Die stille Stube. Christiane Fuckert

Die stille Stube - Christiane Fuckert


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Anfang der sechziger Jahre, gab es viele Gänse am Brausehof, dazu Kühe, Schweine, Ziegen, Schafe und einen Ackergaul. Der Hof war ordentlich bevölkert, nicht nur von Tieren.

      Die Milchkühe verbrachten die Sommermonate auf der Südseite des Berges.

      „Die scheucht man nicht hin und her“, meinte Lydias Schwiegervater Magnus, wenn jemand ihn belehren wollte, dass die Melkerei auf der Weide unnötigen Arbeitsaufwand bedeutete. „Wir leben nicht von der Milchwirtschaft, aber Kühe leben von frischem Gras.“

      So sammelten sich die Tiere mit ihren prallen Eutern von selbst am Melkstand auf der Weide und lieferten immerhin so viel Milch, dass täglich mehrere große Kannen von einem Geschäftsmann aus dem Tal abgeholt werden konnten; ein angenehmes Zubrot, das jährlich zum Erntedankfest unter allen Arbeitskräften des Hofes aufgeteilt wurde.

      Ein warmes Gefühl macht sich in Lydia breit, als sie nun zurückdenkt an diese wenn auch armen, so doch kontaktreichen Zeiten. Wobei Arbeitskräfte nicht die korrekte Bezeichnung war für die Helfer und Mitbewohner am Brausehof. Es war dem guten Herzen der ehemaligen Bäuerin zuzuschreiben, dass die kleine Gruppe von Menschen vier Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges eine neue dauerhafte Bleibe fand. Mit nichts weiter als dem karg geschnürten Bündel auf dem Rücken hatten diese Fremden sich auf der Flucht vor dem sicheren Hungertod zusammengetan und tauchten Anfang der Zwanzigerjahre erschöpft und unterernährt hier oben auf, im Alter von vierzehn bis dreißig Jahren. Und sie, Lydia war eine von ihnen gewesen – die jüngste von allen, ein Waisenkind ohne großartige Erinnerung an die eigenen Eltern, ein zartes weißblondes Mädchen, das so eingeschüchtert war wie ein gejagter Hase im umstellten Kornfeld. Es dauerte lange Wochen, bis gehaltvolle Nahrung und ungestörter Schlaf all diesen ausgemergelten Zuwanderern Gesundheit wie auch die Schaffenskraft ihrer Hände zurückgeben konnten.

      Die Inflation mit all ihren Wirren ließ weder hier am Brausehof noch sonstwo in der Umgebung Entlohnungen zu, doch darum ging es keiner der Neuankömmlinge. Hier fand man Sicherheit, Geborgenheit, Nahrung und eine Schlafstätte, zudem ein wohltuendes Miteinander und Zusammenhalt.

      Man baute an, erntete, betrieb Viehzucht und ernährte sich von den eigenen Erträgen. Man war eine einzige große Familie.

      Im Jahr 1928 fand eine Hochzeit statt. Gustav, der Sohn des Bauern, hatte sie, Lydia, um ihre Hand gebeten. Wo schon so lange so viel verborgene Verliebtheit von beiden Seiten bestand, durfte jetzt die Zusammengehörigkeit öffentlich besiegelt werden. Lydia blühte auf, genoss die Liebe und den Respekt ihres Ehemannes und ebenso das Bewusstsein, zum Gedeihen des Brausehofes mit beitragen zu können.

      Auf der Südseite des Berges gab es Kartoffelfelder und gehaltvolles Grünfutter, das getrocknet und für den Winter im Schober gelagert wurde. Zahlreiche Wiesen, Apfel- und Birnbäume wie auch ein langgezogenes Erdbeerfeld gehörten zum gepachteten Bereich des Hofes, der sich vom Hügel bis weit ins Gelände des südlichen Tales erstreckte. Dank verschiedener Wasserquellen konnten viele ertragreiche Jahre verbucht werden; die Sommer arbeitsreich und Hand in Hand wohltuend erschöpfend, deftige füllende Mahlzeiten an den langen Winterabenden, Gesellschaftsspiele, Handarbeiten und Planungen für das kommende Frühjahr.

      Bis nach all der Zeit des gemeinsamen Schaffens und Einvernehmens ein einziger Satz die Idylle trübte.

      „Ein fruchtbarer Berg!“, hatte Lydias Schwiegervater mit seinem ganz eigenen ländlichen Dialekt am langen Esstisch stolz geäußert, als vor fünfzehn Jahren, im Herbst 1965 die Vorratskammern und der Heuschober bis an den Rand gefüllt waren. „Und was für ein gutes Gefühl, dass dieser Berg uns die Zukunft sichert. Hätte diese Fruchtbarkeit nicht ansteckend sein können, um auch das Fortbestehen des Hofes zu sichern?“ Dabei flog sein Blick wie beiläufig zum entgegengesetzten Tischende und streifte seinen Sohn und dessen Ehefrau Lydia. Daraufhin hatte Lydias Mann Gustav seinen Teller beiseite geschoben, war aufgestanden und hatte nie wieder ein Wort mit seinem Vater gewechselt.

      Zwei Jahre später beerdigten sie den alten Bauern, ohne jeden Versuch der Aussöhnung.

      Lydia seufzt und betrachtet ihre knotigen, abgearbeiteten Hände, die plötzlich schmerzhaft verkrampft auf ihrem Leib liegen. Das Fortbestehen des Hofes, ja, das liegt in der Tat jetzt ganz allein in diesen Händen …

      Als hätte der Appenzeller ihre Gedanken erfasst, hebt er den Kopf und schleckt ihre Handrücken ab. Dann prüfen seine wachen Augen ihre Miene und werden erst zu zufriedenen Schlitzen, als sein Frauchen sich bemüht zu lächeln.

      „Wir Menschen mit unseren zermürbenden Gedanken, was? Damit habt ihr Tiere nichts zu tun. Habt ja recht, ist im Grunde nur Zeitverschwendung, lässt sich im Nachhinein sowieso nichts mehr ändern. Na los, Wotan, sehen wir nach den Kühen!“

      Die beiden Kühe haben sich wie vermutet unter der Überdachung gedreht, die Hinterteile zur Wetterseite hin. Immer noch stehen sie stocksteif da.

      „Gibt es hier oben irgendeinen, der keine Angst vor Gewittern hat?“, ruft Lydia ihnen zu. Als hätten die beiden sie verstanden, drehen sie sich auf der Stelle und sehen ihr entgegen.

      „Ab mit euch, in die Sonne!“

      Bald wird das Gras hier hüfthoch sein. Das schaffen diese beiden Tiere nicht alleine. Fürs Mähen würde sie sich jemanden herbestellen müssen, aber das wiederum lässt ihr Portemonnaie nicht zu.

      Sie geht hinter den Tieren her, weiß nicht, ob sie sich jemals einsamer gefühlt hat. Nur zwei Kühe sind ihr geblieben. Falls Lydias Kräfte im selben Maße weiter nachlassen, wird sie auch diese beiden bald abholen lassen müssen. Wenn sie an den Abtransport vor einem halben Jahr denkt, an die Rampen, den letzten Blick der Tiere mit den ihr zugewandten Köpfen, fragend und ohne die Chance auf eine Antwort, alsdann Resignation und schwere Schritte hinauf ins Wageninnere, ins Nichtverstehen oder Befürchten – was auch immer in den Hirnen solcher duldsamen, mächtigen Tiere vor sich gehen mag ...

      Für den Moment will der Weg bis zur Weidenmitte Lydia an den letzten Weg mit ihrem Mann erinnern. Einen Fuß vor den anderen, mechanisch und unzähligen Blicken ausgesetzt, war sie drunten im Tal alleine in vorderster Reihe dem Buchensarg gefolgt. Selbst ihre Gedanken auf jener kurzen Wegstrecke sind wieder greifbar.

      „Warum, Gustav“, hatte sie nur immerfort still gefragt. „Du warst so gesund, hättest vielleicht noch viele schöne Jahre haben können. Aber du musstest ja alles auf eine Karte setzen, und das war die falsche, Gustav, du hast bewusst zu hoch gepokert, hast die mit dem Sensenmann gezogen, obwohl der sich dir warnend gezeigt hat ... Und all die Leute hier, wie die mich anstarren! Für die bin ich dessen Gehilfin. Durch deinen Dickschädel, Gustav! Denn der Pfarrer hat nicht recht, wenn er behauptet, dass es dem allmächtigen Gott gefallen hat, unseren Bruder Gustav Brause zu sich zu holen ... Gefallen hat ihm das nicht, nein, du hast dich förmlich angeboten, geholt zu werden ...“

      Dann hatte Lydia sich beschworen, diese wenigen Minuten noch durchzuhalten, den stummen Anklägern, die so unverhohlen ihren schrecklichen Verdacht gegen sie hinter vorgehaltener Hand äußerten, die kalte Schulter zu zeigen und war, noch bevor die schwarze Versammlung sich aufgelöst hatte, mit kleinen, hektischen Schritten auf ihren Berg geflohen.

      Am Rande der Weide steht die Wäschespinne. Wie schlaffe Körperteile hängen dort ihre regenschweren Kleidungsstücke. Ein Fremder würde glauben, hier oben wohne ein Mannsbild, denkt Lydia beim Anblick der großen Hemden, in die sie sich täglich einhüllt wie in einen Schutzmantel. Trotz der Sommerwärme friert ihr ausgemergelter, dünner Körper immerzu.

      Ihr Blick schweift hinüber zur Vogelscheuche im Kräutergärtchen – der Sturm hat sie schief gefegt.

      „Mit deinem alten Strohhut auf dem dicken Sackkopf sieht sie dir ähnlich, Gustav, die langen Arme ausgebreitet wie du, wenn du hinter den Gänsen her warst ...“

      Sie spürt, wie gut es tut, die eigene Stimme zu hören. Sie kann ungetrübt weitersprechen, dies ist der letzte Ort, an den sich die Dorfbewohner freiwillig begeben würden.

      Die zwei Milchkühe sind stehengeblieben und schauen misstrauisch auf das Tal, aus dessen Richtung sich eben noch


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