Die stille Stube. Christiane Fuckert

Die stille Stube - Christiane Fuckert


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sein. Hier wird nicht mehr nach Richtlinien gelebt, hier wird sich nur noch irgendwie über Wasser gehalten. Und wenn ein falsches Glas die Stimmung hebt, was soll’s!“

      Der lange, gebogene Ausschank lässt die klare Flüssigkeit über den Rand des winzigen Glases schießen. „Guck weg, Gustav, den Rest schütte ich sowieso in den Spülstein. Das will ich mir nämlich nicht anfangen ...“ Lydias Zunge tastet den Schnaps, dessen Geruch allein ihr schon immer widerlich war. Ekel überkommt sie, dann kippt sie den Inhalt in ihren weit geöffneten Mund und schüttelt sich. „So, angefangen und sofort wieder abgewöhnt.“

      Mit eigentümlicher Genugtuung trägt sie die Flasche in die Küche und lässt den Schnaps in den Ausguss gluckern.

      „Das tut weh, Gustav, ich weiß, so sparsam, wie wir immer gelebt haben ... Aber freu dich für meinen Entschluss, ich bin zur Zeit so labil, mit dem Alkohol zum Freund könnte hier alles vor die Hunde gehen.“

      Hinter sich hört Lydia leise Schritte auf den Holzdielen. Wotan hat seinen Schlafplatz im Flur verlassen und trottet müde auf Lydia zu. Er rechnet nicht mit Besuch, hat sich längst an die Selbstgespräche gewöhnt. Vermutlich hat das Wort ‚Hunde’ ihn veranlasst zu kommen. Er folgt Lydia zum Sofa, legt sich auf dem abgenutzten Teppich auf die Seite und schläft sofort wieder ein. So lag er abends bei ihnen, wenn der Fernseher eingeschaltet war.

      Lydias nackter Fuß schlüpft aus der Holzpantine und krabbelt durch das warme Hundefell. Sie muss dringend ihre Füße baden, die Fußsohlen sind hart vom vielen Stiefeltreten, es könnten sich Druckstellen entwickeln. Überhaupt wird sie mehr auf sich achten müssen, denn Kranksein kann sie sich nicht mehr erlauben, nicht, seit hier alles von ihr abhängt.

      Seit gewiss zehn Jahren hat sie keinen Arzt gebraucht.

      „Wozu eigentlich die teuren Beiträge?“, hatte Gustav vor ein paar Jahren gemeint, „meine Lydia mit ihren Wildkräutern weiß mehr als jeder Doktor.“

      Gustavs Überschlag zufolge wären die wenigen Arztbesuche, die eventuell wahrgenommen werden mussten, immer noch viel günstiger gewesen als die Versicherungsbeiträge. Freiwillige ‚Prognosegelder’ lehnte er grundsätzlich ab.

      Welch ein Glück nun für Lydia, dass ihr Mann durch seine Tätigkeit bei der Straßenwart pflichtversichert war und sie damit ebenso. „Wer weiß, was dir Querkopf eingefallen wäre ohne diese automatischen Abzüge. Wahrscheinlich hättest du es irgendwie fertiggebracht, uns völlig ungesichert meinem Kräuterlexikon zu überlassen, du altmodischer Dickkopf, der du warst! Ein Wunder, dass wir überhaupt einen Fernseher besitzen!“

      Moment, der Fernseher!, schießt es ihr heiß durch alle Glieder. Der Stecker ist während des Unwetters in der Wanddose geblieben! Ob dieser einzelne heftige Schlag in das Gerät gefahren ist? Seitdem hat sie es nicht wieder eingeschaltet.

      Noch mehr belastende Gedanken kann sie im Moment jedoch nicht gebrauchen. Sie wird morgen testen, ob der Fernseher noch funktioniert. Nur den Stecker will sie für diese Nacht herausziehen.

      Während sie sich über das Gerät beugt, nimmt sie ein leises Trommeln über sich wahr. Es hat wieder zu regnen begonnen, nicht stark, aber mit einzelnen dicken Tropfen. Die Tür zur Speichertreppe steht offen, erinnert sie sich. Dort oben schlägt der Regen seinen Rhythmus auf das Fensterchen aus Plexiglas, das sie im letzten Jahr hatten einbauen lassen, damit diese Dachbodenseite ein wenig mit Tageslicht versorgt wurde.

      Genauso würde jetzt nebenan das Heu in der Scheune besprenkelt werden.

      Lydia wundert sich über die innere Ruhe, die sie plötzlich erfüllt. Ihr ist wohlig warm. Sie greift nach der Wolldecke am Sofaende, zieht sie sich bis über die Schultern und lässt sich zur Seite sinken.

      Ob das Scheunendach eigentlich gegen Wetterschäden versichert ist? Aber an wen wendet man sich in solch einem Fall? Sie weiß es nicht, im Grunde weiß sie gar nichts. Nur, dass ein paar Meter weiter eine arme Tanne aus der Verankerung gerissen wurde und ihr Dach gleich mitverletzt hat ...

      Bei aller Liebe zur Natur bringt der Gedanke an den umgestürzten Baum sie zum Schmunzeln. Was, wenn sie das gemeinsam mit dem Förster entdeckt hätte? Bestimmt hätte der sich mehr für seinen Baum interessiert als für ihren Dachschaden. Wieder muss sie lächeln. Vielleicht bekommt sie selbst ja nach und nach diesen Schaden – und alles wird ihr nichts mehr ausmachen ...

      Wotans dicker Schädel hechelt den heißen Hundeatem genau in ihr Gesicht.

      Lydia ist verwirrt, weiß weder, welche Tageszeit es ist noch warum sie auf dem Sofa liegt.

      Die Zeiger der Wanduhr gegenüber stehen auf halb fünf, das Pendel bewegt sich nicht. Hat sie einen Mittagsschlaf gehalten? Aber am helllichten Tag verschließt sie doch niemals die Klappläden zur Frontseite hin ...

      Durch den schweren Vorhang am seitlichen Fenster fällt ein Spalt Tageslicht auf die Wand mit der Uhr und dem verstaubten Sims gleich daneben. Dieser Anblick ist ihr nicht vertraut, nicht aus der Liegeposition heraus.

      Lässt ihr Gedächtnis nach? Fühlt es sich so an, wenn man entdeckt, dass man sich auf die eigene Orientierung nicht mehr verlassen kann?

      Als sie auf dem Tisch nach ihrer Brille angelt, bleibt ihr Blick an dem Likörglas haften. Und sofort erschließen sich ihr alle Antworten: Sie hat die Nacht hier verbracht, mit dem Kopf auf der Sofaseite, die seit jeher ausnahmslos die Fußseite war. Und Wotans unruhiges Hecheln signalisiert, dass er dringend ins Freie muss, weil es schon spät ist.

      Erleichtert über ihre plötzliche Klarheit steht sie auf und öffnet die Haustür. Sofort zeigt der Hund Unruhe, klebt mit der Nase auf dem Boden und nimmt Spur auf, Richtung Stall und Scheune.

      Der Fuchs war da, folgert Lydia. Sie sieht, wie der Hund sich dreht und die Spur zurückverfolgt, doch dann läuft er an ihr vorbei und aus dem Hof hinaus.

      „Wotan, hierhin!“ Nein, ein Fuchs ist nichts Weltbewegendes mehr für ihren Hund, den handelt sein Geruchssinn ab wie die anderen Nachbarn, die Hasen, Rehe, Igel und Marder.

      Sie hört ihn in der Ferne bellen, mutet es sich jedoch nicht zu, erneut so laut zu rufen – ihr Herz rast jetzt schon schneller als es darf.

      Im Nachthemd setzt sie sich auf die Bank neben der Haustür und wartet, betrachtet die alten Pflastersteine, durch deren Ritzen sich das Unkraut empordrängt. Kaum mehr zu bewältigen, das alles; doch sie darf solche Nebensächlichkeiten nicht mehr an sich heranlassen, sonst kann sie gleich aufgeben.

      Mit einem Mal erstarrt ihr Blick. Nicht weit von ihren Pantoffeln liegt eine ausgetretene Zigarette. Hier war jemand ... Wer war hier? ... Der Förster hatte weiter vorn geparkt und auf der Wiese mit ihr gesprochen ...

      Das also ist der Grund für Wotans aufgeregte Stöberaktion. Womöglich hat jemand auf dieser Bank gesessen, während sie gleich hinter dem nächsten geschlossenen Laden geschlafen hat. Und Wotans Wegstrecke zufolge muss dieser Mensch zu Stall und Scheune gegangen sein. Das Hühnerhaus ist noch verriegelt, darauf kann es niemand abgesehen haben.

      Warum hat Wotan nicht angeschlagen? Kann sie sich jetzt nicht mal mehr auf ihn verlassen? Lässt er genauso nach wie sie? Doch im Moment wäre sie einfach nur erleichtert, wenn er überhaupt zurückkäme.

      „Gustav, wenn du das kannst, dann gib acht auf mich, ich hab niemanden mehr ...“

      Das Selbstmitleid treibt ihr heiße Tränen in die Augen und sie spürt, wie ihr Körper sich verkrampft. Dann hört sie es rascheln, kurz darauf sieht sie Wotan, der auf sie zugerannt kommt. Bei dieser Mobilität ist nicht zu befürchten, dass ihr Hund nachlässt. Wotan ist jetzt acht, ein robuster Appenzeller, dessen Rasse eine durchschnittliche Lebenserwartung von zwölf Jahren zugeschrieben wird. Bei seinem Anblick wünscht Lydia, dieses Tier möge sie überleben, wird aber unmittelbar von ihrem Gewissen aufgefordert, so egoistisch nicht zu denken und einigt sich auf den Wunsch, dass sie selbst gerade lange genug lebt, damit Wotan bis zum letzten Atemzug versorgt und behütet ist.

      Er trägt etwas im Maul, einen toten Vogel, den er sachte vor Lydias Bank ablegt. Sie weiß,


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