Die stille Stube. Christiane Fuckert

Die stille Stube - Christiane Fuckert


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an dieser Stelle.

      „Ach Gustav, du und dein Viehzeug! Weißt du noch, die Fanni, deren lange Euter du mit einem Gurtnetz hochgebunden hattest, damit sie sich nicht darauf trat, wenn sie sich setzte? Und den kranken Kühen hast du einen Aderlass gemacht. Die Kälbchen durften an deinen Fingern nuckeln ... Als wir frisch verheiratet waren, hast du mich hinter dir her in den Stall gezogen, zu einer Geburt. Irgendwie schämte ich mich, vielleicht, weil du als Mann mehr über einen Geburtsvorgang wusstest als ich. Vielleicht schämte ich mich auch, weil uns beiden bewusst war, dass unser Kind einmal auf vergleichbare Weise auf die Welt kommen würde. Doch so weit durfte es ja nicht kommen ...“ Lydias Stimme ist leiser geworden, ein altvertrauter Druck krampft ihr die Kehle zusammen, und sie versucht wie so oft, diesen Schmerz hinunterzuschlucken.

      In der Wiese um sie herum zuckt es, als wären Hunderte von Grashüpfern unterwegs. Doch schnell erkennt sie, dass es die einzelnen Halme und Wildblumen sind, die sich nach dem heftigen Regen mit Hilfe der Sonne wieder versuchen aufzurichten. Jedes einzelne Gewächs vollführt seine eigene kleine Auferstehung. Zu Lydias Geburtstag, Mitte Mai vor ein paar Jahren, hatte Gustav ihr ein Sträußchen aus Gänseblümchen gebunden, und da er eine heimliche Liebe zur Poesie hegte, lag ein sorgfältig ausgewähltes Zitat von Erich Kästner dem Gebinde bei:

      ‚Wer wagt es, sich den donnernden Zügen entgegenzustellen? – Die kleinen Blumen zwischen den Eisenbahnschwellen!’

      Darunter hatte er mit seiner krakeligen, wuchtigen Handschrift geschrieben: ‚Ich wünsche meiner Liebsten, dass auch sie, egal was geschieht, immer die Kraft haben wird, wieder aufzustehen.’

      In diesem Jahr hat sie erstmals ihren Geburtstag alleine verbracht, hat ihn ignoriert, um jedoch am Abend aus genau diesem Wunsch ihres Mannes für ihre Zukunft neue Kraft zu schöpfen. Sie hat sich vorgenommen, seinen Wunsch als Rat zu verinnerlichen. Immer wieder aufstehen – sie will es versuchen, um ihrer selbst Willen, vor allem aber ihren Tieren zuliebe.

      Während Lydia besonnen lächelt und sich auf die Beine bemüht, lässt eine Autohupe sie zusammenschrecken. Ruckartig dreht sie den Kopf, ihr Nacken knackst und sie weiß jetzt schon, dass sie am Abend Kopfschmerzen haben wird.

      Doch vorrangig ist die Frage, welcher Mensch jetzt etwas von ihr will. Vielleicht ein Ausflügler, der sich verfahren hat?

      Diese Touristen: „...Kann ich ein Glas Wasser haben?... Wie komme ich über den Berg auf die andere Seite?... Darf ich kurz Ihre Toilette benutzen?...“

      „Meine Toilette ist verstopft, der Wald ist sicher groß genug!“ - Niemand gelangt in ihr Haus, nicht mehr, seit sie alleine hier lebt! Womöglich will man es ausspionieren, um sie später zu bestehlen ...

      „Frau Brause, ich bin’s!“ Der Förster, der am Fuß des Berges wohnt und wahrscheinlich die Waldschäden begutachtet. Jetzt erkennt sie ihn, sein Gesicht zeichnet sich über dem grünen Pullover vom Grün der Hecke ab.

      Ob er sich ernsthaft um sie sorgt? Oder kommt er nur seiner Pflicht als nächster Nachbar nach? Wie mag er überhaupt über sie denken? So, wie die im Tal?

      Diesen Mann sieht sie nur dann, wenn sie ihm zufällig auf ihren Spaziergängen begegnet. Bei ihr auf dem Hof hat er sich seit Gustavs Tod nicht mehr blicken lassen.

      Zu Gustavs Zeiten gab es eine Skatrunde, mit viel Selbstgebranntem: Gustav, der Förster und der ehemalige Arzt aus dem Ort, der seit seiner Praxisschließung über vierzig Kilometer weit entfernt lebt und dennoch regelmäßig zum Skatspielen hierher kam. Theo, der Arzt war es auch, der sich gleich nach der Beerdigung mehrmals telefonisch bei Lydia erkundigte, wie es ihr gehe und ob sie sich über Besuch freue.

      „Danke, es geht, und nein, ich freue mich nicht über Besucher, und das wisst ihr alle ganz genau!“, hatte sie ihn knapp wissen lassen, damals, als der Telefonanschluss noch funktionierte.

      Zwei Mal hatte sie aus Unwissenheit die Kosten an die Telefongesellschaft nicht überwiesen. Gustav hatte ihr seine persönliche Bürokratie vorenthalten. Mit seinen Worten hatte er sie ‚entlastet’, so wusste sie weder Bescheid über den finanziellen Stand der Dinge noch über Bankangelegenheiten im Allgemeinen. Immer wieder hatte sie das Thema angeschnitten: „Was mach ich, wenn mit dir mal was ist, wenn ich selbst etwas erledigen muss?“

      „Dann gehst du zu Herrn Schulthe von der Sparkasse, der erklärt dir alles, was du wissen musst.“

      Was die Frauen vom Brausehof wissen mussten, war seit jeher auf das Häusliche und Bäuerliche begrenzt. Der hilfsbereite Herr Schulthe hatte Lydia ein Vierteljahr nach Gustavs Tod aufgeklärt.

      „Sie vermuten richtig, eigentlich müssten Sie einen Brief erhalten haben. Das Telefon funktioniert nicht, weil die Rechnungen nicht beglichen wurden. Na ja, wenn es sich bei den beiden letzten auch nur noch um die Grundgebühr handelt. Telefoniert haben Sie wohl gar nicht mehr ...? Ihr Mann hat immer alles selbst überwiesen, er mochte keine automatischen Abbuchungen. Die Mitteilung der Telefongesellschaft ... nun ja, vielleicht sehen Sie doch nochmal im Briefkasten nach? - Und hier ist Ihr Sparbuch.“

      Angeblich hatte Gustav es in einem Bankschließfach deponiert und aufgetragen, es seiner Frau irgendwann einmal, beim notgedrungen ersten alleinigen Bankbesuch, auszuhändigen. Eintausendfünfhundert Mark, die sie nicht antasten wird, bis sie wirklich in allergrößter Not steckt. Letztendlich aber sagt ihr die Kaufkraft dieses Betrages kaum etwas, weil Geldbeträge ihr schlechthin nichts sagen.

      Was sie gerade so überschaut, ist die monatliche Summe der kleinen Rente, die sie mittlerweile jedes Mal zur Hälfte abhebt und in einer Zigarrenkiste, ganz unten im Kleiderschrank, für ihre unerlässlichen Einkäufe aufbewahrt. Den Rest sollen diejenigen abbuchen, die etwas von ihr zu fordern haben. Wer auch immer das sein mag, interessiert sie nicht.

      „Frau Brause, wir haben uns lange nicht gesehen“, sagt der Förster, der ihr über die Wiese ein Stück entgegengekommen ist. „Sie machen keine Spaziergänge mehr? Ich hätte mich sowieso demnächst bei Ihnen gemeldet. Aber jetzt war ja das starke Unwetter, und da dachte ich, das ist ein Grund, mal nach der Frau meines alten Skatbruders zu sehen.“

      „Ein Grund, ja“, wiederholt Lydia mechanisch, weil ihr die Worte fehlen, mit einem Menschen zu sprechen. Weil sie nach so langer Zeit nicht mehr weiß, wie man das macht.

      Mit hängenden Armen steht sie dem Mann gegenüber, von dem sie weiß, dass er eine rothaarige Frau, Greta, und zwei fast erwachsene Söhne hat. Nein, sie weiß es nicht nur, sie hat seine Familie gekannt, in alten, ungetrübten Zeiten, die Lydia vor knapp einem Jahr selbst beendet hat.

      Der Förster bietet ihr seine Hand an und Lydia erwidert kraftlos den Begrüßungsdruck. „Gibt es Schäden, Frau Brause?“

      „Keine, nein, ich habe keine entdeckt.“

      „Das Dach ist dicht geblieben? Hat es nirgendwo hineingeregnet, ins Wohnhaus, in den Stall?“

      „Nirgends, nein“, sagt sie, spürt jedoch im selben Augenblick Panik in sich aufsteigen. Was, wenn doch? Sie hat sich noch nicht richtig überzeugt, ob alles trocken ist im Haus. Und in den Stall hat sie nicht mal hineingeschaut. Doch das alles geht den Förster nichts an.

      Gustav hatte das Stalldach mit Dach-Hauswurz bepflanzt. Aus Überlieferungen wusste er, dass in diese Pflanze niemals ein Blitz einschlagen würde.

      „Sogar auf Ziegeln gedeiht das Zeug!“, hatte er ihr versichert, damals, nach dem Feuer.

      „Ja, wenn dann also alles in Ordnung ist bei Ihnen“, startet der Förster seinen Abschied.

      „Das ist es“, sagt Lydia, „alles ist gut.“ Er soll wieder wegfahren. Er ist nur da, um sein Gewissen zu erleichtern, glaubt Lydia seinen überschwänglichen Gebärden zu entnehmen. Sie braucht weder geheucheltes Mitgefühl noch liegt ihr etwas am Seelenheil ihrer Mitmenschen.

      Der Mann wendet sich seinem Jeep zu, dessen Fahrertür fluchtbereit offen geblieben ist. Er steigt ein, deutet mit erhobener Hand einen Gruß an und wendet sein Fahrzeug. Dann bremst er noch einmal ab, ruft ihr zu: „Ich fahre in den Ort, einkaufen. Wenn


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