Die stille Stube. Christiane Fuckert

Die stille Stube - Christiane Fuckert


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bitter, obwohl ihr durchaus bewusst ist, dass sie auch ihn eingeschlossen hatte mit ihrem Aufruf, sich vom Hof fernzuhalten. Dennoch, sie bräuchte Lebensmittel, Brot, Butter, Kaffee, Mehl, auch etwas Obst täte ihr gut, Waschpulver und Toilettenpapier und Zahnpasta ... Wann war sie das letzte Mal mit dem Traktor drunten zum Einkaufen?

      „Ich brauche nichts, alles ist da.“

      Sie sieht, wie der Förster die Schultern zuckt, dann fährt er davon. An den Motorgeräuschen erkennt Lydia, wo er sich gerade befindet, welche Kurve er den Hang hinab nimmt. Nach über vierzig Jahren Bergerfahrung haben ihre Sinne vieles gespeichert, was andere kaum registrieren.

      Mit großen Schritten stapft Lydia am Wohnhaus vorbei zum Stall. Sie öffnet die zweigeteilte Tür, erst den oberen, dann den unteren Verschlag.

      Nicht hinauf zur Decke schauen, nimmt sie sich vor; mit Nestern, Kokons, Spinnweben und verdreckten Fledermausschlafplätzen will sie sich im Moment nicht befassen. Nur der Fußboden ist von Bedeutung.

      Meter für Meter schreitet sie den leeren Stall ab. Keine Pfützen, nicht die geringste Nässe. Befreit atmet sie durch und lässt die Türverschläge weit offen stehen, damit auch hier die warme, trockene Luft Einzug halten kann.

      Vielleicht ist die gute Dachabdichtung auf Gustavs Hauswurz zurückzuführen, der zwar ungepflegt, aber als geschlossene Decke das Dach besiedelt.

      Zuversichtlich geht sie weiter zum Scheunentor, öffnet nur die Schlupftür und steigt hindurch.

      Es riecht nach frischem Heu wie lange nicht mehr. Das Aroma erinnert sie an heiße Sommertage auf der Südseite des Berges, an hölzerne Heugabeln, Gelächter, kratzende Waden, an Instantkaffee und reich belegte Pausenbrote.

      Sie schließt die Augen, lockert ihren Körper und saugt gierig den Erinnerungsduft ein, genießt die Bilder der Vergangenheit, die sich hinter ihren Lidern aneinander reihen.

      Ein Schauder durchläuft sie, von den Haarspitzen bis hinunter in die Fußsohlen: Warum riecht es hier nach so langer Zeit nach frischem Heu? Bitte nicht, denkt sie inbrünstig.

      Doch ihr Verdacht bestätigt sich, als sie erst nach oben zur Tenne, dann hinunter zum aufgestapelten Heuberg sieht. Der angenehme Geruch rührt von frischer Luft, die durch ein großes Loch im Scheunendach strömt und von den darunter gelagerten regennassen Heuballen.

      Ein Großteil ihres Vorrats liegt in einer Wasserlache, die sich ausgebreitet hat bis zur anderen Seite der Scheune, wo zu allem Übel auch das Stroh zum Auskleiden des Kuhstalls wie eine Insel von Wasser umgeben ist. Schon jetzt weiß Lydia, dass sie nicht die Kraft haben wird, diese Massen an Heu und Stroh auseinander zu zerren, damit sie trocknen können. Und mit derselben Überzeugung weiß sie auch, dass sie nicht das Geld hat für eine Reparatur und neues Viehfutter für den nächsten Winter heraufbringen zu lassen, selbst wenn es nur noch für zwei Kühe reichen muss.

      Sie hört, wie Wotan durch die Schlupftür springt, vernimmt das patschende Geräusch, das seine aufsetzenden Pfoten im stehenden Wasser erzeugen. Bei ihren eigenen Schritten war ihr das nicht aufgefallen – ihre Hoffnung muss sich über Verstand und Ohren gebreitet haben.

      Nun, sie hat sich getäuscht, hat sich selbst und den Förster belogen. Ob der eine Lösung für sie gefunden hätte? Niemals würde sie diesen Mann um Rat fragen, und um Hilfe bitten schon gar nicht! Aber jemand anderen hat sie nicht mehr als Ansprechpartner.

      „Verdammt, Gustav, ich habe deinen Starrsinn übernommen! Du hast mich nicht nur allein gelassen, du hast mich gleichzeitig isoliert!“

      Kapitel 3

      In dieser Nacht wartet sie vergeblich darauf, einschlafen zu können.

      Selbst wenn Gustav neben ihr liegen und alles mit ihr besprechen würde – unter diesen Umständen wären Sorgen so oder so berechtigt. Bis auf den Unterschied, dass es mit ihm an der Seite das wohltuende Wörtchen ‚wir’ gäbe.

      Lydia hat ihr Bett verlassen. Es macht keinen Sinn, so verkrampft dem Schlaf aufzulauern.

      Aus verschiedenen Blechdosen mischt sie in der Küche getrocknete Kräuter für einen Teeaufguss zusammen. Sie weiß nicht, welche Wirkung diese Zusammenstellung hinter sich herziehen wird – auf das Kräuterlexikon in ihrem Kopf hat sie im Augenblick keinen Zugriff.

      Schafgarbe, Kamille, Rosmarin, Pfefferminz, Beinwell ... Vielleicht wird sie noch unruhiger, als sie es so schon ist.

      Sie lässt sich auf dem abgewetzten Sofa nieder und betrachtet Gustavs Sessel, das Kissen, das sein schweres Kreuz gestützt hat. Für dieses Möbelstück ist die Zeit schon lange stehen geblieben, nicht einmal die Kissenfüllung hat sich wieder aufgerichtet – der Abdruck der Kehrseite ihres Mannes ist noch genauso, wie seine abendliche Haltung ihn geformt hat. Nach seinem Tod hat nie wieder jemand diesen Sessel benutzt. Wenn sie jetzt hinübergehen und ihre Nase in die Polster drücken würde, Gustavs Geruch wäre sofort präsent. Lydia hat sich ihn oft genug auf diese Weise zurückgeholt: ein Aroma aus Mulch, Erde und Schmierseifenwasser.

      Sein Foto hingegen verwahrt sie in einer Schublade. Noch mag sie ihm nicht unvorbereitet in die Augen sehen. Es ist die einzige Porträtaufnahme, die ihres Wissens von ihm existiert. Auf dem Brausehof wurde nicht fotografiert. Nur ein kleiner Karton existiert, eine spärliche Ansammlung von Fotografien aus einer Zeit, in der man den Moment noch für wesentlich hielt. Später diente ein Motiv nur noch dem Vergleich der Entwicklung von Jungvieh beim Wachstum. Vorher-Nachher-Fotos.

      „Fotos erinnern einen doch nur daran, dass es einmal anders war. Und die Zeit, die man braucht zum Justieren und den Auslöser zu drücken, geht einem an wahren Eindrücken verloren.“

      Mit solcher Art von Argumenten setzte Gustav gern seine Sichtweise durch. Er hatte eine recht helle, laute Stimme. Nur wenn er leise sprach, sackte sie in einen warmen Bariton ab.

      „Wenn du wüsstest, dass wir ein Loch im Dach haben“, flüstert Lydia dem Sessel zu. „Ein Baum ist genau auf die Stelle gefallen, die du mit einem Stück Wellblech repariert hattest. Hat wieder gepasst, was? Dem gesamten Rest vom Dach hätte das wahrscheinlich nichts ausgemacht. Und jetzt ist das Heu nass, Gustav, das, was noch im Trocknen liegt, wird nicht mehr lange reichen für die Kühe. Hast du überhaupt mitgekriegt, dass ich nur noch die zwei alten Kühe habe, die nicht mehr kalben? Die vier anderen musste ich abholen lassen, allein wäre ich mit den Milchkühen nicht mehr fertiggeworden. Und du weißt, wie schwer es mir immer gefallen ist, mich von unserem Viehzeug zu trennen. Gelitten hab ich jedes Mal, als ginge es mir selbst ans Leder! Und dann dieser letzte Abtransport, den auch noch ich veranlassen musste… Aber das sag ich dir: Diese beiden letzten kriegen auf dem Brausehof das Gnadenbrot, und wenn es tausendmal gegen den bäuerlichen Grundsatz ist, unrentables Vieh durchzufüttern. Und gerade jetzt ist das Winterfutter nass. Ach, Gustav, wenn du wüsstest … Aber vielleicht weißt du es ja und schickst mir eine Idee, wie ich die ganze Misere überstehe?“

      Lydias zitternde Hände wärmen sich an Gustavs großem Teebecher.

      „Die Weidenzäune müssten auch neu gespannt werden. Ein paar Pfähle sind morsch. Aus deinem Komposthaufen wuchert das Unkraut. Du immer mit deinem Kresse-Test, ob die Erde gut war zum Durchsieben. Jetzt könnte ich mit Mainzauber und Giersch handeln, das müsstest du sehen, Gustav, du würdest Fotos machen von deinem Komposthaufen, als abschreckende Erinnerung, eine Vorher-Nachher-Aufnahme. Außerdem ist die Tränke an der Weidenquelle vermoost. Den Kühen schmeckt das Wasser daraus nicht mehr, es wird sofort trüb und schmierig. Jetzt muss ich regelmäßig den Wassertank beim Eingang füllen. – Ach ja, und es gibt Tausende von Maulwurfshügeln in diesem Jahr. Ich kann nicht wie du mit der Maulwurferde meinen Salat anziehen, bin froh, wenn ich überhaupt ein paar vernünftige Köpfe ernten kann. Mir wird das jetzt schon alles zu viel. Ich bin schwach geworden, Gustav, und sehr sensibel, kann nicht mal mehr ein Spinnennetz wegmachen, weil ich erst jetzt ahne, wie viel Arbeit in so einem haarfeinen Gebilde steckt. – Hach, weißt du was? Ich hol mir was von deinem Selbstgebrannten!“

      Lydia rappelt sich auf die Beine. Der Schnaps steht seit Gustavs Tod unangetastet in der


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