Die stille Stube. Christiane Fuckert
abgekühlten Temperaturen nach dem Unwetter, denkt Lydia und ärgert sich gleichzeitig über den Anflug der gedanklichen Fürsorge.
Auch der Hund befindet sich mittlerweile mit der Schnauze unter dem Tisch. Dieses Suchmanöver wird er wie immer mit Futter verknüpfen.
„Hier ist aber kein Brief“, vernimmt Lydia die vom Unterbau der Eckbank gedämpfte Knabenstimme.
„Sieh richtig nach, er muss da unten liegen.“
Der Hosenboden verschwindet zur Seite und der Kopf des Jungen taucht auf, übersät mit Spinnwebfäden und Staubflocken. Lydia verkneift es sich aufzulachen – der Anblick entschädigt sie für einen Moment von der Häme und Ignoranz der Talbewohner: Einer von ihnen trägt den Fußboden-Schmutz der Brausehofküche in den Haaren …
„Nur das hier hab ich gefunden“, keucht der Junge, als er sich zwischen Tisch- und Stuhlbeinen wieder emporhangelt.
„Nur das hier“, wiederholt Lydia langsam und im Flüsterton. Sie spürt, wie die Wärme ihres Blutes aus dem Kopf nach unten abfällt, immer mehr, bis in ihre Fußspitzen. Sie nimmt dem Kind die verstaubte Armbanduhr aus der Hand. Ihr Mann hatte sie schon lange vermisst, sie hatten gemeinsam den ganzen Hof danach abgesucht.
Lydias Daumen fährt über das staubige Glas – der Sprung muss entstanden sein, als die Uhr unbemerkt vom Tisch fiel. Zu jedem Abendessen hatte sie neben Gustavs Teller gelegen und er hatte sich mit der anderen Hand die von der Arbeit feuchte Stelle am Handgelenk unter dem Lederband gerieben, zufrieden von einem erneut vollendeten Tagwerk.
„Wieso weinst du?“
Lydia wischt sich hastig über die Augen. „Ich habe eine Stauballergie. Deshalb sollst ja du unter dem Tisch suchen. - Und? Wo ist jetzt mein Brief? Such nochmal genauer. Wenn du ihn findest, bekommst du ein Bonbon.“
Bonbons sind immer gut, hoffentlich hat sie welche. Sie geht hinüber zum Schrank, kramt in Dosen und Schubladen und entdeckt Gustavs Eukalyptusbonbons, die ihr seitdem nie mehr begegnet sind. Sie sind alt und weich, das Papier wird an der Zuckermasse festkleben. Sie hat ihren Mann gern kauen sehen. Bonbons zu lutschen kam für ihn nicht infrage, er hatte sie immer gleich zerbissen, mit denselben Geräuschen wie früher die Pferde, wenn sie den mit Eukalyptus getränkten Würfelzucker zermalmten. Gustav hielt ätherische Öle auch für diese Tiere für wertvoll und sah sich darin bestätigt, weil niemals eines von ihnen bronchiale Probleme zeigte.
„Hier ist ein Papierknäuel, aber kein Brief.“ Der Junge streckt ihr seinen Fund entgegen. Natürlich ist das deformierte Bündel der gesuchte Brief. „Wo hast du das gefunden?“
„In der anderen Ecke, unterm Fenster.“ Sie muss mit erstaunlicher Kraft bei der Sache gewesen sein, dass der Umschlag so weit fliegen konnte, mit Entschlossenheit und Ablehnung. Nun aber sitzt hier ein Talbewohner, dem sie bei Bedarf eine schriftliche Antwort gleich mit hinunter an den Absender geben könnte. Ja, für den Fall hätte auch sie ihren persönlichen Boten.
„Setz dich wieder hin, ich mache uns jetzt den Kakao.“
Aus der rechten Schrankschublade holt sie ein kleines hölzernes Kistchen mit einem Schiebedeckel. Sie öffnet es und schüttet den Inhalt vor dem Jungen auf den Tisch.
„Gib dir ein bisschen Mühe, du legst die Dominosteine immer so, dass dieselben Augenzahlpunkte sich berühren. Wenn du das richtig anstellst, gelangst du bis zum anderen Tischende.“
Ganz kurz hält sie inne und genießt das lang vergessene klappernde Geräusch der Spielsteine. Während sie Milch erhitzt, betrachtet sie den kleinen Briefumschlag neben dem Kochfeld, der sich mittlerweile zur Form einer Wiege entrollt hat.
Vielleicht könnte der Junge ihn ihr vorlesen? Er wird Wort für Wort abstottern, wird noch nicht so lesefest sein, dass er vorliest und gleichzeitig erfasst, was man ihr zur Last legt – wenn es sich denn um Vorwürfe handelt … Vielleicht ist das Ganze aber wirklich einfach ein Scherz, wie sie gleich zu Beginn angenommen hatte. In dem Fall würde sie vor Erleichterung eine Runde Domino mit diesem Knilch spielen. Ja, den Teil ihres stillen Handels würde sie einlösen, sollte der Brief ihr nicht persönlich zusetzen.
„Hier, dein Kakao. Und da, ein Messer. Öffnest du mal den Umschlag für mich? Ich muss erst meine Brille suchen.“ Ohne großartig nachzudenken, hat sie ihr Problem weitergereicht. Wie gut das tut: Sie kann es fürs Erste mit jemandem teilen.
Der Junge stellt sich ungeschickt an, erwischt mit der Messerschneide nicht die Kante und zerreißt ein Stück des Umschlags. Lydia nestelt ihre Brille aus der Seitentasche ihres Rockes, den sie seit ihrer Talfahrt immer noch trägt.
„Du musst ja gar nicht deine Brille suchen“, stellt der Junge mit frech entlarvendem Tonfall fest. Er ist zu gewitzt, es ist ein Wagnis, ihm so unbedacht diesen Brief zu überlassen. „Gib mal her.“ Sie wartet nicht ab, bis er ihr den Umschlag reicht. Sie beugt sich über den Tisch und zieht ihn hektisch aus seinen Händen.
„Ich wollte nur mal sehen, ob du Briefe schon richtig öffnen kannst. Anscheinend hast du das noch nicht gelernt. Ich zeige dir gleich, wie man das macht.“
Der Junge zuckt mit den Schultern und widmet sich seinem Spiel. Lydia nimmt ihm gegenüber Platz. Mit zitternden Fingern schiebt sie die Oberseite des Briefes auseinander. Wie sie gedacht hat: viele klein gefaltete Seiten …
Moment, diese Farben! Sie steht auf und geht zum Fenster. Das kann nicht sein!
Ihr Herz hämmert bis hinauf zu ihrem Kehlkopf. Noch einmal wirft sie einen Blick hinein, betastet mit spitzen Fingern das innen liegende Papier …
„Du musst gehen! Sofort. Man wartet daheim mit dem Mittagessen auf dich!“, befiehlt sie in einem Tonfall, der dem Mund des Jungen ein stummes, kreisrundes Staunen entlockt. Dann springt er auf: „Ich dachte, du wolltest mir zeigen, wie man Umschläge öffnet!“
„Ich hab aber keine Umschläge, muss erst welche besorgen. Jetzt ab mit dir, lauf heim! Die Bonbons kannst du alle mitnehmen.“
„Aber … wann darf ich wieder Traktor fahren?“
„Gar nicht mehr. Wenn uns die Polizei erwischt, sind wir reif. Deshalb erzähl es ja nicht, sonst geht es dir ans Schlafittchen!“
„Aber ich will nochmal Traktor fahren! Die anderen im Ort lassen mich nicht.“ Das Gesicht des Kindes hat sich zornig verfärbt.
Im Grunde kommt Lydia diese Reaktion zugute. „Dann machen wir es so: Du erzählst überhaupt niemandem, dass du hier bei mir warst. Wenn du das wirklich für dich behältst, fahren wir irgendwann nochmal und du darfst wieder lenken. Abgemacht?“ Er soll jetzt verschwinden. Und ihr sein Versprechen zur Verschwiegenheit geben.
„Abgemacht! Ich sag keinem was. Wann soll ich wiederkommen?“
„Beweise erst mal eine ganze Weile, dass du schweigen kannst wie ein Grab.“
Der Junge nickt, steckt sich die Bonbons in die Hosentasche und rennt aus der Küche, durch den Flur, über den Hof; er wird den ganzen Hügel in diesem Tempo hinab laufen, allein durch die Aussicht auf eine Wiederholung dieser Stunde, ahnt Lydia beruhigt.
Doch die Unruhe lebt umgehend wieder auf, als sie sich am Tisch niederlässt und sich dem zerbeulten, halb zerrissenen Umschlag zuwendet.
Kapitel 7
Wenn sie gleich aufwacht und sich an diesen Traum noch erinnern kann, wird sie stolz sein, ihre Probleme zumindest für die Zeit des Schlafens alleine lösen zu können. Sie wird ihrem Mann davon erzählen, auch, dass sie diesen erträumten Brief als eine Antwort von ihm betrachtet hat.
Da sie so klar denken kann, müsste es gleich so weit sein: Der Hahn wird krähen, sie wird die Augen aufschlagen, gegen die Deckenleuchte ihres Schlafzimmers schauen und ihrem Traum nachhängen, wie man einen eindrucksvollen Spielfilm noch eine Weile auf sich wirken lässt.
Etwas unter ihr regt sich. Es muss Wotans dicker Schädel sein, der sich am