Die stille Stube. Christiane Fuckert

Die stille Stube - Christiane Fuckert


Скачать книгу
ihr über die Lippen, und sie weiß, dass ihre Stimme fröhlich klingt, beinahe erfreut. „Und das sind wohl deine Freunde?“

      Während dieser Worte haben die zwei Jungen und das Mädchen die letzten Meter im Laufschritt zurückgelegt und stehen jetzt schwer atmend vor Lydias Bank. Olav schüttelt den Kopf. „Geschwister“, verrät er bündig und starrt Lydia seltsam erwartungsvoll an.

      Natürlich, er will prahlen, denkt Lydia amüsiert, und er will den anderen beiden zeigen, wie er Traktor fahren kann. Sie hat sofort erfasst, dass alle drei abgenutzte Kleidung tragen, auch der Junge, der Olav um einen halben Kopf überragt. Entweder gibt es ein noch älteres Geschwisterteil, das dem größten dieser Kinder die Sachen vermacht, oder sie erhalten getragene Anziehsachen von außen. Zu gern wüsste Lydia, aus welchem Nest diese Drei stammen und ob sie die Familie einzuordnen weiß. Entgegen ihrer Einschätzung von neulich könnte ihr ein solcher Anhaltspunkt heute sehr hilfreich sein im Umgang mit den Kindern. Normal ist es keinesfalls, dass drei Kinder diesen Alters am Vormittag bei ihr hier oben ohne Begleitung auftauchen.

      „Wieso seid ihr nicht in der Schule?“

      „Sommerferien“, informiert Olav sie in seiner wortkargen Weise, und er strahlt und zeigt seine übergroßen Schneidezähne.

      „Ah so. Und? Habt ihr daheim gesagt, wohin ihr geht?“

      Die drei Kinder schütteln synchron die Köpfe. Lydia kann sich nicht entscheiden, welchem ihrer Gefühle sie nachgeben soll. Zum einen macht sich Erleichterung in ihr breit, zum anderen wittert sie wie immer, wenn sie es mit Dorfbewohnern zu tun hat, eine Art Bedrohung. Gleich darauf schießt ihr ein Gedanke bis in den kleinen Zeh, der im Moment stärker ist als jedes Abwägen von eventuellen Folgen.

      „Wie heißt ihr?“

      „Verena.“

      „Viktor.“

      „Olav!“, hängt der Mittlere mit gewissem Schalk in den Augen an.

      „Ah ja, also alle mit Vogel-F“, sinniert Lydia laut, um Zeit für einen Übergang zu gewinnen.

      „Mit V“, korrigiert die Kleinste der Runde, das Mädchen. Sie sieht aus wie ihre Brüder, trotz der hellblonden hochgebundenen Affenschaukeln über den Ohren. Überhaupt wirken die drei Kinder ein jedes wie die Kopie der beiden anderen, bis auf die Zähne des Mädchens, die zwar ebenso breit, jedoch noch nicht ganz aus dem Oberkiefer herausgewachsen sind.

      Olav boxt dem Mädchen in die Seite und seine Stimme klingt erbost. „Nein, das nennt man Vogel-F! Was weißt du schon! Kommst grade erst ins zweite Schuljahr!“ Zwischen Olav und seiner Schwester entbrennt eine Diskussion um Rechtschreibung, für die Lydia jedoch kein Verständnis und auch nicht die Nerven hat. Ein solches Wortgerangel ist ihr fremd, sie selbst hat weder Geschwister noch eigene Kinder. Was sie wiederum über Schulkinder weiß: Deren Sommerferien sind für gewöhnlich recht lang.

      „Streitet euch, wo immer ihr wollt, aber nicht hier!“, mischt sie sich streng ein, und sofort herrscht Stille. Lydia genießt diese Reaktion auf ihren Tonfall – eine recht unbekannte Situation für sie.

      „Ihr habt also Ferien. Und jetzt wollt ihr euch wohl ein bisschen Geld verdienen, damit ihr euch Süßkram kaufen könnt?“ Sie weiß, dass ihre Augen an Freundlichkeit nicht mithalten, als sie abwechselnd die Kindergesichter anlächelt. Noch ist sie nicht eins mit ihrem Plan, immerhin ist Kinderarbeit hier im Land verboten. Allein die Absicht, die sie im Moment verfolgt, könnte ihr den Aufenthalt in einer Gefängniszelle bescheren.

      Ein kurzer Schauder läuft ihr den Rücken hinunter, doch diese Gelegenheit ist zu verlockend, als sie ungenutzt verstreichen zu lassen, zumal die Geschwister überzeugt nicken.

      „Dann wartet. Setzt euch hierhin.“ Sie überlässt den Kindern ihre Bank und verschwindet mit überraschender Gewandtheit im Haus.

      „Schritt eins, Gustav“, murmelt sie, als sie vor der Küchenvitrine steht und den Zwanziger zwischen den Glasscheiben hervorangelt. „Warte ab, wie es weitergeht.“ Der Geldschein lässt sich viermal falten, ehe er als Schnipsel in ihrer Faust verschwindet.

      Sie sitzen da wie festgeklebt, denkt Lydia und fragt sich, wessen Erwartungshaltung im Augenblick größer ist – die der Kinder oder ihre eigene.

      Wie alt mögen die anderen beiden sein? Das Mädchen ist einen halben Kopf kleiner als der zehnjährige Olav, der Bruder wiederum einen halben Kopf größer.

      Wie Orgelpfeifen, zitiert Lydia im Stillen den altbekannten Vergleich, und sie überlegt, wann sie das letzte Mal in der kleinen Kirche im Ort gesessen hat.

      Während sie nun den Geldschein vor den Augen der Kinder entfaltet, erinnert sie sich, dass ihr Schwiegervater jedes Jahr am Heiligen Abend eine Papiernote in den Kollektenbeutel am Kirchausgang gesteckt hatte, mit geräuschvollem Rascheln, im Gegensatz zum üblichen Kleingeldgeklimper der Mitbesucher.

      „Der kann euch gehören, wenn ihr mir ein wenig behilflich seid“, sagt sie mit lockendem Unterton. Die drei Augenpaare vor ihr weiten sich. Doch Lydia hat bereits geahnt, dass sie mit ihrem Angebot einen neuen Disput entfacht.

      „Zwanzig geteilt durch drei geht nicht“, merkt der Älteste an.

      „Dann rechnet. Wer zuerst die richtige Lösung nennt, bekommt den Rest dazu.“

      Das war unfair, weiß Lydia noch im selben Moment, natürlich wird der Große gewinnen, doch jetzt hat sie ihre Entscheidung geäußert und muss dazu stehen.

      „Jeder kriegt 6 Mark und … sechsundsechzig, die zwei Pfennig gehören mir.“ Das hat das Mädchen gesagt, bevor Lydia anfangen konnte zu rechnen.

      Dass die zwei Brüder gar nicht erst damit angefangen haben, erkennt sie an den unbeteiligten Gesichtern. Die Jungs wussten, dass sie der Kleinen gegenüber keine Chance haben. Ein gescheites Kind, hier wird sie vorsichtig sein und gut aufpassen müssen, was sie tut und sagt.

      „Natürlich dürfen Kinder nicht für Geld arbeiten“, belehrt sie die Geschwister, indem sie den grünen Schein wieder zusammenfaltet. „Ihr werdet zuerst daheim fragen müssen, ob man euch das erlaubt. Aber ich denke, wenn eure Eltern davon hören, werden sie es euch verbieten. Damit hätten sie ja auch Recht ...“ Lass es wirken, sagt sie sich, wohl ahnend, was nun folgt.

      „Die brauchen doch nichts davon zu wissen“, sagt Olav.

      „Genau, wir sagen am besten nichts“, bestätigt Viktor, der Große. Die kleine Verena fügt hinzu: „Sonst können wir dir ja nicht behilflich sein. Und du bist doch schon so uralt. Und für so alte Leute soll man im Bus aufstehen und sich auch für sie bücken oder ihnen beim Tragen helfen, weil die alten Knochen schon morsch sind.“

      „Na, wenn ihr meint ...“, sagt Lydia zögernd, und wehrt sich innerlich dagegen, gedanklich tiefer auf die letzten Anmerkungen einzugehen. „Aber sagt mir hinterher nicht, ich hätte euch nicht belehrt.“

      Hier waren drei Ohrenpaare Zeuge, es dürfte eigentlich nicht zu Vorwürfen von Seiten der Eltern kommen; zumindest eines der Kinder wird sich an Lydias Mahnung erinnern.

      Lydia strafft die Schultern und bemüht sich um eine feste Stimme. „Wir werden sehen. Wenn es uns gelingt, ein bisschen Ordnung am Hof zu schaffen, fahren wir hinterher eine Runde mit dem Traktor.“

      Wie auf Knopfdruck sind die Kinder aufgesprungen. „Was sollen wir denn arbeiten?“

      Lydia deutet auf die Pflastersteine. „Hier müsste das Unkraut herausgekratzt werden. Ihr habt junge Gelenke, ich kann das nicht mehr.“ So uralt, wie ich bin, fügt sie in Gedanken nun doch hinzu. Erneut holt sie tief Luft und spricht weiter: „Ihr lasst den Schein bei der Sparkasse wechseln, das ist Bedingung.“

      Das Mädchen Verena schnippt eifrig mit den Fingern, als befände es sich in der Schule. „Die prüfen dort auch, ob dein Schein echt ist, stimmt's?“

      „Vielleicht“, sagt Lydia gleichmütig und ermahnt ihre zuckende Miene zur Ruhe.

      Bei


Скачать книгу