Die stille Stube. Christiane Fuckert

Die stille Stube - Christiane Fuckert


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      Christiane Fuckert

      Die stille Stube

      Roman

      In liebevoller Erinnerung an meine Großeltern

      für unvergesslich schöne Kindheitserlebnisse

      Alle Figuren und Handlungen sind frei erfunden.

      Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen wären rein zufällig.

      IMPRESSUM

      © 2020

      Verlag Christoph Kloft

      Südstraße 5

      56459 Kölbingen

      www.christoph-kloft.de

      Coverbild: Theresia Müller-Kunz

      ISBN 978-3-929656-36-7

      Kapitel 1

      Lydia weiß, was dieser Streifen am westlichen Horizont zu bedeuten hat.

      Von ihrer Position aus ist sie denen da unten einen Schritt voraus. Ein paar Minuten im Vorteil, weil sie über die Hügelkette auf der anderen Seite hinausschauen kann.

      Wenn die im Tal es sehen, ist es auch schon da, das Unwetter. Kaum mehr Zeit nach Hause zu laufen, um die Dachluken zu schließen und die Kellereingänge zuzustopfen. Und dieser bedrohlich dichte Graustreifen wird viel Wasser mit sich bringen, das ist gewiss.

      Anders der Wind. Der wird das Tal nur streifen, sich hier oben hingegen mit voller Wucht austoben.

      Bis heute kann sie sich nicht entscheiden, was sie mehr fürchten soll: die Wassermassen oder den Sturm. Beides ist jedoch nahezu unbedeutend im Vergleich zum Feuer – das fürchtet sie wie den Weltuntergang.

      „Na komm, Wotan, packen wir’s an! Der Blitz wird sich nicht gerade uns aussuchen, es gibt genügend hohe Bäume hier droben.“

      Der Appenzeller, der zu Lydias Füßen vor der Bank ruht, hebt den Kopf von den gestreckten Vorderpfoten. Seinem wachen Blick ist zu entnehmen, dass er Geschäftigkeit wittert. Die starken Hinterläufe richten sich auf und der warme große Schädel reibt sich an Lydias Hosenbeinen.

      „Bist ein Guter“, raunt sie dem Tier zu; ein paar wohltuende Worte in Anbetracht dessen, was die folgende Stunde mit sich bringen kann.

      „Aber wetterfühlig warst du noch nie, mein Junge. Weißt du eigentlich, dass dein Name ‚Donnergott’ bedeutet?“ Sie schmunzelt und streicht dem Hund über den breiten schwarzen Rücken. Dabei betrachtet sie den Horizont und blickt anschließend besorgt zur Weide hinüber. Den besseren Instinkt für einen Wetterumschwung traut sie den Kühen zu. Schon eine ganze Weile stehen sie reglos da und starren vor sich hin. Weder das saftige Gras noch der wiederverwertbare Mageninhalt wollen sie interessieren. Die aggressiven dicken Fliegen dürfen sich ungestört um die Hinterteile tummeln, die Kuhschwänze machen keine Anstalten, sie zu verscheuchen.

      Es wäre gut, die beiden Kühe im trockenen Stall zu wissen, wenn das Unwetter ausbricht. Doch dafür bleibt keine Zeit, sie müsste die Tiere über die Wiese zum Weideausgang treiben und von dort an Haus und Scheune vorbei in die Stallungen führen.

      Lydia schlingt das Flanellhemd ihres Mannes fest um den mageren Körper und steigt zwischen der Zaunbespannung hindurch. Dann dehnt sie die Drähte auseinander, sodass der Hund mit gezieltem Sprung folgen kann – eines der Rituale, die sie beide im Schlaf ausführen könnten.

      Während Lydia auf die zwei braunweiß gefleckten Kühe zuläuft, hämmert ihr Herz so fest, als fülle es den gesamten Brustkorb aus. Hektik und Aufregung bekommen ihr nicht mehr. Alles fühlt sich anders an als noch im vergangenen Sommer.

      Mit Klapsen und wedelnden Armen versucht sie, das halsstarrige Vieh zur Überdachung am Weiderand zu treiben.

      „Worauf wartet ihr noch? Ihr wisst doch Bescheid!“

      Als Antwort erhält sie nur stumpfe Blicke. Selbst der Hund kann Lydias durchgreifende Gebärden nicht einordnen und fühlt sich animiert zum Spielen. Bellend umkreist er die Kühe, kneift zwischendurch in Lydias Gummistiefel und legt erwartungsvoll ein Stöckchen vor ihren Füßen ab.

      In Wotans sonores Gebell mischt sich das erste ferne Donnergrollen. Der graue Streifen liegt mittlerweile wie eine schmutzige Filzmatte über der Hügelkette.

      Jetzt müssen die da unten auch begriffen haben, was sie erwartet. Sobald die ersten Keller vollgelaufen sind, wird das Martinshorn der Feuerwehr ertönen, einer hilft dem anderen – oder auch nicht. Jedenfalls sind andere in solchen Situationen zu zweit, zu dritt, zu viert ...

      Die Gedanken an die vielen Vorkehrungen, die noch zu treffen sind, drohen Lydia aus dem Gleichgewicht zu bringen: zuerst die Kühe, dann die Wäsche, oder besser erst Vogel und Hühner ins Trockne und danach die Wäsche von der Leine nehmen, nicht zu vergessen die offenen Fensterläden ...

      Dass sie resigniert an der Rückwand der Weideüberdachung kauert, wird ihr erst bewusst, als der Hund seine Schnauze in ihren Schoß drückt und die warmen Leiber der Kühe sie wie ein Schutzwall umgeben. Die beiden sind ihr gefolgt, ohne dass Lydia es wahrgenommen hat.

      „Na also, jetzt sind wir auch zu viert“, lächelt sie matt. Hier möchte sie sitzen bleiben, einfach sitzen und warten, bis das Unwetter sich verzogen hat. Wie gern würde sie sich ausruhen und das vertraute Aroma der mächtigen Tiere atmen. Wenn das Gewitter beginnt, werden die Kühe sich hinlegen oder ihr Hinterteil dem Wind zuwenden, um ihre Euter zu schützen; eine Reaktion aus Zeiten, in denen noch eine Milchbildung stattfand.

      Ihre Hand gleitet durch das weiche Fell des Hundes, der neben ihr im Heu liegt, bereit für die gepflogenen Kraulminuten.

      „Es geht nicht, Alter, nicht jetzt. Auf uns wartet noch jede Menge Arbeit. - Dann mal los!“ Der motivierende Tonfall gilt ihr selbst. Mit beiden Händen auf den Knien schiebt sie sich an der Bretterwand hoch. Ihr Rücken wird ihr nicht mehr lange dienen. Schon morgens aus dem Bett in die Senkrechte zu gelangen, wird von Tag zu Tag beschwerlicher. Stöhnend wendet sie sich den Kühen zu.

      „Und ihr bleibt, wo ihr seid!“ Als Zeichen ihrer Konsequenz drückt sie ihre Handteller fest gegen deren breite Stirnseiten, so, als wolle sie die Tiere rückwärts gegen die Wand schieben. Die üblichen Gesten der Zuneigung sind jetzt fehl am Platz.

      Der Hund hat den Kopf leicht gesenkt und betrachtet schielend das ungewöhnliche Schauspiel, wartet auf das, was jetzt geschieht. Lydias Geste scheint zu wirken: Es geschieht gar nichts, die Kühe bleiben stocksteif stehen, selbst als Lydia und Wotan sich fortbewegen.

      Vor dem hohen Außenkäfig zwingt Lydia sich zur Ruhe. Wenn sie jetzt nur die kleinste Nervosität übermittelt, wird der Vogel sich nicht einfangen lassen. Mit zitternder Kehle versucht sie sich an dem vertrauten Singsang und lockt so den Nymphensittich auf die Sitzstange in Augenhöhe. Dann betritt sie langsam den Käfig.

      „Vögel sollen sich auch wie Vögel fühlen!“, hatte ihr Mann entschieden und diese Voliere gebaut. Drei mal drei mal drei Meter, gleich neben dem Hauseingang. Entgegen Lydias Wunsch hatte er obenauf nur einen kleinmaschigen Draht befestigt – ein Vogel muss den Himmel sehen können –, und auf den winzigen Schlupfkasten will Lydia sich bei einem Unwetter nicht verlassen.

      „Du wirst nass, Mozart, komm zu mir“, sagt sie mit gezwungen ruhiger Stimme. Der Vogel legt den Kopf schräg und beäugt aufmerksam die Menschenhand, die sich ihm verdächtig langsam nähert. Kein Futter. Sie hätte ein Salatblatt für ihn mitbringen sollen, vor allem aber den Käfig aus dem Haus.

      „Was ist nun, magst du mit mir kommen?“

      Natürlich mag er nicht. Längst weiß der Vogel den Unterschied seiner Behausungen zu bewerten. Der winzige kuppelförmige Käfig im Hausinnern verheißt nichts als Langeweile und Gefangenschaft. Und diese ausgestreckte Hand ist jedes Mal der Vorbote dorthin.

      Lydia pfeift ein paar der Töne, die ihren Mann dazu animierten, diesen Vogel Mozart zu nennen. Fasziniert interpretierte er damals die ersten zufälligen


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