Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Baudelaire hat keine Detektivgeschichte verfaßt, weil die Identifikation mit dem Detektiv ihm nach seiner Triebstruktur unmöglich gewesen ist. Der Kalkül, das konstruktive Moment stand bei ihm auf der Seite des Asozialen. Es ist ganz und gar in die Grausamkeit eingebracht. Baudelaire ist ein zu guter Leser von Sade gewesen, um mit Poe konkurrieren zu können960.

      Der ursprüngliche gesellschaftliche Inhalt der Detektivgeschichte ist die Verwischung der Spuren des Einzelnen in der Großstadtmenge. Eingehend widmet Poe sich diesem Motiv im »Geheimnis der Marie Roget«, der umfangreichsten von seinen Kriminalnovellen. Gleichzeitig ist diese Novelle der Prototyp der Verwertung journalistischer Informationen bei der Aufdeckung von Verbrechen. Poes Detektiv, der Chevalier Dupin arbeitet hier nicht auf Grund des Augenscheins sondern der Berichte der Tagespresse. Die kritische Analyse ihrer Berichte gibt das Gerüst der Erzählung ab. Unter anderm muß der Zeitpunkt des Verbrechens ermittelt werden. Ein Blatt, der »Commerciel«, vertritt die Ansicht, Marie Roget, die Ermordete, sei unmittelbar nachdem sie die mütterliche Wohnung verlassen habe, beseitigt worden. »›Es ist unmöglich – schreibt er –, daß eine junge Frau, die mehreren tausend Personen bekannt war, auch nur drei Straßenecken weit gekommen wäre, ohne auf einen Passanten zu stoßen, dem ihr Gesicht bekannt war …‹ Das ist nun die Vorstellungsweise eines Mannes, der im öffentlichen Leben steht und seit langem in Paris ansässig ist, der sich im übrigen in dieser Stadt fast immer in der Gegend der öffentlichen Verwaltungsgebäude bewegt. Sein Kommen und Gehen spielt sich in regelmäßigen Fristen in einem beschränkten Sektor ab und in ihm bewegen sich Leute, die Beschäftigungen nachgehen, welche der seinen ähneln; diese Leute interessieren sich daher für ihn, und sie nehmen von seiner Person Notiz. Demgegenüber darf man sich die Wege, wie sie gewöhnlich von Marie in der Stadt beschrieben wurden als unregelmäßig vorstellen. In dem besondern Falle, mit dem wir es zu tun haben, muß für wahrscheinlich gelten, daß ihr Weg von dem üblicherweise von ihr beschriebenen abwich. Die Parallele, von der der ›Commercie‹ offenbar ausging, wäre nur dann statthaft, wenn die beiden in Frage stehenden Personen den Weg durch die ganze Stadt gemacht hätten. Für diesen Fall wären unter der Voraussetzung, daß sie gleich viel Bekannte hätten, die Chancen, auf die gleiche Menge von Bekannten zu stoßen, für sie die gleichen. Ich meinesteils halte es nicht nur für möglich sondern für unendlich wahrscheinlich, daß Marie zu jeder beliebigen Zeit von ihrer Wohnung zu der ihrer Tante einen beliebigen Weg einschlagen konnte, ohne auf einen einzigen Passanten zu stoßen, den sie gekannt hätte oder dem sie bekannt gewesen wäre. Um in dieser Frage zu einem richtigen Urteil zu kommen und sie sachgerecht zu beantworten, muß man sich das ungeheure Mißverhältnis vor Augen halten, das zwischen der Anzahl von Bekannten selbst des überlaufensten Individuums und der Gesamtbevölkerung von Paris besteht.«961 Läßt man den Zusammenhang außer acht, der diese Reflexionen bei Poe heraufführt, so verliert der Detektiv seine Kompetenz, aber nicht das Problem seine Gültigkeit. Es liegt abgewandelt einem von den berühmtesten Gedichten der »Fleurs du mal«, dem Sonett »A une passante« zugrunde.

      La rue assourdissante autour de moi hurlait.

      Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse,

      Une femme passa, d’une main fastueuse

      Soulevant, balançant le feston et l’ourlet;

      Agile et noble, avec sa jambe de statue.

      Moi, je buvais, crispé comme un extravagant,

      Dans son œil, ciel livide où germe l’ouragan,

      La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.

      Un éclair … puis la nuit! – Fugitive beauté

      Dont le regard m’a fait soudainement renaître,

      Ne te verrai-je plus que dans l’éternité?

      Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être!

      Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,

       O toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais! 962

      Das Sonett »A une passante« stellt die Menge nicht als das Asyl des Verbrechers sondern als das der den Dichter fliehenden Liebe dar. Man darf sagen, es handelt von der Funktion der Menge nicht im Dasein des Bürgers sondern in dem des Erotikers. Auf den ersten Blick scheint diese Funktion negativ; aber sie ist es nicht. Die Erscheinung, welche ihn fasziniert – weit entfernt, sich dem Erotiker in der Menge nur zu entziehen, wird ihm durch diese Menge erst zugetragen. Die Entzückung des Städters ist eine Liebe nicht sowohl auf den ersten als auf den letzten Blick. Das »jamais« ist der Höhepunkt der Begegnung, an dem die Leidenschaft, scheinbar vereitelt, in Wahrheit erst als Flamme aus dem Poeten schlägt. In ihr verbrennt er; doch aus ihr steigt kein Phönix. Die Neugeburt der ersten Terzine eröffnet eine Ansicht von dem Geschehen, die im Lichte der vorangehenden Strophe sehr problematisch erscheint. Was den Körper im Krampf zusammenzieht, das ist nicht die Betroffenheit dessen, von dem ein Bild in allen Kammern seines Wesens Besitz ergreift; es hat mehr von dem Chock, mit dem ein gebieterisches Gelüst unvermittelt den Einsamen überkommt. Der Zusatz »comme un extravagant« spricht das beinahe aus; der Ton, der vom Dichter darauf gelegt wird, daß die Frauenerscheinung in Trauer ist, ist nicht danach angetan, es geheim zu halten. Es besteht in Wahrheit ein tiefer Bruch zwischen den Vierzeilern, die den Vorgang dartun, und den Terzinen, die ihn verklären. Wenn Thibaudet von diesen Versen gesagt hat, »daß sie nur in einer Großstadt entstehen konnten«963, so bleibt er an ihrer Oberfläche. Ihre innere Figur prägt sich darin aus, daß in ihnen die Liebe selbst von der Großstadt stigmatisiert erkannt wird964.

      Seit Louis Philippe findet man im Bürgertum das Bestreben, sich für die Spurlosigkeit des Privatlebens in der großen Stadt zu entschädigen. Das versucht es innerhalb seiner vier Wände. Es ist als habe es seine Ehre darein gesetzt, die Spur, wenn schon nicht seiner Erdentage so doch seiner Gebrauchsartikel und Requisiten in Äonen nicht untergehen zu lassen. Unverdrossen nimmt es den Abdruck von einer Fülle von Gegenständen; für Pantoffeln und Taschenuhren, für Thermometer und Eierbecher, für Bestecke und Regenschirme bemüht es sich um Futterale und Etuis. Es bevorzugt Sammet- und Plüschbezüge, die den Abdruck jeder Berührung aufbewahren. Dem Makartstil – dem Stil des ausgehenden Second Empire – wird die Wohnung zu einer Art Gehäuse. Er begreift sie als Futteral des Menschen und bettet ihn mit all seinem Zubehör in sie ein, seine Spur so betreuend wie im Granit die Natur eine tote Fauna. Es braucht dabei nicht verkannt zu werden, daß der Vorgang seine zwei Seiten hat. Der reale oder sentimentale Wert der derart aufbewahrten Gegenstände wird unterstrichen. Sie werden dem profanen Blick des Nichteigentümers entzogen, und insbesondere wird ihr Umriß auf bezeichnende Art verwischt. Es hat nichts Befremdendes, daß die Abwehr der Kontrolle, wie sie den Asozialen zur zweiten Natur wird, im besitzenden Bürgertum wiederkehrt. – Man kann in diesen Gepflogenheiten die dialektische Illustration eines Textes erblicken, der im »Journal officiel« in vielen Fortsetzungen erschienen ist. Bereits 1836 hatte Balzac in der »Modeste Mignon« geschrieben: »Arme Frauen Frankreichs! ihr möchtet wohl gerne unbekannt bleiben, um euren kleinen Liebesroman zu spinnen. Aber wie soll euch das in einer Zivilisation glücken, die auf den öffentlichen Plätzen Abgang und Ankunft der Kutschen verzeichnen läßt, die die Briefe zählt und sie bei der Aufgabe einmal und bei der Auslieferung nochmals abstempelt, die die Häuser mit Nummern versieht und bald das ganze Land bis auf die kleinste Parzelle … in ihren Katastern wird stehen haben.«965 Ein ausgedehntes Kontrollnetz hatte seit der französischen Revolution das bürgerliche Leben immer fester in seine Maschen eingeschnürt. Für das Fortschreiten der Normierung gibt in der Großstadt die Häuserzählung einen brauchbaren Anhalt ab. Die Verwaltung Napoleons hatte sie 1805 für Paris verbindlich gemacht. In proletarischen Vierteln war diese einfache Polizeimaßnahme allerdings auf Widerstände gestoßen; von dem Quartier der Schreiner, Saint-Antoine, heißt es noch 1864: »Wenn man einen der Bewohner dieser Vorstadt nach seiner Adresse fragt, wird er stets den Namen geben, den sein Haus trägt, und nicht die kalte, officielle Nummer.«966 Solche Widerstände vermochten natürlich auf die Dauer nichts gegen das Bestreben, durch ein vielfältiges Gewebe von Registrierungen den Ausfall von Spuren zu kompensieren, den das Verschwinden der Menschen in den Massen der


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