Die stille Stube. Christiane Fuckert

Die stille Stube - Christiane Fuckert


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Fahrrades umklammert. Die beiden sind in ein angeregtes Gespräch vertieft, das abrupt unterbrochen wird, als sie den Traktor nahen sehen.

      Lydia schaut geradeaus, als sie an ihnen vorbeifährt. Am Rande ihres Gesichtsfeldes nimmt sie wahr, dass die Frauen ihr hinterherreden, natürlich tun sie das, sie hat es nicht anders erwartet. Gleich darauf hört sie den Motor eines Autos, das ansetzt, sie zu überholen. Auf gleicher Höhe wirft Lydia einen Blick auf den dunkelblauen Wagen. Es fällt ihr nicht schwer, von den Lippen der Beifahrerin abzulesen: „...die alte Brause...", zumal ein auf sie gerichteter Zeigefinger die lautlosen Worte begleitet.

      „Ja, hetzt ihr nur", murmelt Lydia mit innerem Beben, „wenn es euch gut tut – hier habt ihr eure Außenseiterin. Einen Buhmann braucht ja jeder Ort."

      Sie hat die Beifahrerin erkannt: eine Angestellte aus dem kleinen Drogerie-Markt. Eine Frau mit einer scharfen Zunge. Schon vor Jahren bei der Geschäftseröffnung hatte Lydia das erfasst. Kaum hatte sie ihr damals den Rücken zugekehrt, hörte sie diese Verkäuferin hämen: „Die Brause vom Berg ist so weltfremd, dass ich wette, sie hält unsere Drogerie für einen Umschlagort für Drogen."

      „Vermutlich hatte sie damit recht, Gustav", nimmt Lydia auf ihrem Traktor den leisen Dialog wieder auf, „wahrscheinlich hast du dich ständig für mich schämen müssen und mich deshalb so bewusst von allem ferngehalten. Du und die Dorfbewohner, ihr wart schon eins, lange bevor ich als Mädchen zu euch auf den Hof kam. Das wolltest du dir bewahren. Denn eine Kriegswaise mit einer Karriere als Hofmagd fasst nicht so leicht Fuß in einer eingeschworenen Gemeinde, selbst wenn sie den Bauern heiratet."

      Lydia schaltet einen Gang zurück und fährt stotternd in die Auffahrt des kleinen Supermarkt-Parkplatzes, dabei stößt der Auspuff auf ihrer Motorhaube eine schwarze, stinkende Wolke aus.

      Kapitel 5

      Eine Stunde ist verstrichen. Nun hält der grüne Lanz vor dem Friedhofstor.

      Wie von selbst hat er auf dem Rückweg hier abgebremst, ohne den eigentlichen Willen der Fahrerin.

      In Lydias Gefühlswelt kämpfen Starrsinn und Herz schmerzhaft gegeneinander. Hitze und Kälte. Bedürfnis und Wut.

      Sie streicht die Strähnen an ihren Schläfen zurück und wirft einen bangen Blick durch die schmiedeeisernen Stäbe. Stein an Stein, Kreuz an Kreuz, alles in Reih und Glied angeordnet und gepflegt wie die Balkone und Vorgärtchen im Ort.

      „Na gut, Gustav, ich komm mal kurz rein. Aber nur, um nach dem Rechten zu sehen.“

      Dem Hund befiehlt sie, sich auf seinem Trittbrett ruhig zu verhalten. Doch im Grunde braucht Wotan in solchen Situationen keine Kommandos – das meiste zwischen ihr und dem Tier geschieht in stillschweigender Übereinkunft.

      Das Tor sperrt und quietscht, wie um ihr die Gelegenheit zu geben, ihrem bisherigen Standpunkt treu zu bleiben und weiterzufahren. Für einen Moment verharrt sie auf dem Kiesweg. Ihr Geisteszustand ist so zerbrechlich, dass sie ihren Entscheidungen oft nicht mehr trauen kann.

      Dort hinten rechts in der Ecke, unter den Zweigen des einzigen Baumes auf dem Friedhofsgelände, hatten sie ihn bestattet. Es muss das hölzerne Kreuz sein, das vom Wind oder den Schneemassen des vergangenen Winters schief gefegt wurde. Eine lichtlose Ecke, in der es nie richtig Tag zu werden scheint.

      Noch wagt Lydia nicht den Weg dorthin. Sie schlägt die entgegengesetzte Richtung ein. Das Doppelgrab ihrer Schwiegereltern ist bedeckt mit altem Laub. Nur eine einsame Pflanze ragt aus der einen Seite empor. Der Anblick bringt Lydia zum Schmunzeln, und ein aufkommender Mitteilungsdrang lässt sie schnurstracks zur dunklen Baumseite eilen.

      „Das solltest du sehen, Gustav, drüben bei deinem Vater dringt die Kratzbürstigkeit durch den Erdboden. Eine gigantische Distel, die sich sogar in deine Richtung neigt!“

      Gleich darauf schlägt sie die Hände vor die Augen. „Tut mir leid, Gustav. Es hat ja niemand danach gesehen. Fast ein ganzes Jahr lang nicht.“

      Die familiären Gräber werden jedem Betrachter das unterstreichen, was längst in dessen Gedächtnis geschrieben steht: Hier stimmt etwas nicht!

      „Dabei seid ihr alle im Ort daran beteiligt, dass ich mich hier nicht mehr habe blicken lassen“, flüstert Lydia. Durch den wässrigen Schleier vor ihren Augen blinzelt sie auf das windschiefe Kreuz. „Es wird Zeit, dass ich dir einen festen Rahmen aus Stein besorge.“ Sie fingert in ihrer Jacke nach einem Taschentuch, wischt sich über das Gesicht und schnäuzt sich, vergewissert sich dann, dass sie alleine ist, dass niemand sie hören kann.

      „Ich war im Supermarkt, Gustav. Hab mich kaum zurechtgefunden, so lange war ich nicht mehr ausgiebig einkaufen. Dafür wurde ich immerhin zweimal gegrüßt, hörst du? Lydia Brause, die Hexe vom Berg, wurde hier unten im Tal von zwei Menschen gegrüßt! Ein Mal von der halbblinden alten Schweigerhofmutter, der andere Gruß kam von der Fremden an der Kasse. Davon muss ich jetzt zehren, bis ich wieder herunterkomme, bis ich wieder mal unter Menschen bin. Ha, aber Blicke hab ich zur Genüge erhalten, Blicke, die mir den Rücken durchbohrt haben. Doch ich werde einen Teufel tun und mich rechtfertigen! Dann müsste ich nämlich weit ausholen und deinen Dickschädel beschreiben. Und der war dermaßen dick, dass mir niemand so lange zuhören würde.“

      Während sie spricht, harken ihre Finger durch die von Unkraut überwucherte Erde um die beiden kleinen Buxbäumchen herum. Wer sie gepflanzt hat, weiß sie nicht; in Anbetracht der verwahrlosten Grabstätte muss es noch vor dem letzten Winter gewesen sein.

      „Vermutlich dein Freund Theo, der Doktor. Oder jemand, dem klar war, dass die kriminelle Lydia ihrem Opfer eh keine Blumen bringt. Womit er recht hätte, bis auf die Tatsache, dass es keine Kriminelle gibt und der wirklich Schuldige Gustav heißt.“

      Lydia hat sich erhoben und ihre Wut lässt es gelingen, das Holzkreuz mit Wucht erneut in den Boden zu rammen, sodass es auf Anhieb geradesteht.

      „Das war's dann“, murmelt sie mit hohler Stimme. Sie wendet sich ab und eilt aus dem Friedhofsgelände hinaus.

      Am Traktor lehnt ein kleiner Junge. Lydia hat keine Beziehung zu Kindern, sie kann nichtmal sein Alter schätzen. Das Kind schaut ihr direkt in die Augen, wendet sich den großen Hinterrädern des Traktors zu. „Ist das deiner?“, fragt es und drückt den Daumen in das schmutzige Profil des Reifengummis.

      „Meiner, ja. Und jetzt geh zurück, ich fahre gleich los.“ Lydia steigt an Wotans Kopf vorbei auf ihren Sitz. Den gefüllten Korb und eine weitere Tasche mit Einkäufen hat sie zu beiden Seiten an den Rückenstützen der Beifahrersitze festgezurrt.

      „Darf ich deinen Hund streicheln?“, fragt der Junge.

      „Nein, er beißt.“

      „Schade.“ Der Junge strotzt vor Dreistigkeit, findet Lydia. Sie kann nicht nur schlecht das Alters eines Kindes schätzen, vielmehr hat sie überhaupt keinen Draht zu ihnen. Immer sind es die Söhne und Töchter von Spaziergängern, die plötzlich droben auf dem Hof auftauchen und die unverschämtesten Wünsche äußern.

      Sie startet den Motor. „Jetzt geh endlich zurück, Junge, mach schon.“

      „Darf ich ein Stück mitfahren?“

      „Nein.“

      „Warum nicht?“

      „Darum. - Solltest du nicht in der Schule sein?“

      „Ich bin krank.“

      „Ah ja, das sehe ich. Und jetzt ab, zehn Schritte nach hinten!“ Das fehlt noch, dass man sie bezichtigt, fremde Kinder auf ihren Bulldog einzuladen! Lydia zwingt sich, das Kind eindringlich anzusehen, damit es den Ernst ihres Befehls erfasst. Der direkte Blickkontakt scheint den Jungen jedoch erneut zu ermutigen.

      „Wo wohnst du?“, ruft er gegen den tuckernden Motor an.

      „Da oben auf dem Berg.“

      Warum hat sie das beantwortet?, fragt sie sich beim Davonfahren. Es liegt doch nahe, dass dieser Junge


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