Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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      A travers les lueurs que tourmente le vent

      La Prostitution s’allume dans les rues;

      Comme une fourmilière elle ouvre ses issues;

      Partout elle se fraye un occulte chemin,

      Ainsi que l’ennemi qui tente un coup de main;

      Elle remue au sein de la cité de fange

       Comme un ver qui dérobe à l’Homme ce qu’il mange. 996

      Erst die Masse der Einwohner erlaubt der Prostitution diese Streuung über weite Teile der Stadt. Und erst die Masse macht es dem Sexualobjekt möglich, sich an den hundert Reizwirkungen zu berauschen, die es zugleich ausübt.

      Nicht auf jeden wirkte das Schauspiel berauschend, das das Straßenpublikum einer Großstadt bot. Lange ehe Baudelaire sein Prosagedicht »Les foules« verfaßte, hatte Friedrich Engels es unternommen, das Treiben in den londoner Straßen abzuschildern. »So eine Stadt wie London, wo man stundenlang wandern kann, ohne auch nur an den Anfang des Endes zu kommen, ohne dem geringsten Zeichen zu begegnen, das auf die Nähe des platten Landes schließen ließe, ist doch ein eigen Ding. Diese kolossale Centralisation, diese Anhäufung von dritthalb Millionen Menschen auf Einem Punkt hat die Kraft dieser dritthalb Millionen verhundertfacht … Aber die Opfer, die — das gekostet hat, entdeckt man erst später. Wenn man sich ein paar Tage lang auf dem Pflaster der Hauptstraßen herumgetrieben … hat, dann merkt man erst, daß diese Londoner das beste Theil ihrer Menschheit aufopfern mußten, um alle die Wunder der Civilisation zu vollbringen, von denen ihre Stadt wimmelt, daß hundert Kräfte, die in ihnen schlummerten, unthätig blieben und unterdrückt wurden … Schon das Straßengewühl hat etwas Widerliches, etwas, wogegen sich die menschliche Natur empört. Diese Hunderttausende von allen Klassen und aus allen Ständen, die sich da aneinander vorbeidrängen, sind sie nicht Alle Menschen, mit denselben Eigenschaften und Fähigkeiten, und mit demselben Interesse, glücklich zu werden? … Und doch rennen sie an einander vorüber, als ob sie gar Nichts gemein, gar Nichts mit einander zu thün hätten, und doch ist die einzige Übereinkunft zwischen ihnen die stillschweigende, daß Jeder sich auf der Seite des Trottoirs hält, die ihm rechts liegt, damit die beiden an einander vorbeischießenden Strömungen des Gedränges sich nicht gegenseitig aufhalten; und doch fällt es Keinem ein, die Andern auch nur eines Blickes zu würdigen. Die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolirung jedes Einzelnen auf seine Privatinteressen tritt um so widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr dieser Einzelnen auf den kleinen Raum zusammengedrängt sind.«997

      Diese ›gefühllose Isolierung jedes Einzelnen auf seine Privatinteressen‹ durchbricht der Flaneur nur scheinbar, indem er den Hohlraum, welchen die seinige in ihm geschaffen hat, mit den erborgten, zudem erdichteten von Fremden ausfüllt. Es klingt neben der klaren Beschreibung, die Engels gibt, dunkel, wenn Baudelaire schreibt: »Das Vergnügen, in einer Menge sich zu befinden, ist ein geheimnisvoller Ausdruck für den Genuß an der Vervielfältigung der Zahl«998; aber der Satz klärt sich, wenn man ihn nicht sowohl vom Standpunkt des Menschen als der Ware gesprochen denkt. Sofern der Mensch, als Arbeitskraft, Ware ist, hat er es allerdings nicht nötig, eigens in die Ware sich zu versetzen. Je mehr diese Seinsweise seiner selbst als die von der Produktionsordnung über ihn verhängte ihm zum Bewußtsein kommt – je mehr er sich proletarisiert –, desto mehr durchdringt ihn der Frosthauch der Warenwirtschaft, desto weniger wird es sein Fall sein, in die Ware sich einzufühlen. Aber so weit war es mit der Klasse der kleinen Bürger, der Baudelaire angehörte, noch nicht gekommen. Auf der Stufenleiter, von der hier die Rede ist, befand sie sich erst im Beginn des Abstiegs. Unausweichlich mußte vielen in ihr die Warennatur ihrer Arbeitskraft eines Tages aufstoßen. Aber dieser Tag war noch nicht gekommen. Bis zu ihm durften sie, wenn man so sagen darf, ihre Zeit hinbringen. Daß unterdessen ihr Teil im besten Fall der Genuß sein konnte, doch nie die Herrschaft, das eben machte die Frist, die ihr von der Geschichte gegeben war, zu einem Gegenstande des Zeitvertreibs. Wer auf Zeitvertreib ausgeht, der sucht Genuß. Es verstand sich jedoch von selber, daß dem Genuß dieser Klasse um so engere Grenzen gezogen waren, je mehr sie ihm in dieser Gesellschaft frönen wollte. Weniger beschränkt ließ dieser Genuß sich an, sofern sie ihn an ihr zu finden imstande war. Wollte sie es in dieser Art zu genießen bis zur Virtuosität bringen, so durfte sie die Einfühlung in die Ware nicht verschmähen. Sie mußte diese Einfühlung mit der Lust und der Bangigkeit auskosten, die ihr aus dem Vorgefühl von ihrer eigenen Bestimmung als Klasse kam. Sie mußte ihr schließlich ein Sensorium entgegenbringen, das auch Bestoßenem und Faulendem noch die Reize abmerkt. Baudelaire, der im Gedicht an eine Kurtisane »ihr Herz, bestoßen wie einen Pfirsich, reif für weises Lieben« nennt »wie ihren Leib«, besaß dieses Sensorium. Ihm verdankte er den Genuß an dieser Gesellschaft als ein halb bereits von ihr Ausgeschiedener.

      In der Haltung des so Genießenden ließ er das Schauspiel der Menge auf sich einwirken. Dessen tiefste Faszination lag aber darin, ihm im Rausch, in welchen es ihn versetzte, die schreckliche gesellschaftliche Wirklichkeit nicht zu entrücken. Er hielt sie sich bewußt; so zwar wie Berauschte wirklicher Umstände ›noch‹ bewußt bleiben. Darum kommt die Großstadt bei Baudelaire beinahe nie in der unmittelbaren Darstellung ihrer Bewohner zum Ausdruck. Die Direktheit und Härte, mit der ein Shelley London im Bild seiner Menschen festhielt, konnte dem Paris von Baudelaire nicht zugute kommen.

      Die Hölle ist eine Stadt, sehr ähnlich London –

      Eine volkreiche und eine rauchige Stadt.

      Dort gibt es alle Arten von ruinierten Leuten

      Und dort ist wenig oder gar kein Spaß

      Wenig Gerechtigkeit und noch weniger Mitleid.999

      Dem Flaneur liegt ein Schleier auf diesem Bild. Die Masse ist dieser Schleier; sie wogt in »den faltigen Mäandern der alten Metropolen«1000. Sie macht, daß das Grauenhafte auf ihn bezaubernd wirkt1001. Erst wenn dieser Schleier zerreißt und dem Blick des Flaneurs »einen der volkreichen Plätze« freigibt, »die im Straßenkampfe menschenleer daliegen«1002, sieht auch er die große Stadt unverstellt.

      Bedürfte es eines Zeugnisses für die Gewalt, mit der die Erfahrung der Menge Baudelaire bewegt hat, so wäre es die Tatsache, daß er es unternahm, im Zeichen dieser Erfahrung mit Hugo zu wetteifern. Daß in ihr wenn irgendwo Hugos Stärke lag, war für Baudelaire offenkundig. Er rühmt einen »caractère poétique …, interrogatif«1003 an Hugo und sagt ihm nach, er verstehe nicht nur das Klare scharf und klar wiederzugeben, sondern gebe auch mit der unerläßlichen Dunkelheit wieder, was nur dunkel und undeutlich sei offenbart worden. Von den drei Gedichten der »Tableaux parisiens«, die Hugo gewidmet sind, beginnt eines mit einer Anrufung der menschenerfüllten Stadt – »Wimmelnde Stadt, Stadt, von Träumen erfüllte«1004 – ein anderes verfolgt im »wimmelnden Tableau«1005 der Stadt, durch die Menge hindurch, alte Frauen1006. Die Menge ist in der Lyrik ein neuer Gegenstand. Noch dem Neuerer Sainte-Beuve rühmte man es, als dem Dichter geziemend und angemessen, nach, daß »die Menge ihm unerträglich«1007 sei. Hugo hat während seines Exils in Jersey diesen Gegenstand der Poesie erschlossen. In seinen einsamen Spaziergängen an der Küste gliederte er sich ihm dank einer von den riesigen Antithesen, die seiner Inspiration unerläßlich waren. Die Menge tritt bei Hugo als ein Gegenstand der Kontemplation in die Dichtung ein. Der brandende Ozean ist ihr Modell und der Denker, der diesem ewigen Schauspiel nachsinnt, ist der wahre Ergründer der Menge, in die er sich verliert wie ins Meeresrauschen. »Wie er von der einsamen Klippe hinüberblickt, der Verbannte, nach den großen schicksalvollen Ländern, so blickt er hinab in die Vergangenheiten der Völker … Er trägt sich und seine Geschicke hinein in die Fülle der Geschehnisse und sie werden ihm lebendig und verfließen mit dem Dasein der natürlichen Mächte, mit dem Meere, den verwitternden Felsen, den treibenden Wolken und den anderen Erhabenheiten, die ein einsames und ruhiges Leben im Verkehr mit der Natur enthält.«1008 »L’océan même s’est ennuyé de lui«, hat Baudelaire von Hugo gesagt, mit dem Lichtbündel seiner Ironie den brütend auf den Klippen Postierten streifend. Dem Schauspiel der Natur nachzuhängen, fühlte sich Baudelaire nicht bewogen. Seine Erfahrung der


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