sich ›physiologies‹ nannten, einen bevorzugten Platz ein. Sie gingen Typen nach, wie sie dem, der den Markt in Augenschein nimmt, begegnen. Vom fliegenden Straßenhändler der Boulevards bis zu den Elegants im Foyer der Oper gab es keine Figur des pariser Lebens, die der physiologue nicht umrissen hätte. Der große Augenblick der Gattung fällt in den Anfang der vierziger Jahre. Sie ist die hohe Schule des Feuilletons; Baudelaires Generation hat sie durchgemacht. Daß sie ihm selber wenig zu sagen hatte, zeigt, wie früh er den eigenen Weg ging.

      Man zählte 1841 sechsundsiebenzig neue Physiologien942. Von diesem Jahre an sank die Gattung ab; mit dem Bürgerkönigtum war auch sie verschwunden. Sie war eine von Grund auf kleinbürgerliche. Monnier, der Meister des Genres, war ein mit ungewöhnlicher Fähigkeit zur Selbstbeobachtung ausgestatteter Spießer. Nirgends durchbrachen diese Physiologien den beschränktesten Horizont. Nachdem sie sich den Typen gewidmet hatten, kam die Reihe an die Physiologie der Stadt. Es erschienen »Paris la nuit«, »Paris à table«, »Paris dans l’eau«, »Paris à cheval«, »Paris pittoresque«, »Paris marié«. Als auch diese Ader erschöpft war, wagte man sich an eine ›Physiologie‹ der Völker. Man vergaß nicht die ›Physiologie‹ der Tiere, die sich seit jeher als harmloser Vorwurf empfohlen haben. Auf die Harmlosigkeit kam es an. In seinen Studien zur Geschichte der Karikatur macht Eduard Fuchs darauf aufmerksam, daß im Anfang der Physiologien die sogenannten Septembergesetze stehen – das sind die verschärften Zensurmaßnahmen von 1836. Durch sie wurde eine Mannschaft von fähigen und in der Satire geschulten Künstlern mit einem Schlage von der Politik abgedrängt. Wenn das in der Graphik gelang, so mußte das Regierungsmanöver erst recht in der Literatur glücken. Denn in ihr gab es keine politische Energie, die sich mit der eines Daumier hätte vergleichen lassen. Die Reaktion ist also die Voraussetzung, »aus der sich die kolossale Revue des bürgerlichen Lebens erklärt, die … in Frankreich einsetzte … Alles defilierte vorüber … Freudentage und Trauertage, Arbeit und Erholung, Eheliche Sitten und Junggesellengebräuche, Familie, Haus, Kind, Schule, Gesellschaft, Theater, Typen, Berufe.«943

      Die Gemächlichkeit dieser Schildereien paßt zu dem Habitus des Flaneurs, der auf dem Asphalt botanisieren geht. Aber schon damals konnte man nicht überall in der Stadt umherschlendern. Breite Bürgersteige waren vor Haussmann selten; die schmalen boten wenig Schutz vor den Fuhrwerken. Die Flanerie hätte sich zu ihrer Bedeutung schwerlich ohne die Passagen entwickeln können. »Die Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen Luxus«, sagt ein illustrierter pariser Führer von 1852, »sind glasgedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben. Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so daß eine solche Passage eine Stadt, eine Welt im Kleinen ist.« In dieser Welt ist der Flaneur zuhause; er verhilft »dem Lieblingsaufenthalte der Spaziergänger und der Raucher, dem Tummelplatze aller möglichen kleinen Metiers«944 zu seinem Chronisten und seinem Philosophen. Sich selber aber verhilft er dort zu dem unfehlbaren Heilmittel gegen die Langeweile, wie sie unter dem Basiliskenblick einer saturierten Reaktion leicht gedeiht. »Wer imstande wäre«, so lautet ein durch Baudelaire überliefertes Wort von Guys, »sich in einer Menschenmenge zu langweilen, ist ein Dummkopf. Ein Dummkopf, wiederhole ich, und ein verächtlicher.«945 Die Passagen sind ein Mittelding zwischen Straße und Interieur. Will man von einem Kunstgriff der Physiologien reden, so ist es der bewährte des Feuilletons: nämlich den Boulevard zum Interieur zu machen. Die Straße wird zur Wohnung für den Flaneur, der zwischen Häuserfronten so wie der Bürger in seinen vier Wänden zuhause ist. Ihm sind die glänzenden emaillierten Firmenschilder so gut und besser ein Wandschmuck wie im Salon dem Bürger ein Ölgemälde; Mauern sind das Schreibpult, gegen das er seinen Notizblock stemmt; Zeitungskioske sind seine Bibliotheken und die Caféterrassen Erker, von denen aus er nach getaner Arbeit auf sein Hauswesen heruntersieht. Daß das Leben in seiner ganzen Vielfalt, in seinem unerschöpflichen Reichtum an Variationen erst zwischen den grauen Pflastersteinen und vor dem grauen Hintergrunde der Despotie gedeiht – das war der politische Hintergedanke des Schrifttums, dem die Physiologien angehörten.

      Dieses Schrifttum war auch gesellschaftlich nicht geheuer. Der langen Reihe von kauzigen oder simplen, gewinnenden oder strengen Charakterköpfen, die die Physiologien dem Leser vorstellen, ist eines gemeinsam: sie sind harmlos, von vollendeter Bonhomie. Eine solche Ansicht vom Nebenmenschen lag zu weit von der Erfahrung ab, um sich nicht von ungewöhnlich triftigen Ursachen herzuschreiben. Sie kam aus einer Beunruhigung von besonderer Art. Die Leute hatten mit einem neuen, ziemlich befremdenden Umstand sich abzufinden, der den Großstädten eigentümlich ist. In einer glücklichen Formulierung hat Simmel festgehalten, was hier in Frage steht. »Wer sieht, ohne zu hören, ist viel … beunruhigter als wer hört, ohne zu sehen. Hier liegt etwas für die Soziologie der Großstadt Charakteristisches. Die wechselseitigen Beziehungen der Menschen in den Großstädten … zeichnen sich durch ein ausgesprochenes Übergewicht der Aktivität des Auges über die des Gehörs aus. Die Hauptursachen davon sind die öffentlichen Verkehrsmittel. Vor der Entwicklung der Omnibusse, der Eisenbahnen, der Tramways im neunzehnten Jahrhundert waren die Leute nicht in die Lage gekommen, lange Minuten oder gar Stunden sich gegenseitig ansehen zu müssen, ohne aneinander das Wort zu richten.«946 Der neue Zustand war, wie Simmel erkennt, kein anheimelnder. Schon Bulwer instrumentierte seine Schilderung der großstädtischen Menschen im »Eugen Aram« mit dem Hinweis auf die Goethische Bemerkung, jeder Mensch, der beste wie der elendeste, trage ein Geheimnis mit sich herum, das ihn allen andern verhaßt machen würde, sollte es bekannt werden947. Ähnliche beunruhigende Vorstellungen als geringfügig beiseite zu schieben, waren die Physiologien gerade gut. Sie stellten, wenn man so sagen darf, die Scheuklappen des ›bornierten Stadttiers‹948 vor, von dem bei Marx einmal die Rede ist. Wie gründlich sie, wo es nottat, den Blick beschränkten, zeigt eine Schilderung des Proletariers in Foucauds »Physiologie de l’industrie française«: »Ruhiger Genuß ist für den Arbeiter geradezu erschöpfend. Sei das Haus, das er bewohnt, unter wolkenlosem Himmel noch so begrünt, von Blumen durchduftet und vom Gezwitscher der Vogel belebt – ist er müßig, so bleibt er den Reizen der Einsamkeit unzugänglich. Trifft aber zufällig ein scharfer Ton oder Pfiff aus einer entfernten Fabrik sein Ohr, hört er auch nur das einförmige Geklapper, das vom Mühlwerk einer Manufaktur herrührt, gleich heitert sich seine Stirne auf … Er spürt nicht mehr den erlesenen Blumenduft. Der Rauch aus dem hohen Fabrikschornstein, die dröhnenden Schläge vom Amboß her lassen ihn vor Freude erzittern. Er erinnert sich der seligen Tage seiner durch den Geist des Erfinders gelenkten Arbeit.«949 Der Unternehmer, der diese Beschreibung las, ging vielleicht gelassener als sonst zur Ruhe.

      Das Nächstliegende war in der Tat, den Leuten voneinander ein freundliches Bild zu geben. Damit webten die Physiologien auf ihre Art an der Phantasmagorie des pariser Lebens. Aber ihr Verfahren konnte nicht sehr weit führen. Die Leute kannten einander als Schuldner und Gläubiger, als Verkäufer und Kunde, als Arbeitgeber und Angestellter – vor allem kannten sie einander als Konkurrenten. Ihnen von ihren Partnern die Vorstellung eines


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